Entscheidungsdatum: 15.09.2015
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerinnen wird das Urteil des 15. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 16. September 2014 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 2.764.704,69 €, davon 556.422,38 € für die Beschwerde der Klägerin zu 1 und 2.208.282,31 € für diejenige der Klägerin zu 2.
I.
Die Klägerin zu 1 vertrieb von der Klägerin zu 2 hergestellte "Bio-Tragetaschen", unter anderem an Einzelhandelsketten, die die Taschen an Endkunden weiterverkauften. In aufgedruckten Slogans waren die Taschen als umweltschonend und "100 % kompostierbar" beschrieben.
Am 10. und 13. April 2012 gab der Beklagte zu 1, dessen Bundesgeschäftsführer der Beklagte zu 2 ist, Pressemitteilungen heraus, die sich mit den Tüten befassten. In der Überschrift der ersten Pressemitteilung heißt es, die - namentlich benannten - Einzelhandelsketten täuschten die Verbraucher "mit vermeintlich nachhaltigen Einkaufstüten"; die als kompostierbar beworbenen Tragetaschen bestünden zu mehr als zwei Dritteln aus Erdöl und würden weder kompostiert noch recycelt. Im weiteren Text wird eine Äußerung des Beklagten zu 2 zitiert, wonach die angeblich "grünen" Plastiktüten nicht kompostiert würden. Weiter heißt es, in industriellen Kompostierungsanlagen würden die Tüten gemeinsam mit herkömmlichen Plastiktüten als Störstoffe aussortiert. Eine Umfrage unter mehr als 80 deutschen Anlagen belege, dass eine Kompostierung biologisch abbaubarer Kunststoffe - darunter auch die vermeintlich zu 100 % kompostierbaren Tragetaschen der Handelsketten - praktisch nicht stattfinde. Zwar seien die Tüten nach der DIN EN 13432 biologisch abbaubar. Diese Norm offenbare jedoch bei genauerer Betrachtung eine große Schwäche. Denn nach ihrer Vorgabe müssten die Plastiktüten erst innerhalb von zwölf Wochen unter bestimmten Bedingungen zu 90 Prozent zersetzt sein, während deutsche Kompostierungsanlagen in der Regel mit erheblich kürzeren Verweilzeiten zwischen ein bis acht Wochen arbeiteten. In der zweiten Pressemitteilung werden die Vorwürfe wiederholt und es wird berichtet, der Beklagte zu 1 habe die Einzelhandelsketten wegen Verbrauchertäuschung abgemahnt.
Die benannten Einzelhandelsketten stellten daraufhin den Verkauf der Tüten ein. Mit ihrer Klage verlangen die Klägerinnen Ersatz des ihnen durch den Abbruch der Lieferbeziehungen entstandenen Schadens. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerinnen zurückgewiesen.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Das Gebot des rechtlichen Gehörs soll als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die nicht erfolgte Berücksichtigung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Mai 2009 - VI ZR 275/08, VersR 2009, 1137 Rn. 2 mwN).
2. So verhält es sich im Streitfall. Die Nichtzulassungsbeschwerde beanstandet zu Recht, das Berufungsgericht habe gehörswidrig unter Beweis gestellten erstinstanzlichen Vortrag der Klägerinnen zur Behandlung kompostierbarer Kunststoffe in deutschen Kompostierungsanlagen übergangen.
a) Das Berufungsgericht hat seine Feststellung, dass eine Kompostierung der "Bio-Tragetaschen" in deutschen Kompostierungsanlagen praktisch nicht stattfinde, im Wesentlichen auf eine von den Beklagten durchgeführte Umfrage unter den Betreibern von mehr als 80 Anlagen gestützt. Obwohl es davon ausgegangen ist, dass bei der Umfrage Informationen über lediglich etwa 8 % der deutschen Anlagen zur Verfügung gestellt wurden, hat es das Umfrageergebnis als tragfähig angesehen. Das hat es damit begründet, dass sich aus dem eigenen Vorbringen der Klägerinnen nicht ergebe, dass und ggf. in welchem Umfang die übrigen Anlagen im maßgeblichen Zeitraum die fraglichen "Bio-Tragetaschen" tatsächlich kompostiert hätten. Bei dieser Würdigung hat es zwar gesehen, dass die Klägerinnen sich erstinstanzlich auf einzelne Mitteilungen berufen haben, nach denen eine Kompostierung der "Bio-Tragetaschen" tatsächlich stattfindet. Es hat aber nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Klägerinnen die in Rede stehenden Anlagen nur beispielhaft benannt haben. Darüber hinaus haben sie mit Bezug auf die fraglichen Tragetaschen in erster Instanz unter Benennung eines Zeugen vorgetragen, es sei "bei einer Mehrzahl der deutschen Bioabfallkompostanlagen davon auszugehen [...], dass die kompostierbaren Kunststoffe im Prozess verbleiben". Indem es diesen Beweis nicht erhoben hat, hat das Berufungsgericht gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen. Denn das Beweisangebot war erheblich und seine Nichtberücksichtigung findet im Prozessrecht keine Stütze (vgl. nur Senatsbeschluss vom 12. Mai 2009 - VI ZR 275/08, VersR 2009, 1137 Rn. 2; BVerfG, WM 2012, 492, 493; jeweils mwN).
Die unter Beweis gestellte Behauptung widerspricht der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellung. Wenn als Bioabfall entsorgte kompostierbare Kunststoffe und damit auch die "Bio-Tragetaschen" der Klägerinnen bei den meisten deutschen Kompostierungsanlagen im Prozess verbleiben, also nicht aussortiert werden, kann nicht angenommen werden, dass eine Kompostierung der Taschen in solchen Anlagen praktisch nicht stattfindet.
b) Der Annahme einer Gehörsverletzung steht es nicht entgegen, dass die Klägerinnen im Berufungsverfahren nicht auf ihr vom Berufungsgericht nicht berücksichtigtes Beweisangebot zurückgekommen sind.
aa) Zwar ist das Bundesverfassungsgericht bezüglich des bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Berufungsrechts davon ausgegangen, dass eine - hier vorliegende - globale Bezugnahme des Berufungsklägers auf sein Vorbringen erster Instanz im Regelfall nicht ausreicht, um das Berufungsgericht verfassungsrechtlich in die Pflicht zu nehmen, den gesamten erstinstanzlichen Vortrag auf seine Bedeutsamkeit für das Berufungsverfahren hin zu überprüfen. Eine Ausnahme hiervon hat das Bundesverfassungsgericht jedoch für den Fall anerkannt, dass das erstinstanzliche Gericht ein unter Beweis gestelltes Vorbringen des Berufungsklägers als unerheblich behandelt hat, der Berufungskläger mit seiner Berufung gerade diese Rechtsauffassung angreift und das Berufungsgericht den betreffenden Sachvortrag ebenfalls als erheblich ansieht (BVerfGE 36, 92, 99; 46, 315, 319 f.; 60, 305, 311; BVerfG, NJW-RR 1995, 828; vgl. auch Senatsurteil vom 3. Juni 1997 - VI ZR 133/96, VersR 1997, 1422, 1423). In solchen Fällen verstößt die Nichtberücksichtigung des Beweisantritts auch unter der Geltung des reformierten Berufungsrechts gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Denn ebenso wie im früheren Recht gibt es im neuen Recht keine Vorschrift, die den Berufungskläger dazu anhält, einen erstinstanzlichen Vortrag zu wiederholen, auf den es aus Sicht des erstinstanzlichen Gerichts nicht ankam (für den Berufungsbeklagten vgl. BVerfG, NJW 2015, 1746 Rn. 17). Vielmehr gelangt mit einem zulässigen Rechtsmittel grundsätzlich der gesamte aus den Akten ersichtliche Prozessstoff der ersten Instanz ohne weiteres in die Berufungsinstanz (vgl. Senatsurteil vom 20. Dezember 2005 - VI ZR 180/04, BGHZ 165, 290, 297 mwN).
bb) Nach diesen Grundsätzen hätte das Berufungsgericht den Beweisantritt auch ohne Wiederholung im Berufungsverfahren berücksichtigen müssen, um den Anspruch der Klägerinnen auf rechtliches Gehör zu erfüllen.
Für die Würdigung des Landgerichts kam es nicht auf das Beweisangebot an. Das Landgericht hat die in Rede stehende Tatsachenbehauptung betreffend die Behandlung der "Bio-Tragetaschen" in Kompostierungsanlagen enger verstanden als das Berufungsgericht. Es hat die Behauptung nur auf 79 von 81 Kompostierungsanlagen bezogen, für die im Rahmen der von den Beklagten durchgeführten Umfrage Antworten eingegangen waren. Gegen diese Würdigung haben die Klägerinnen sich mit der Berufung gewandt. Das Berufungsgericht hat dann die fragliche Äußerung weitergehend dahin ausgelegt, dass sie sich - von vereinzelten Ausnahmen abgesehen - auf die Praxis aller deutschen Kompostierungsanlagen bezieht. In dem Umfrageergebnis hat es lediglich den entscheidenden Beleg für die Richtigkeit dieser Behauptung gesehen. Bei dieser Würdigung hätte es zur Vermeidung eines Gehörsverstoßes auch die erstinstanzlichen Beweisangebote der Klägerinnen berücksichtigen müssen, soweit diese erst auf Grund des vom Landgericht abweichenden Auslegungsergebnisses erheblich wurden.
cc) Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei Berücksichtigung dieses Vorbringens zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Wegen der deswegen erheblichen Verletzung des rechtlichen Gehörs ist die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, auch die weiteren Rügen der Nichtzulassungsbeschwerde bezüglich eines übergangenen Vorbringens zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere für den Vortrag, dass die "Bio-Tragetaschen" in deutlich kürzerer Zeit verrotten als nach der DIN EN 13432 vorgegeben ist.
Galke Wellner Stöhr
von Pentz Oehler