Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 03.08.2012


BFH 03.08.2012 - VII B 40/11

Berücksichtigung von nach der Pfändung eingetretenen Umständen im Rechtsbehelfsverfahren


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
7. Senat
Entscheidungsdatum:
03.08.2012
Aktenzeichen:
VII B 40/11
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 21. Februar 2011, Az: 15 V 33/11, Beschluss
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. NV: Im Rahmen der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Pfändung ist auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bzw. auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen .

2. NV: Umstände, die nach der Pfändung von Gegenständen eingetreten sind, und die nach § 811 ZPO zu deren Unpfändbarkeit führen, sind im Einspruchsverfahren und im finanzgerichtlichen Verfahren zu berücksichtigen .

3. NV: Maschinen und Werkzeuge, die der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit dienen sollen, unterliegen dem Pfändungsschutz des § 811 Nr. 5 ZPO .

Tatbestand

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I. Aufgrund von Abgabenrückständen hat der Antragsgegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt --FA--) in den Wohn- und Werkstatträumen des als Orthopädiemeister ausgebildeten Antragstellers und Beschwerdegegners (Antragsteller) am 22. Juli 2012 u.a. diverse Werkzeuge, Werkzeugmaschinen, Hilfsmittel sowie ein Fahrzeug gepfändet. Zum Zeitpunkt der Pfändung war ihm der selbständige Betrieb eines Handwerksgewerbes untersagt. Noch am selben Tag legte der Antragsteller Einspruch ein und beantragte sinngemäß die Aufhebung der Vollziehung der Pfändungsverfügungen. Zur Begründung trug er zunächst vor, sämtliche gepfändeten Maschinen und Werkzeuge sowie das Fahrzeug stünden im Eigentum seiner Mutter. Außerdem benötige er sämtliche gepfändeten Gegenstände für seine Berufstätigkeit. Gegen Zahlung eines Geldbetrags hob das FA die Pfändung des Fahrzeugs wieder auf und gab dieses an den Antragsteller zurück.

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Nachdem das Finanzgericht (FG) zwei Anträge auf Aufhebung der Vollziehung der Pfändungen abgelehnt hatte, stellte der Antragsteller mit Schriftsatz vom 22. Dezember 2012 einen erneuten Antrag auf Aufhebung der Vollziehung. Zur Begründung legte er einen am 9. Dezember 2010 mit einer GmbH geschlossenen Arbeitsvertrag vor. Danach sollte er für die GmbH als Orthopädietechnikermeister nichtselbständig als fachlicher Leiter einer Betriebsstätte der GmbH tätig werden. Ausweislich des Inhalts des Arbeitsvertrags wurde der Antragsteller unter der Bedingung eingestellt, dass er die im Arbeitsvertrag konkret bezeichneten --und zuvor vom FA gepfändeten-- Maschinen und Werkzeuge, sowie seinen PKW zur Verfügung stelle. Dies wurde vom Geschäftsführer der Arbeitgeberin durch eine eidesstattliche Erklärung versichert.

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Am 28. Januar 2011 wies das FA den Einspruch als unbegründet zurück. Dagegen hatte der beim FG gestellte Antrag auf Aufhebung der Vollziehung teilweise Erfolg. Mit der Begründung, durch den Arbeitsvertrag würden veränderte Umstände vorliegen, die nunmehr dazu führten, dass die Gegenstände für die Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit des Antragstellers im Rahmen einer durch einen Arbeitsvertrag nachgewiesenen Anstellung erforderlich seien, verpflichtete das FG das FA unter teilweiser Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsakte und unter Fortbestand der Pfandrechte zur einstweiligen Herausgabe eines Großteils der gepfändeten Gegenstände. Dabei stellte es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Pfändung auf den Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung ab. Jedenfalls in den Fällen, in denen Änderungen der der Entscheidung zugrunde liegenden Sachlage bereits vor dem Erlass der Einspruchsentscheidung eingetreten seien, gebiete der Schutzzweck des § 811 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) deren Berücksichtigung. Die Aufhebung der Vollziehung gewährte das FG gegen eine Sicherheitsleistung in Höhe von 1.000 €, wobei es hinsichtlich der Bemessung der Sicherheitsleistung von dem Betrag ausging, der sich bei einer Versteigerung der gepfändeten Gegenstände erzielen ließe.

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Inzwischen hat die GmbH den mit dem Antragsteller geschlossenen Arbeitsvertrag personenbedingt fristlos gekündigt. Gegen diese Kündigung hat der Antragsteller nach Angaben der GmbH Kündigungsschutzklage eingereicht, über die noch nicht entschieden worden ist.

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Mit seiner Beschwerde wendet sich das FA gegen die Rechtsauffassung des FG, nach der es bei veränderten Umständen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Pfändung auch auf einen späteren Zeitpunkt als den der Pfändung ankommen könne. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe in seiner bisherigen Rechtsprechung den Zeitpunkt der Pfändung für maßgeblich erachtet (Entscheidungen vom 3. September 1953 II 12/53 U, BFHE 58, 21, BStBl III 1953, 299, und vom 17. Juli 1957 II 166/56 U, BFHE 65, 351, BStBl III 1957, 365). Werde hinsichtlich der Rechtmäßigkeit einer Pfändung nicht auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt der Pfändung, sondern auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letztinstanzlichen Verwaltungsentscheidung bzw. der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt, würden sich dem Vollstreckungsschuldner Möglichkeiten zur Vollstreckungsvereitelung bieten. Die Rechtmäßigkeit einer Pfändung könne nicht vom ungewissen Bestand eines Arbeitsverhältnisses abhängig gemacht werden, das überdies dem Vollstreckungsschuldner die Möglichkeit eröffne, die dem Pfändungsschutz unterliegenden Gegenstände zu veräußern.

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Der Antragsteller ist der Beschwerde entgegengetreten. Er schließt sich der Rechtsauffassung des FG an.

Entscheidungsgründe

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II. Die Beschwerde ist unbegründet. Das FG hat bei seiner Entscheidung zu Recht auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abgestellt und den Abschluss des vom Antragsteller vorgelegten Arbeitsvertrags im Rahmen der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Pfändung berücksichtigt. Auch hat es zu Recht Pfändungsschutz nach § 811 Nr. 5 ZPO gewährt.

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1. Unter Hinweis auf die zivilprozessrechtliche Literatur (Stein/Jonas/Schönke, Kommentar zur Zivilprozessordnung, 17. Aufl., § 811 Anm. II, 4) hat der BFH zu § 350 der Reichsabgabenordnung (RAO) ohne nähere Begründung geurteilt, dass es für die Frage, ob ein Gegenstand zur Fortsetzung einer von § 811 Nr. 5 ZPO geschützten Erwerbstätigkeit erforderlich sei oder nicht, entscheidend auf den Zeitpunkt der Pfändung ankomme (Urteil in BFHE 58, 21, BStBl III 1953, 299, bestätigt durch Beschluss in BFHE 65, 351, BStBl III 1957, 365). Diese Rechtsprechung konnte die Regelung in § 367 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO), nach der die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen hat, noch nicht in den Blick nehmen, denn diese auf § 248 Abs. 2 RAO zurückgehende Regelung, die in § 228 RAO vom 13. Dezember 1919 noch nicht enthalten war, ist erst durch § 162 Nr. 40 des Gesetzes vom 6. Oktober 1965 (BGBl I 1965, 1477, 1503) in die RAO eingefügt worden. Die RAO 1919 und 1931 enthielt in § 228 RAO lediglich Bestimmungen, nach denen die Rechtsmittelbehörde nicht an die Anträge des Rechtsmittelführers gebunden war und die Verwaltungsentscheidung auch zum Nachteil des Rechtsmittelführers ändern konnte.

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2. Während im zivilprozessrechtlichen Schrifttum keine Einigkeit besteht, entspricht es herrschender Meinung in der steuerrechtlichen Literatur, dass hinsichtlich der Beurteilung eines nach § 811 Nr. 5 ZPO bestehenden Pfändungsschutzes auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung bzw. der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen ist (Müller-Eiselt in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 295 AO Rz 21; Wiese in Beermann/Gosch, AO § 295 Rz 5; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 295 AO Rz 11; Klein/ Brockmeyer, AO, 11. Aufl., § 295 Rz 4, sowie Pahlke/Koenig/ Fritsch, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 295 Rz 3; a.A. Dißars in Schwarz, AO, § 295 Rz 3). Zu Recht weist Müller-Eiselt darauf hin, dass der Einwand der Unpfändbarkeit als Einwand gegen die Art und Weise der Zwangsvollstreckung bei einer Verwaltungsvollstreckung nach der AO im Einspruchsverfahren und im Rahmen eines finanzgerichtlichen Verfahrens nach den in diesen Rechtsbehelfsverfahren üblichen Regeln geltend gemacht werden kann, nach denen es den Beteiligten nicht verwehrt ist, neue Tatsachen vorzubringen. Obgleich die überwiegende Meinung in der zivilprozessrechtlichen Literatur davon ausgeht, dass im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung einer Pfändung auf den Zeitpunkt der Pfändung abzustellen ist (Thomas/Putzo, Zivilprozessordnung, 33. Aufl., § 811 Rz 3a; Zöller/Stöber, ZPO, 29. Aufl., § 811 Rz 9, sowie Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, Zivilprozessordnung, 70. Aufl., § 811, Rz 13), mehren sich die Stimmen, die sich für eine Berücksichtigung nachträglich eingetretener Umstände aussprechen. Nach Münzberg ist eine nach § 766 ZPO eingelegte Erinnerung begründet, wenn der Schuldner den Nachweis führen kann, dass die nachträgliche Unpfändbarkeit nicht missbräuchlich herbeigeführt worden ist (Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 811 Rz 17; ähnlich Prütting/Gehrlein/Flury, ZPO, 4. Aufl., § 811 Rz 8, und MünchKommZPO/Gruber, 33. Aufl., § 811 Rz 19).

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3. Die unbesehene Übernahme des in der zivilprozessrechtlichen Literatur vertretenen Grundsatzes, nach dem nach der Pfändung eintretende Umstände die Rechtmäßigkeit der Pfändung unberührt lassen, führte zu einem Ergebnis, das mit dem steuerrechtlichen Verfahrensrecht nicht in Einklang zu bringen ist. Denn nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO ist die zur Entscheidung über den Einspruch berufene Finanzbehörde verpflichtet, inzwischen eingetretene Änderungen der Sach- und Rechtslage zu berücksichtigen und gegebenenfalls eine neue Ermessensentscheidung zu treffen (BFH-Urteil vom 26. August 2010 III R 16/08, BFHE 232, 12, BFH/NV 2011, 668). Dies muss auch für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Pfändung gelten. Allein die Befürchtung, der Vollstreckungsschuldner könne durch Manipulationen den gepfändeten Gegenstand zurückerlangen oder veräußern, liefert keine überzeugende Begründung für eine Verkürzung des Rechtsschutzes und für eine Einschränkung des nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO vorgegebenen Prüfungsumfangs. Offensichtlichen Missbrauchsfällen kann durch Anwendung des § 42 AO begegnet werden.

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4. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die in § 811 ZPO getroffenen Regelungen nicht nur dem Schutz des Schuldners vor Grundrechtsverletzungen (Art. 1 und 2 des Grundgesetzes --GG--), sondern auch dem Schutz der Allgemeinheit dienen. Der in § 811 ZPO angeordnete Pfändungsschutz dient der Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20, 28 GG), denn er will eine Befriedigung des Gläubigers zu Lasten öffentlicher Mittel verhindern (MünchKommZPO/Gruber, a.a.O., § 811 Rz 19 und Prütting/Gehrlein/Flury, a.a.O., § 811 Rz 8). Die sozialpolitische Zwecksetzung würde jedoch verfehlt, wenn nach der Pfändung eingetretene Umstände, die eine Unpfändbarkeit begründen und z.B. dem Schuldner die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ermöglichen, die eine Inanspruchnahme staatlicher Leistungen entbehrlich macht, in einem Rechtsbehelfsverfahren keine Berücksichtigung mehr finden könnten.

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5. Demnach hat das FG zu Recht den vom Antragsteller fünf Monate nach der Pfändung vorgelegten Arbeitsvertrag sowie die eidessstattliche Erklärung des Geschäftsführers der Arbeitgeberin berücksichtigt. Im Rahmen der im Verfahren der Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung gebotenen und ausreichenden summarischen Prüfung ist die Auffassung des FG nicht zu beanstanden, dass der Antragsteller mit diesen Unterlagen den Nachweis erbracht hat, er benötige die gepfändeten Maschinen und Werkzeuge zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Für die Gewährung des Pfändungsschutzes ist es dabei unbeachtlich, dass der Antragsteller im Zeitpunkt der Pfändung in keinem Arbeitsverhältnis stand (Beschluss des Landgerichts --LG-- Wiesbaden vom 10. Juli 1996  4 R 404/96, Deutsche Gerichtsvollzieherzeitung --DGVZ-- 1997, 59, und Beschluss des LG Kreuznach vom 11. April 2000  2 T 40/2000, DGVZ 2000, 140). Auch kann der Pfändungsschutz des § 811 Nr. 5 ZPO nicht deshalb versagt werden, weil die GmbH den mit dem Antragsteller geschlossenen Arbeitsvertrag inzwischen gekündigt hat. Aufgrund der vom Antragsteller erhobenen Kündigungsschutzklage und der Ungewissheit des Verfahrensausgangs ist weiterhin davon auszugehen, dass der Antragsteller die gepfändeten Maschinen und Werkzeuge für eine bevorstehende Erwerbstätigkeit benötigt.

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6. Bei den in der Entscheidung des FG als unpfändbar angesehenen Maschinen und Werkzeugen handelt es sich um Gegenstände, die nach § 811 Nr. 5 ZPO zur Fortsetzung einer Erwerbstätigkeit einer Person dienen, die aus einer persönlichen Leistung ihren Erwerb zieht. Es ist auch nicht zweifelhaft, dass sich der in § 811 Nr. 5 ZPO angeordnete Pfändungsschutz auf Gegenstände, wie z.B. Werkzeuge eines Handwerksbetriebs erstreckt, die der Herstellung und Bearbeitung von Gegenständen dienen (Stein/Jonas/Münzberg, a.a.O., § 811 Rz 51, Fn 240, m.w.N., und Zöller/Stöber, a.a.O., § 811 Rz 27). Bei den streitgegenständlichen Maschinen und Werkzeugen handelt es sich somit um Gegenstände, die dem Pfändungsschutz des § 811 Nr. 5 ZPO unterliegen. Dies wird auch vom FA nicht in Abrede gestellt. Somit erweist sich die Entscheidung des FG auch unter diesem Gesichtspunkt als zutreffend.

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7. Die Anordnung der Sicherheitsleistung, die im pflichtgemäßen Ermessen des FG steht, begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Werden dem Antragsteller die gepfändeten Maschinen und Werkzeuge zur Berufsausübung wieder überlassen, ist --unter Berücksichtigung des vom FG angeführten Verhaltens des Antragstellers im Zusammenhang mit den durchgeführten Vollstreckungsmaßnahmen-- der Gefahr einer Veräußerung oder einer anderweitigen Vereitlung der Verwertung der gepfändeten Gegenstände zu begegnen. Diese Gefahr besteht unabhängig davon, ob die durch angebrachte Pfandzeichen sichtbare Pfandverstrickung fortbesteht. Auch die Strafbewehrung nach § 136 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs vermag daran nichts zu ändern. Unter den besonderen Umständen des Streitfalls erscheint es daher sachgerecht, die Höhe der Sicherheitsleistung nach dem voraussichtlich zu erzielenden Verwertungsergebnis zu bemessen.