Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 26.09.2017


BGH 26.09.2017 - VI ZR 81/17

Grundsatz der Subsidiarität im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren: Geltendmachung eines Gehörsverstoßes des Berufungsgerichts im Arzthaftungsprozess


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
6. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
26.09.2017
Aktenzeichen:
VI ZR 81/17
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2017:260917BVIZR81.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend OLG München, 18. Januar 2017, Az: 1 U 3074/16vorgehend LG München I, 15. Juni 2016, Az: 9 O 18711/13
Zitierte Gesetze

Leitsätze

Zum Grundsatz der Subsidiarität im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren.

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 18. Januar 2017 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 550.000 €

Gründe

I.

1

Der Kläger nimmt die Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.

2

Der am 28. Januar 1964 geborene Kläger stellte sich am 23. Februar 2009 in dem von der Beklagten zu 1 betriebenen Klinikum wegen belastungsabhängiger Schmerzen im rechten Fuß vor. Ein mitgebrachtes MRT vom 21. Januar 2009 zeigte eine inkomplette Sehnenruptur des musculus tibialis posterior. Eine im Klinikum der Beklagten zu 1 veranlasste Röntgenaufnahme führte zur Diagnose eines erworbenen Pes Planovalgus rechts mit tibialis posterior Dysfunktion Grad II. Eine fortgeschrittene Arthrose im Sprunggelenk ergab sich nicht. Dem Kläger waren von einem Vorbehandler Einlagen verordnet worden. Diese hatten aber nicht zu einer Besserung der Beschwerden geführt. Dem Kläger wurde von dem im Klinikum der Beklagten zu 1 tätigen Ärzten eine komplexe Rückfußkorrektur rechts, gelenkerhaltend im Sinne einer kombinierten Calcaneus-Verlängerungs- und Verschiebungsosteotomie mit lateraler Beckenkammspan-Interposition, einem FDL-Transfer sowie einer plantarisierenden Metatarsale I-Osteotomie empfohlen. Am 20. Mai 2009 wurde der Eingriff im Hause der Beklagten zu 1 durch den Beklagten zu 2 durchgeführt. Der Kläger wurde am 30. Mai 2009 aus der Klinik entlassen. In der Folgezeit ergaben sich diverse Komplikationen. Der Kläger macht u.a. geltend, die Operation sei nicht indiziert gewesen, da konservative Behandlungsmöglichkeiten zuvor nicht ausgeschöpft worden seien. Er sei nicht über die Behandlungsalternative einer konservativen Therapie mit Gips, Orthese oder physikalischen Maßnahmen aufgeklärt worden.

3

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er macht geltend, die Zulassung der Revision sei zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung geboten.

II.

4

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das angefochtene Urteil beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

5

1. Ohne Erfolg rügt die Nichtzulassungsbeschwerde allerdings, das Berufungsgericht habe unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zur Kenntnis genommen, dass der Kläger in der Berufungsinstanz die Frage der Indikation der Operation zum Gegenstand seines Vorbringens gemacht habe.

6

a) Zwar ist das Berufungsgericht rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, dass der Kläger den Vorwurf, die Operation sei nicht indiziert gewesen, mit der Berufung nicht mehr weiterverfolge. Bei der gebotenen Würdigung des Berufungsbegehrens im Gesamtzusammenhang unter Berücksichtigung des Grundsatzes der interessengerechten Auslegung, die der Senat selbst vornehmen kann (vgl. Senatsbeschluss vom 12. April 2016 - VI ZB 63/14, VersR 2016, 1072 Rn. 11 mwN; BGH, Urteile vom 24. Juni 2010 - I ZR 166/08, GRUR 2010, 1026 Rn. 10 - Photodynamische Therapie; Beschluss vom 27. Januar 2015 - II ZR 191/13, juris Rn. 10), besteht kein Zweifel daran, dass der Kläger mit der Berufung auch die Bejahung der Indikation durch das Landgericht angreifen wollte. Der Kläger führt auf S. 3 der Berufungsbegründung einleitend aus, im Wesentlichen stritten die Parteien über die Indikation zum operativen Vorgehen, über die "fehlerhafte Operation" selbst sowie über Aufklärungsfragen hinsichtlich Risikoaufklärung und Aufklärung über echte Behandlungsalternativen. In der Folge stellt der Kläger die Argumentation des Landgerichts zu den drei genannten Themenkomplexen, so unter I. 1. - als Unterpunkt des Behandlungsfehlers - die Argumentation des Landgerichts zur Indikation der Operation dar. Auf S. 5 ff. schließt sich die Würdigung des Urteils an. Unter Ziffer I. "Zum Behandlungsfehler" wirft der Kläger dem Landgericht vor, dass das Urteil allein die Einschätzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen wiedergebe und die widersprechende ärztliche Einschätzung des Privatsachverständigen nicht einmal erwähne. Das Landgericht habe sich mit dem Privatgutachten, aus dem sich Widersprüche zum Gerichtsgutachten ergäben, nicht auseinandergesetzt und die Widersprüche nicht aufgeklärt. Der Privatsachverständige sei zu der Überzeugung gekommen, dass im Rahmen der Behandlung des Klägers nicht sämtliche konservativen Behandlungsmöglichkeiten zur Behandlung der Tibialis posterior - Sehnen-Dysfunktion von Beklagtenseite vorgeschlagen und durchgeführt worden seien. Zur Behandlung hätten regressierende Behandlungsmöglichkeiten mit Gips oder Orthese sowie physikalische Maßnahmen zur Verfügung gestanden. Insoweit bezieht sich der Kläger auf die zusammenfassenden Ausführungen des Privatsachverständigen auf S. 53 des Gutachtens. Der Kläger hat damit hinreichend klar zu erkennen gegeben, dass er den Vorwurf, die Operation sei nicht indiziert gewesen, mit der Berufung weiterverfolgen will.

7

b) Der Geltendmachung eines Gehörsverstoßes wegen Nichtberücksichtigung dieses Vorbringens steht aber der allgemeine Grundsatz der Subsidiarität entgegen.

8

aa) Nach diesem Grundsatz muss ein Beteiligter die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern (BGH, Beschlüsse vom 17. März 2016 - IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699 Rn. 4; vom 15. Juli 2015 - IV ZB 10/15, VersR 2016, 137; Urteil vom 8. November 1994 - XI ZR 35/94, NJW 1995, 403; BVerfGE 73, 322, 325; 77, 381, 401; 81, 22, 27; 86, 15, 22; 95, 163, 171). Diese Würdigung entspricht dem in § 295 ZPO zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken, nach dessen Inhalt eine Partei eine Gehörsverletzung nicht mehr rügen kann, wenn sie die ihr nach Erkennen des Verstoßes verbliebene Möglichkeit zu einer Äußerung nicht genutzt hat (BGH, Beschlüsse vom 17. März 2016 - IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699 Rn. 4; vom 6. Mai 2010 - IX ZB 225/09, MDR 2010, 948; vom 9. Februar 2011 - VIII ZR 285/09, WuM 2011, 178, juris Rn. 10).

9

bb) So liegt es hier. Das Berufungsgericht hat in seinem Hinweisbeschluss vom 28. Oktober 2016 unter I. 1. ausdrücklich und in Fettdruck darauf hingewiesen, dass der Vorwurf, die Operation sei nicht indiziert gewesen, von der Berufung nicht mehr weiterverfolgt werde. Dieser auf einer unzureichenden Befassung mit dem Berufungsbegehren beruhende Hinweis forderte eine Reaktion des Klägers geradezu heraus. Der Kläger hat die Möglichkeit, das Berufungsgericht auf das fehlerhafte Verständnis der Berufungsbegründung hinzuweisen, aber nicht genutzt. In seinem im Anschluss an den Hinweisbeschluss eingereichten Schriftsatz hat er lediglich beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen.

10

2. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt aber mit Erfolg, dass die Beurteilung des Berufungsgerichts, den Beklagten könne nicht vorgeworfen werden, den Kläger unzureichend über Behandlungsalternativen aufgeklärt zu haben, auf einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG beruht.

11

a) Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Daraus folgt zwar nicht, dass das Gericht verpflichtet wäre, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden (vgl. BVerfGE 88, 366, 375 f. mwN). Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Gründen aber verarbeitet werden (vgl. BVerfGE 47, 182, 189). Geht ein Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133, 146; BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2012 - 1 BvR 1999/09, juris Rn. 13).

12

b) Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht beanstandet, hat das Berufungsgericht den Vortrag des Klägers in der Berufungsbegründung nicht berücksichtigt, wonach ausweislich der Angaben des Privatsachverständigen im Streitfall konservative Möglichkeiten zur Behandlung der beim Kläger festgestellten Tibialis posterior - Sehnen-Dysfunktion - nämlich regressierende Behandlungsmöglichkeiten Gips, Orthese sowie physikalischen Maßnahmen - zur Verfügung gestanden hätten, über die der Kläger nicht aufgeklärt worden sei, und wonach die Auffassung des Privatsachverständigen im Widerspruch zu der des gerichtlichen Sachverständigen stehe, weshalb bereits das Landgericht den Sachverhalt weiter habe aufklären müssen. Der Privatsachverständige führt auf S. 52 f. seines Gutachtens aus, dass alle zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Artikel eindeutig empfehlen würden, dass bei Grad I und II der Tibialis posterior Sehnen-Dysfunktion initial eine konservative Therapie im Vordergrund stehe. In der Literatur seien mehrere Studien publiziert worden, die darauf hinwiesen, dass eine Tibialis posterior Sehnen-Dysfunktion Grad II erfolgreich konservativ behandelt werden könne. Die Follow-up-Studie von Lin et al., publiziert in Foot & Ankle International 2008, beschreibe eine erfolgreiche Therapie dieser Dysfunktion über einen Zeitraum von 7 bis 10 Jahren. Der Artikel liege dem Gutachten bei. Des Weiteren lägen die Therapieempfehlungen hinsichtlich des Acquired Adult Flatfoot Deformity der American Orthopaedic Foot & Ankle Society bei sowie ein Übersichtsartikel von Holly Olszewski hinsichtlich Studien über die erfolgreiche konservative Behandlung der Tibialis posterior Sehnen-Dysfunktion. Nach Auffassung des Privatsachverständigen habe zunächst die beim Kläger vorliegende Teilruptur der Tibialis posterior-Sehne konservativ behandelt werden müssen. Zu diesem Zweck hätten Behandlungsmöglichkeiten mit Gips oder Orthese zur Verfügung gestanden ebenso wie physikalische Maßnahmen. Zur Schmerzlinderung hätten Medikamente eingesetzt werden können. Auf S. 54 bejaht der Sachverständige die Frage, ob alternative Behandlungsmöglichkeiten mit zumindest gleichem hypothetischen Behandlungserfolg bestanden hätten, ausdrücklich und verweist noch einmal auf die zuvor erwähnten Studien und Artikel.

13

Demgegenüber hatte der gerichtliche Sachverständige auf die Frage des Klägervertreters nach alternativen Behandlungsmöglichkeiten die Anwendung einer Orthese oder eines Gipses nicht für gleichermaßen indiziert gehalten. Bei dieser Sachlage rügt die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht, dass die Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach ein Widerspruch zwischen den diesbezüglichen Ausführungen des Privatsachverständigen und denen des gerichtlichen Sachverständigen nicht zu erkennen sei, nur darauf beruhen kann, dass das Berufungsgericht den Akteninhalt unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nur selektiv zur Kenntnis genommen hat.

14

c) Der Geltendmachung dieses Gehörsverstoßes steht nicht der Grundsatz der Subsidiarität entgegen. Zwar findet sich die entsprechende Beurteilung des Berufungsgerichts bereits im Hinweisbeschluss. Der Kläger ist ihr in seinem im Anschluss an den Hinweisbeschluss eingereichten Schriftsatz nicht entgegengetreten, sondern hat lediglich beantragt, eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Dies gereicht ihm aber nicht zum Nachteil. Das Berufungsgericht hat seine Beurteilung, ein Widerspruch zwischen den Ausführungen des Privatsachverständigen und denen des gerichtlichen Sachverständigen sei nicht zu erkennen, nicht begründet. Es hat sich darauf beschränkt, einen anderen Standpunkt als den vom Kläger vertretenen einzunehmen. Dieser hatte die Widersprüche zwischen den Ausführungen des Privatsachverständigen und denen des gerichtlichen Sachverständigen in der Berufungsbegründung im Einzelnen aufgezeigt und als rechtsfehlerhaft beanstandet, dass sich das Landgericht mit der abweichenden Einschätzung des Privatsachverständigen in keiner Weise auseinandergesetzt hatte. Der gegenteiligen Auffassung des Berufungsgerichts hätte der Kläger nur dadurch entgegentreten können, dass er seine bereits in der Berufungsbegründung erhobenen Rügen wiederholt. Hierzu war er nicht gehalten.

15

d) Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des durch die Vorlage des Privatsachverständigengutachtens konkretisierten Vorbringens des Klägers und bei der dementsprechend gebotenen Ergänzung der Beweisaufnahme unter Berücksichtigung aller Umstände des gesamten Falles zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.

Galke     

       

von Pentz     

       

Offenloch

       

Roloff     

       

Müller