Entscheidungsdatum: 19.06.2012
War ein grober Verstoß gegen den ärztlichen Standard grundsätzlich geeignet, mehrere Gesundheitsschäden bekannter oder (noch) unbekannter Art zu verursachen, kommt eine Ausnahme vom Grundsatz der Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler regelmäßig nicht deshalb in Betracht, weil der eingetretene Gesundheitsschaden als mögliche Folge des groben Behandlungsfehlers zum maßgebenden Zeitpunkt noch nicht bekannt war (Abgrenzung zum Senatsurteil vom 16. Juni 1981, VI ZR 38/80, VersR 1981, 954).
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 14. Zivilsenats in Kassel des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 11. Januar 2011 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Schadensersatz wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung nach seiner Geburt im Klinikum der Beklagten in Anspruch.
Die Mutter des Klägers befand sich dort wegen vaginaler Blutungen von der 12. bis zur 17. Schwangerschaftswoche in stationärer Behandlung. Ab dem 15. Januar 1991 wurde sie wegen placenta praevia totalis erneut in der Klinik der Beklagten überwacht. Aufgrund lebensbedrohlicher Blutungen wurde die Schwangerschaft am 16. Februar 1991 in der 32. Schwangerschaftswoche durch Kaiserschnitt beendet und der Kläger geboren. Nach der 20. Lebensstunde wurde der Kläger infolge Atemstillstands (schwere Apnoe) intubiert und bis zum 5. Lebenstag maschinell beatmet. Am 3. Lebenstag wurde bei einer Schädelsonographie eine Echogenitätsvermehrung in der Umgebung beider Seitenventrikel festgestellt und als beginnender frühkindlicher Gehirnschaden (periventrikuläre Leukomalazie - abgekürzt: PVL) gewertet. Der Kläger leidet als Folge der PVL an einer spastischen Tetraparese mit schweren Mobilitäts-, Atmungs- und Schluckstörungen sowie einem Anfallsleiden nach Hirnschädigung mit geistiger Beeinträchtigung. Er ist auf dauerhafte Pflege und Betreuung angewiesen.
Mit seiner Klage hat der Kläger die Zahlung eines Schmerzensgeldes verlangt, für das er eine einmalige Zahlung von 350.000 € sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente von 400 € für angemessen hält. Ferner hat er die Feststellung der Schadensersatzpflicht der Beklagten für sämtliche materiellen Schäden begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
I.
Das Berufungsgericht hat einen Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte aus § 831 Abs. 1 BGB, § 847 Abs. 1 BGB a.F. bzw. aus (positiver) Verletzung des Behandlungsvertrages verneint. Durch eine zu intensive Einstellung des Beatmungsgeräts sei zwar eine ausgeprägte Hyperventilation des Klägers verursacht worden, deren Tolerierung bis zum 5. Lebenstag behandlungsfehlerhaft gewesen sei. Auch sei den Ärzten der Beklagten als weiterer Behandlungsfehler das Unterlassen engmaschiger Blutgasanalysen vorzuwerfen. Weil die erhobenen pCO2-Werte hochgradig pathologisch gewesen seien, hätten kurzfristigere Kontrollen durchgeführt werden müssen. Nicht bewiesen sei jedoch, dass zwischen diesen Behandlungsfehlern und der eingetretenen PVL ein kausaler Zusammenhang bestehe. Zwar könnten auch niedrige pCO2-Werte zu einer Verengung der Hirnarterien und damit zu einer zerebralen Minderdurchblutung als Ursache einer PVL führen. Im Streitfall lasse sich aber eine (Mit-)Ursächlichkeit der Hyperventilation für die aufgetretene PVL nicht feststellen. Die Sachverständigen hätten übereinstimmend ausgeführt, dass sich zum einen der genaue Zeitpunkt der Hirnschädigung nicht mehr eruieren lasse, zum anderen hätten beim Kläger noch andere Risikofaktoren vorgelegen, die für sich gesehen ebenfalls die PVL verursacht haben könnten. Die nicht festzustellende Kausalität gehe zu Lasten des Klägers. Zwar habe der zweitinstanzliche Sachverständige die lückenhafte und viel zu grobmaschige Überwachung der Blutgase während der künstlichen Beatmung des frühgeborenen Kindes und die unzureichende Reaktion auf die über mehrere Tage anhaltende Hyperventilation als groben Behandlungsfehler bezeichnet. Eine Beweislastumkehr zugunsten des Klägers komme jedoch gleichwohl nicht in Betracht, weil sich im Streitfall nicht das Risiko verwirklicht habe, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen lasse. Der Sachverständige habe - ausgehend vom medizinischen Standardwissen zum Zeitpunkt der Geburt - die ärztliche Handlungspflicht damit begründet, dass die Reduzierung der künstlichen Beatmung notwendig gewesen sei, um die Gefahr von Druckschädigungen an der noch unreifen Lunge zu vermeiden. Auch sei seinerzeit schon bekannt gewesen, dass durch ein Überangebot an Sauerstoff infolge fehlerhafter Beatmung Augenschäden verursacht werden könnten. Das Risiko einer Minderdurchblutung des Gehirns durch eine Hyperventilation habe hingegen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zum medizinischen Standardwissen gehört. Da der Kläger weder Druckschäden an der noch unreifen Lunge noch Augenschäden erlitten habe, habe sich bei der Behandlung mithin ein Risiko verwirklicht, das für die behandelnden Ärzte keine Handlungspflicht begründet habe.
II.
Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dem Kläger komme eine Beweislastumkehr wegen eines groben Behandlungsfehlers nicht zugute.
1. Das Berufungsgericht ist zwar zutreffend davon ausgegangen, dass nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteile vom 8. Januar 2008 - VI ZR 118/06, VersR 2008, 490 Rn. 11; vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48 Rn. 16 und vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228, 229) ein grober Behandlungsfehler regelmäßig zur Umkehr der Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Gesundheitsschaden und dem Behandlungsfehler führt, wenn dieser generell geeignet ist, den eingetretenen Schaden zu verursachen. Es hat auch vom Grundsatz her richtig erkannt, dass es hiervon Ausnahmen gibt. Eine Verlagerung der Beweislast auf die Behandlungsseite ist nach einem groben Behandlungsfehler ausgeschlossen, wenn jeglicher haftungsbegründende Ursachenzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist, sich nicht das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen lässt, oder der Patient durch sein Verhalten eine selbständige Komponente für den Handlungserfolg vereitelt hat und dadurch in gleicher Weise wie der grobe Behandlungsfehler des Arztes dazu beigetragen hat, dass der Verlauf des Behandlungsgeschehens nicht mehr aufgeklärt werden kann (vgl. Senatsurteile vom 8. Januar 2008 - VI ZR 118/06, VersR 2008, 490 Rn. 11; vom 27. April 2004 - VI ZR 34/03, BGHZ 159, 48 Rn. 16; vom 16. November 2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228, 229 und vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80, VersR 1981, 954).
2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts liegt im Streitfall eine Ausnahme vom Grundsatz der Beweislastumkehr bei einem groben Behandlungsfehler nicht vor.
a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts war es grob fehlerhaft, die künstliche Beatmung des Klägers nicht zu reduzieren, weil dies zu schwersten Gesundheitsschäden führen konnte.
Nach den Ausführungen des zweitinstanzlichen Sachverständigen, denen das Berufungsgericht folgt, wurde die Hyperventilation des Klägers durch eine zu intensive Einstellung des Beatmungsgeräts verursacht. Die Ärzte der Beklagten hätten gegen die Verpflichtung verstoßen, das Beatmungsgerät so einzustellen, dass eine Hyperventilation mit der damit einhergehenden Hypokapnie (erniedrigter Kohlenstoffdioxidpartialdruck im arteriellen Blut) nicht eintritt und die Blutgaswerte im Normbereich um 40 mmHg ("Normokapnie") bleiben; sie hätten insbesondere den aus den Blutgasanalysen ersichtlichen, hochgradig pathologischen Werten durch eine Reduzierung der Beatmungsintensität begegnen müssen. Nach dem medizinischen Standardwissen zum Zeitpunkt der Geburt des Klägers sei eine auf Normwerte ausgerichtete Dosierung der künstlichen Beatmung geboten gewesen. Sie habe der Gefahr von Druckschäden an der noch unreifen Lunge vorbeugen sollen. Auch sei schon seinerzeit bekannt gewesen, dass ein Überangebot von Sauerstoff infolge fehlerhafter Beatmung Augenschäden verursachen könne.
Auf dieser Grundlage ist die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Tolerierung der durch eine zu intensive Beatmung verursachten, über mehrere Tage anhaltenden Hyperventilation bei hochgradig pathologischen Blutgaswerten sei grob behandlungsfehlerhaft gewesen, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden. Die Hyperventilation war bereits aus damaliger (objektiver) Sicht nicht tolerabel, mögen auch nicht alle möglichen gesundheitlichen Schäden dieses unphysiologischen Vorgangs bekannt gewesen sein.
b) Der grobe Behandlungsfehler war auch generell geeignet, den beim Kläger eingetretenen Gesundheitsschaden zu verursachen oder zumindest mit zu verursachen. Nach den weiteren Ausführungen des Sachverständigen, denen das Berufungsgericht auch insoweit folgt, kann eine Hyperventilation mit einhergehender Hypokapnie insbesondere zu einer Minderdurchblutung der Endstromgebiete der Hirnarterien führen und damit eine PVL zumindest mitverursachen. Dass die Kenntnis von diesem Zusammenhang nach den Angaben des Sachverständigen zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zum medizinischen Standardwissen gehörte, ist angesichts der gebotenen objektiven Betrachtung unerheblich.
c) Die entscheidende Erwägung des Berufungsgerichts, dem Kläger komme im Streitfall gleichwohl keine Beweislastumkehr zugute, weil sich mit der PVL nicht das Risiko verwirklicht habe, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen lasse, beruht auf einem Missverständnis der einschlägigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80, VersR 1981, 954).
aa) Die Umkehr der Beweislast im Falle eines groben Behandlungsfehlers hat ihren Grund (vgl. Senatsurteil vom 27. März 2007 - VI ZR 55/05, BGHZ 172, 1 Rn. 25) darin, dass das Spektrum der für den Misserfolg der ärztlichen Behandlung in Betracht kommenden Ursachen gerade wegen der elementaren Bedeutung des Fehlers in besonderem Maße verbreitert bzw. verschoben worden ist (vgl. Senatsurteil vom 16. März 2010 - VI ZR 64/09, VersR 2010, 627 Rn. 18). Es entspricht deshalb der Billigkeit, die durch den Fehler in das Geschehen hineingetragene Aufklärungserschwernis nicht dem Geschädigten anzulasten (Senatsurteil vom 21. September 1982 - VI ZR 302/80, BGHZ 85, 212, 216). Für diese Billigkeitserwägungen bleibt aber dann kein Raum, wenn feststeht, dass nicht die dem Arzt zum groben Fehler gereichende Verkennung eines Risikos schadensursächlich geworden ist, sondern allenfalls ein in derselben Behandlungsentscheidung zum Ausdruck gekommener, aber nicht schwerwiegender Verstoß gegen weitere ärztliche Sorgfaltspflichten (vgl. Senatsurteil vom 16. Juni 1981 - VI ZR 38/80, VersR 1981, 954 Rn. 12).
bb) In dem damals entschiedenen Fall eines Behandlungsfehlers wegen nicht ausreichender therapeutischer Aufklärung bei einer verfrühten Entlassung eines Patienten nach einer Herzkatheteruntersuchung hatte sich dasjenige Risiko, dem der dortige Beklagte zur Vermeidung des Vorwurfs eines schweren Behandlungsfehlers durch Aufklärung vorzubeugen hatte, nicht verwirklicht. Vielmehr hatte sich ein anderes, statistisch selteneres und bei gewöhnlichem Verlauf auch weniger schweres Risiko einer Infektion realisiert, dem es zwar auch durch Aufklärung vorzubeugen galt, das aber bereits wegen seiner objektiv geringeren Schwere nicht geeignet war, einen groben Behandlungsfehler zu begründen. Dem behandelnden Arzt waren mehrere Verstöße gegen ärztliche Sorgfaltspflichten vorzuwerfen. Zum einen die grob fehlerhaft unterbliebene therapeutische Aufklärung über das Risiko von Störungen des Herz- Kreislaufsystems nach einer Herzkatheteruntersuchung, zum anderen das weniger schwerwiegende Versäumnis, den Patienten nicht auf die Gefahr einer Infektion hingewiesen zu haben. Damit ist der vorliegende Fall nicht vergleichbar.
cc) Hier liegt nur ein Verstoß gegen die Pflicht zu standardgemäßer Behandlung vor. Die behandelnden Ärzte hätten die künstliche Beatmung so einstellen müssen, dass sie den Bedürfnissen des frühgeborenen Klägers entsprach. Stattdessen tolerierten die Ärzte der Beklagten über mehrere Tage hinweg ungeachtet hochpathologischer Blutgaswerte die durch eine zu stark dosierte Beatmung verursachte Hyperventilation mit der Folge der Hypokapnie. Nur dieser eine - wie schon dargelegt als grob fehlerhaft zu bewertende - Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht steht inmitten. Dass die beim Kläger eingetretene Folge der Hypokapnie anders als andere schädliche Folgen der Hyperventilation - Druckschäden an der noch unreifen Lunge des Frühgeborenen, Schäden an den Augen bei Sauerstoffüberangebot - zur fraglichen Zeit noch nicht zum Standardwissen gehörte, ist wegen der auch in diesem Zusammenhang angezeigten objektiven Betrachtung nicht von Bedeutung, vermag also eine Ausnahme vom Grundsatz der Beweislastumkehr bei grobem Behandlungsfehler nicht zu rechtfertigen. Das gilt hier auch deshalb, weil das Spektrum der für den Misserfolg der ärztlichen Behandlung in Betracht kommenden Ursachen gerade wegen der über mehrere Tage anhaltenden Überbeatmung und der elementaren Bedeutung dieses Fehlers für die Gesundheit des Klägers in besonderem Maße verbreitert bzw. verschoben wurde und zwar auch im Hinblick auf Gefahren der Hypokapnie, die damals noch nicht bekannt waren.
Galke Wellner Pauge
Stöhr von Pentz