Entscheidungsdatum: 30.11.2010
Gibt der medizinische Sachverständige in seinen mündlichen Ausführungen neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten ab, so ist den Parteien unter dem Blickpunkt des rechtlichen Gehörs Gelegenheit zu geben, hierzu Stellung zu nehmen. Dabei sind auch Ausführungen in einem nicht nachgelassenen Schriftsatz zur Kenntnis zu nehmen und die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen, sofern die Ausführungen Anlass zu weiterer tatsächlicher Aufklärung geben .
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 1 wird das Grund- und Teilurteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Braunschweig vom 18. Dezember 2008 aufgehoben, soweit zum Nachteil der beklagten zu 1 erkannt worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beklagten zu 2, die diese zu tragen hat, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Gegenstandswert: 259.645,94 €
Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten zu 1 hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Das Berufungsgericht hat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
1. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht zu der Annahme gelangt, die Mutter der Klägerin sei grob fehlerhaft in Steinschnittlage operiert worden.
a) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Ausführungen der Beklagten zu 1 im Schriftsatz vom 8. Dezember 2008 nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt und rechtsfehlerhaft von einer Klärung der Frage abgesehen hat, ob die Mutter der Klägerin vor Durchführung der Notsectio, wie die Beklagte zu 1 geltend macht, umgelagert worden ist. Die Nichtzulassungsbeschwerde weist mit Recht darauf hin, dass bis zur letzten mündlichen Verhandlung des sich über mehr als fünf Jahre erstreckenden Rechtsstreits, in dem fünf Sachverständige angehört und acht Zeugen vernommen worden sind, von einer fehlerhaften Lagerung der Mutter der Klägerin während der Durchführung der Notsectio nie die Rede war. Weder der gerichtliche Sachverständige Prof. J. noch die Schlichtungsgutachter Prof. W. und Prof. V. noch der Privatsachverständige Prof. P. haben aus der vorliegenden Dokumentation auf eine fehlerhafte Operation in Steinschnittlage geschlossen. Auch der gerichtliche Sachverständige Prof. F. ist anhand der vorliegenden Dokumentation noch in seinem schriftlichen Gutachten vom 26. Januar 2007 von einer Umlagerung zur notfallmäßigen Kaiserschnittgeburt ausgegangen.
Erst in der letzten mündlichen Verhandlung vom 30. Oktober 2008, die sich über fast vier Stunden erstreckte und in der zwei Sachverständige zu sieben - teilweise noch in a) und b) aufgespalteten - Fragenkomplexen angehört wurden, brachte der gerichtliche Sachverständige Prof. F. erstmals einen Lagerungsfehler ins Spiel. Wollte das Berufungsgericht seine Entscheidung auf diesen neuen Gesichtspunkt stützen, dann durfte es nicht, wie geschehen, diese Ausführungen ohne weiteres als bewiesen ansehen. Vielmehr hätte es, wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht rügt, die Beklagte zu 1 nach § 139 ZPO auf diesen neuen Gesichtspunkt hinweisen und ihr Gelegenheit zur Stellungnahme und Ergänzung ihres tatsächlichen Vorbringens einschließlich der Bezeichnung von Beweismitteln geben müssen (vgl. Senatsurteil vom 29. November 1988 - VI ZR 4/88, AHRS 6180/31).
Es hätte jedenfalls die mündliche Verhandlung wiedereröffnen müssen, nachdem die Beklagte zu 1 im nachgereichten Schriftsatz vom 8. Dezember 2008 die vom Sachverständigen seiner Bewertung zugrunde gelegte Lagerung der Kindsmutter (Steinschnittlage) bestritten und unter Berufung auf Zeugenbeweis behauptet hatte, sie sei während der Operation umgelagert worden. Denn nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats ist unter dem Blickpunkt des rechtlichen Gehörs auch der Behandlungsseite Gelegenheit zu geben, nochmals Stellung zu nehmen, wenn der medizinische Sachverständige in seinen mündlichen Ausführungen neue und ausführlichere Beurteilungen gegenüber dem bisherigen Gutachten abgegeben hat (vgl. Senatsurteil vom 13. Februar 2001 - VI ZR 272/99, VersR 2001, 722, 723 m.w.N.). Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts durfte dieses nicht deshalb von einer Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung absehen, weil die Beklagte zu 1 ihre entsprechende Behauptung nur spekulativ ins Blaue hinein aufgestellt und mit unzureichendem Beweisantritt "NN" versehen hatte. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht beanstandet, hatte die Beklagte zu 1 eine Umlagerung der Mutter der Klägerin konkret behauptet und nicht nur spekulativ in den Raum gestellt. Die Annahme einer willkürlich ins Blaue hinein aufgestellten Behauptung verbietet sich aber auch deshalb, weil der gerichtliche Sachverständige selbst - anders als in der letzten mündlichen Verhandlung - noch in seinem schriftlichen Gutachten vom 26. Januar 2007 von einer Umlagerung der Mutter der Klägerin zur Durchführung der Sectio ausgegangen ist. Diesen Widerspruch in den Ausführungen des Sachverständigen hätte das Berufungsgericht von Amts wegen erkennen und schon bei der Würdigung des Vortrags der Beklagten zu 1 berücksichtigen müssen. Dies gilt umso mehr, als die von der Beklagten zu 1 behauptete Umlagerung zur Durchführung der Sectio im Operationsbericht vom 28. Juni 1995 ausdrücklich dokumentiert und in einem Kurzbericht der Beklagten zu 1 an einen niedergelassenen Arzt vom 29. Juni 1995 erwähnt ist. Auch diesen Umstand hätte das Berufungsgericht, das aus der vermeintlich unvollständigen ärztlichen Dokumentation Beweiserleichterungen für die Klägerin abgeleitet hat, von Amts wegen berücksichtigen müssen.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hatte die Beklagte zu 1 die von ihr benannten Zeugen unter den Umständen des Streitfalles auch hinreichend individualisiert. Denn sie hatte sich im Rahmen ihres Beweisangebots nicht auf die Bezeichnung "N.N." beschränkt, sondern sich auf die bei der Operation anwesenden Anästhesisten und Gynäkologen berufen. Von diesem Beweisangebot waren zumindest die vom Berufungsgericht in der mündlichen Verhandlung vom 14. Februar 2006 zu den Vorgängen anlässlich der Geburt der Klägerin vernommenen Gynäkologen Fr., M., L. sowie die Anästhesistin S. erfasst. Jedenfalls waren diese Zeugen individualisierbar, so dass das Berufungsgericht gemäß § 356 ZPO eine Frist zur Beibringung der Namen und Anschriften der Zeugen hätte setzen müssen und erst nach einem fruchtlosen Ablauf dieser Frist von einer Erhebung des Beweises hätte absehen dürfen (vgl. Senatsurteil vom 5. Mai 1998 - VI ZR 24/97, NJW 1998, 2368 f. m.w.N.).
b) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten zu 1 im Schriftsatz vom 8. Dezember 2008 die Lagerung der Mutter der Klägerin während der Operation nicht als fehlerhaft angesehen hätte.
2. Unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG ist das Berufungsgericht auch zu der Ansicht gelangt, die Ärzte der Beklagten zu 1 hätten bei der Abnabelung der Klägerin grob fehlerhaft deren Nabelschnur verletzt.
a) Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Erfolg, dass das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung die für die Beklagte zu 1 günstigen Angaben der vom Berufungsgericht angehörten Sachverständigen Prof. J. (gerichtlicher Sachverständige), Prof. V. (Schlichtungsgutachter) und Prof. P. (Privatgutachter) sowie die für die Beklagte zu 1 günstigen Aussagen der Zeugen Dr. B., Dr. Mö. und Dr. Fr. übergangen und in keiner Weise auf die Aufklärung des zwischen den Angaben der Sachverständigen Prof. J., V. und P. und den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. F. bestehenden Widerspruchs hinsichtlich der Frage hingewirkt hat, ob die fehlerhafte Handhabung der Nabelklemme als grob fehlerhaft zu bewerten ist. Der Privatsachverständige Prof. P. gab im Rahmen seiner Anhörung vor dem Berufungsgericht am 28. April 2005 an, dass eine Verletzung der Nabelschnur bei der Abnabelung passieren könne; dies sei kein Indiz für eine Sorgfaltspflichtverletzung. Der Schlichtungsgutachter Prof. V. hat sich dieser Beurteilung ausdrücklich angeschlossen. Auch der erste gerichtliche Sachverständige Prof. J. führte in seinem schriftlichen Gutachten vom 28. Januar 2003 aus, dass eine Verletzung der Nabelschnur beim Aufsetzen der Nabelklemmen nicht in jedem Fall vermeidbar sei. Es könne auch vorkommen, dass die Nabelklemmen, ohne dass dem ein grober Sorgfaltspflichtverstoß zugrunde liege, nicht bis zum Einrasten zusammengedrückt würden. Von dieser Beurteilung ist er in der mündlichen Verhandlung vom 28. April 2005 nicht abgerückt. Auch die sachverständigen Zeugen Dr. B., der als Neonatologe mit der Erstversorgung der Klägerin befasst war, und Dr. Mö., der die Klägerin abgenabelt hat, gaben an, dass es durchaus vorkomme, dass Nabelklemmen nicht erfolgreich gesetzt würden. So bekundete der Zeuge Dr. B., dass Kinderärzte sich oft mit den Nabelklemmen zu befassen und auch erneut Nabelklemmen zu setzen hätten. Deshalb wisse er, dass es durchaus schwierig sei, eine solche Nabelklemme bis zum Klicken anzubringen. Nicht selten geschehe es, dass man das im letzten Augenblick nicht schaffe. Der Zeuge Dr. Mö. gab an, dass auch er schon einmal beim Setzen einer Nabelklemme zunächst gescheitert sei. Der nach Platzen der Fruchtblase zur Sectio hinzugezogene Chefarzt Dr. F. gab an, dass die Nabelschnur beim Setzen der Klemme "sehr glibberig" sei und verrutschen könne. Diese Angaben der genannten Sachverständigen und sachverständigen Zeugen durfte das Berufungsgericht bei seiner Entscheidungsfindung nicht außer Betracht lassen. Sie standen in klarem Widerspruch zu den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. F., wonach eine Verletzung der Nabelschnur ein extrem seltenes Ereignis sei, das nur durch ein grob fehlerhaftes Handeln verursacht werden könne. Das Berufungsgericht hat sowohl den allgemeinen Grundsatz übersehen, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden, ihr günstigen Umstände regelmäßig zumindest hilfsweise zu Eigen macht (vgl. Senatsurteile vom 8. Januar 1991 - VI ZR 102/90, VersR 1991, 467, 468 und vom 3. April 2001 - VI ZR 203/00, VersR 2001, 1174; Senatsbeschluss vom 10. November 2009 - VI ZR 325/08, VersR 2010, 497), als auch gegen seine Verpflichtung verstoßen, den ihm zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt auszuschöpfen und sämtlichen Unklarheiten, Zweifeln oder Widersprüchen von Amts wegen nachzugehen (vgl. Senatsurteile vom 23. März 2004 - VI ZR 428/02, VersR 2004, 790; vom 8. Juli 2008 - VI ZR 259/06, VersR 2008, 1265, jeweils m.w.N.). Dem steht nicht entgegen, dass der Privatsachverständige Prof. P. und der Schlichtungsgutachter Prof. V. es als in besonders schwerem Maße sorgfaltswidrig angesehen haben, wenn Geburtshelfer eine Blutung aus der Nabelschnur nicht bemerken. Denn hierauf hat das Berufungsgericht seine Entscheidung nicht gestützt. Abgesehen davon hat der gerichtliche Sachverständige Prof. F. diese Einschätzung nicht geteilt. Er hat es für verständlich gehalten, wenn ein Geburtshelfer die durch eine Nabelklemmenverletzung verursachte Blutung nicht bemerke, da es hier um Sekundenbruchteile gehe.
Soweit das Berufungsgericht ausführt, es habe sich anhand der von dem Zeugen Dr. F. mitgebrachten Nabelschnurklemme von der einfachen Funktionsweise überzeugen können, eine fehlerhafte Bedienung erfordere schon ein außergewöhnliches Maß an Unaufmerksamkeit oder motorischer Fehlhandhabung, nimmt es in unzulässiger Weise eine Sachkunde in Anspruch, die es nicht ausgewiesen hat und für die es keine Anhaltspunkte gibt. Das Betätigen einer Nabelschnurklemme im Rahmen einer "Trockenübung" im Gerichtssaal kann nicht mit der Abnabelung eines möglichst schnell in die Behandlung eines Neonatologen zu überführenden Frühgeborenen im Operationssaal gleichgesetzt werden.
b) Die Gehörsverletzung ist auch entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht bei der gebotenen Berücksichtigung des Beweisergebnisses das Verhalten der für die Beklagte zu 1 handelnden Ärzte nicht als grob fehlerhaft angesehen hätte.
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