Entscheidungsdatum: 31.05.2016
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 22. April 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 242.208,72 €.
I.
Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung und unzureichender Aufklärung auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch.
Die am 1. Juli 1957 geborene Klägerin hatte sich im Jahr 1983 nach der Diagnose eines Cervix-Karzinoms einer Strahlentherapie unterzogen. In der Folgezeit kam es zu Lymphödemen in beiden Beinen, starken Verhärtungen im kleinen Becken, persistierenden Fieberschüben sowie zu einer schweren arteriellen Verschlusserkrankung der Beckenarterien rechts. Im Jahre 2006 erfolgte die Implantation eines Stents in der Beckenarterie rechts, im Jahr 2007 eine erneute Implantation zweier Stents. Im Januar 2009 wurde ein extra anatomischer Cross-Over-Bypass implantiert. Aufgrund der Fieberschübe wandte sich die Klägerin an den Beklagten. Dieser hatte nach einer Computertomographie am 2. April 2008 den Verdacht auf eine konglomeratartige Veränderung im Becken, möglicherweise mit Fistelung und abgekapselten Flüssigkeitsarealen. Er führte deshalb am 3. April 2008 eine feine Nadelpunktion des Flüssigkeitsareals durch, bei der er die Höhle mit medizinischem Alkohol spülte. Unmittelbar nach der Alkoholinstillation kam es zu ausgeprägten Schmerzzuständen im linken Bein der Klägerin mit fast vollständiger linksseitiger Parese des linken Beines. Die Klägerin wurde zur intensivmedizinischen Behandlung in das Gemeinschaftsklinikum K. überführt. Bei der Aufnahme dort bestand bereits eine vollständige Stuhl- und Harninkontinenz. Eine Computertomographie des Beckens zeigte eine ödematöse Schwellung mit beginnender Nekrose der Glutealmuskulatur links. Es wurde ein Anus praeter angelegt, der bis heute nicht beseitigt werden konnte. Auch die Harninkontinenz konnte nicht behoben werden. Die Klägerin ist aufgrund der Schädigung ihres nervus ischiadicus links und des nervus femoralis links mit Plegie des linken Fußes und mäßig bis hochgradiger Parese der linken Oberschenkelmuskulatur massiv in ihrer Fortbewegungsfähigkeit beeinträchtigt.
Mit der Klage begehrt sie die Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes, einer Rente zum Ausgleich des ihr entstandenen Verdienstausfalls bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, einer Rente zum Ausgleich des ihr entstandenen Haushaltsführungsschadens bis zur Vollendung des 75. Lebensjahres und die Feststellung der Ersatzverpflichtung der Beklagten. Das Landgericht hat den Beklagten durch Teilend- und Grundurteil verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld in Höhe von 130.000 € sowie eine Rente von vierteljährlich 1.020 € zum Ausgleich des ihr entstandenen Haushaltsführungsschadens zu zahlen. Den Anspruch auf Ersatz von Verdienstausfallschaden bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres hat es dem Grunde nach für gerechtfertigt erachtet und die Ersatzverpflichtung des Beklagten hinsichtlich künftiger materieller und immaterieller Schäden festgestellt. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Beklagten vollständig und die Berufung der Klägerin mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das zuerkannte Schmerzensgeld seit dem 1. Oktober 2008 mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen ist. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er macht geltend, die Revision sei zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung zuzulassen.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Klägerin ständen Ansprüche auf Ersatz eines ihr entstandenen Haushaltsführungsschadens in Höhe von vierteljährlich 1.020 € bis zur Vollendung ihres 75. Lebensjahres, ein Anspruch auf Ersatz von Verdienstausfall bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres sowie ein Schmerzensgeld in Höhe von zu 130.000 € zu, beruht auf einer Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dabei soll das Gebot des rechtlichen Gehörs als Prozessgrundrecht sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. Daraus folgt zwar nicht, dass das Gericht verpflichtet wäre, jedes Vorbringen der Beteiligten in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu bescheiden (vgl. BVerfGE 88, 366, 375 f. mwN). Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Gründen aber verarbeitet werden (vgl. BVerfGE 47, 182, 189). Geht ein Gericht auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht ein, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war (vgl. BVerfGE 86, 133, 146; BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2012 - 1 BvR 1999/09, juris Rn. 13).
2. Diesen Anforderungen genügt das Berufungsurteil nicht. Das Berufungsgericht hat sich nur unzureichend und unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG mit dem durch den Antrag auf Einholung eines angiologischen und eines strahlentherapeutischen Sachverständigengutachtens unterlegten Vorbringen des Beklagten befasst, die Vorerkrankungen der Klägerin, insbesondere ihre gravierende arterielle Verschlusserkrankung, hätten auch ohne den Behandlungsfehler des Beklagten zu einer massiven Beeinträchtigung ihrer Leistungs- und Erwerbsfähigkeit geführt mit der Folge, dass sie ihren Haushalt auch ohne das haftungsbegründende Ereignis auf Dauer nicht hätte weiterführen und ihrer Berufstätigkeit nicht uneingeschränkt hätte nachgehen können.
a) Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht, hatte sich der Beklagte bereits in erster Instanz die Ausführungen des vom Sozialgericht Koblenz beauftragten gefäßchirurgischen Sachverständigen Dr. S. zu Eigen gemacht, wonach aufgrund der bei der Klägerin gegebenen arteriellen Verschlusskrankheit, ihres Zustands nach mehreren Stentangioplastien und schließlich des Cross-Over-Bypasses eine gravierende Beeinträchtigung ihrer Gehfähigkeit gegeben war, die bereits für sich genommen einen Grad der Behinderung von 70 % rechtfertigen würde. Unter Hinweis auf die Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. im gefäßchirurgischen Gutachten, wonach ausweislich einer MR-Angiographie der Becken- und Beingefäße vom 3. August 2009 ein beidseitiger Verschluss der arteria iliaca interna festgestellt worden sei, hat der Beklagte geltend gemacht, dass es im Zeitraum vom Februar 2007 bis August 2009 zu einer raschen Progredienz der radiogeninduzierten und durch Nikotinkonsum verstärkten Gefäßschädigung gekommen sei und deshalb mit einer weiteren Zunahme der diesbezüglichen Behinderung zu rechnen gewesen wäre.
b) Diese Behauptungen sind erheblich.
aa) Soweit der Erwerbsschaden und die vermehrten Bedürfnisse des Geschädigten infolge einer bereits vorhandenen Erkrankung oder Disposition auch ohne das schadenstiftende Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz oder teilweise eingetreten wären, ist der Schaden dem Schädiger nicht zuzurechnen (vgl. Senatsurteile vom 5. Februar 1965 - VI ZR 239/63, VersR 1965, 491; vom 23. Oktober 1984 - VI ZR 24/83, VersR 1985, 60 Rn. 12). Rechtlich handelt es sich darum, dass bei Vorhandensein einer Schadensanlage, die zum gleichen Schaden geführt hätte (sogenannte Reserveursache), die Schadensersatzpflicht auf die Nachteile beschränkt ist, die durch den früheren Schadenseintritt bedingt sind (Senatsurteil vom 23. Oktober 1984 - VI ZR 24/83, VersR 1985, 60 Rn. 12). Allerdings kann ein solcher Umstand zu Ungunsten des Geschädigten nur dann Beachtung finden, wenn der Schädiger zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen hat, dass er tatsächlich eingetreten wäre (Senatsurteil vom 5. Februar 1965 - VI ZR 239/63, VersR 1965, 49; vgl. zur Reserveursache auch Senatsurteil vom 22. März 2016 - VI ZR 467/14, Rn. 14 z.V.b.).
bb) Selbst wenn dies nicht festgestellt werden kann, hat der Tatrichter bei der Ermittlung sowohl der Höhe als auch der Dauer des dem Geschädigten entstandenen Verdienstausfalls eine Prognose des gewöhnlichen Laufs der Dinge, wie sie sich ohne das Schadensereignis entwickelt hätten, anzustellen (§ 252 BGB). Es geht insoweit nicht nur um die Berücksichtigung eventueller überholender Kausalitäten, sondern um die Schadensermittlung als solche auf der Basis des Sachverhalts, wie er sich voraussichtlich in Zukunft dargestellt hätte. In diesem Rahmen kommt nicht nur der Frage Bedeutung zu, ob auch ohne das konkrete Schadensereignis beim Verletzten eine entsprechende gesundheitliche Entwicklung mit vergleichbaren beeinträchtigenden Auswirkungen zum Tragen gekommen wäre; es ist vielmehr auch das Risiko in die Betrachtung miteinzubeziehen, das durch die bereits vorhandene Erkrankung für die künftige berufliche Situation des Geschädigten bestanden hat (vgl. BGH, Urteil vom 11. November 1997 - VI ZR 376/96, BGHZ 137, 142 Rn. 27 ff.). Dementsprechend ist eine Verdienstausfallrente auf die voraussichtliche Dauer der Erwerbstätigkeit des Geschädigten, wie sie sich ohne das haftungsbegründende Ereignis gestaltet hätte, zu begrenzen; hierbei sind Anhaltspunkte für eine vom gesetzlich vorgesehenen Normalfall abweichende voraussichtliche Entwicklung zu berücksichtigen (vgl. Senatsurteil vom 27. Juni 1995 - VI ZR 165/94, VersR 1995, 1321 Rn. 8).
c) Mit dem unter diesen rechtlichen Gesichtspunkten erheblichen Vorbringen des Beklagten hat sich das Berufungsgericht unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht befasst. Sollte es die unterlassene Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen darauf stützen wollen, der Beklagte sei mit den Einwendungen gegen die erstinstanzliche Begutachtung auf S. 24-36 der Berufungsbegründung gemäß den §§ 529, 531 ZPO prozessual ausgeschlossen, hätte es die Voraussetzungen der Präklusionsvorschrift des § 531 ZPO offenkundig rechtsfehlerhaft - und damit unter Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör (vgl. BVerfGE 69, 145, 149; BVerfG, Beschluss vom 26. Oktober 1999 - 2 BvR 1292/96, NJW 2000, 945) - bejaht. Es hätte die Einwendungen des Beklagten rechtsfehlerhaft als neu im Sinne des § 531 ZPO qualifiziert. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht geltend macht, hätte es übersehen, dass der Beklagte diese Einwände bereits in seinen Schriftsätzen vom 11. Juni 2014, 17. Juni 2014 und 22. August 2014 vorgebracht hatte. Dies gilt insbesondere für seinen Vortrag, wonach ein MR-angiografischer Befundbericht vom 2. Februar 2007 eine im Vergleich zur Untersuchung vom 22. Oktober 2006 eingetretene dramatische Befundverschlechterung mit einem 3 cm langen Verschluss der arteria femoralis communis rechts, langstreckigen, zunehmenden höhergradigen Stenosen der arteria iliaca externa proximal sowie im Bereich der distalen iliaca externa/Übergang zur femoralis communis beschreibe, diese Dynamik eine rasche Progredienz der radiogeninduzierten und durch Nikotinkonsum verstärkten Gefäßschädigung zeige und deshalb mit einer weiteren Zunahme der diesbezüglichen Behinderung zu rechnen gewesen wäre.
d) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin und bei der dementsprechend gebotenen Ergänzung der Beweisaufnahme unter Berücksichtigung aller Umstände des gesamten Falles zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre.
III.
Bei der neuen Verhandlung wird das Berufungsgericht Gelegenheit haben, sich auch mit den weiteren Einwänden der Nichtzulassungsbeschwerde in der Beschwerdebegründung zu befassen und auf die weitere Aufklärung des Sachverhalts hinzuwirken. Es wird dabei insbesondere zu berücksichtigen haben, dass sich der Tatrichter bei der Beantwortung medizinischer Fragen auf das Gutachten eines Sachverständigen aus dem betroffenen medizinischen Fachgebiet zu stützen hat und bei der Auswahl des Sachverständigen auf die Sachkunde in dem medizinischen Fachgebiet abzustellen ist, in das die zu beurteilende medizinische Frage fällt. Soweit diese mehrere Fachbereiche berührt, kommt es darauf an, welchem Fachbereich die konkrete Beweisfrage zuzuordnen ist (vgl. Senatsurteile vom 18. November 2008 - VI ZR 198/07, Rn. 18 f.; vom 15. April 2014 - VI ZR 382/12, VersR 2014, 879 Rn. 13, jeweils mwN).
Galke von Pentz Offenloch
Roloff Müller