Entscheidungsdatum: 29.11.2016
Über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darf das Gericht nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden. Eine vorzeitige Entscheidung kann den Anspruch des Antragstellers auf rechtliches Gehör verletzen und die Zulassung der Rechtsbeschwerde begründen (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011, V ZB 310/10, NJW 2011, 1363).
Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 12. Mai 2015 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 39.500 €.
I.
Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Einstandspflicht wegen angeblicher Behandlungsfehler gerichtete Klage mit Urteil vom 11. Februar 2015 weit überwiegend abgewiesen. Das Urteil ist der erstinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Klägers am 13. Februar 2015 zugestellt worden. Am 12. März 2015 hat der nunmehr mandatierte Prozessbevollmächtigte des Klägers Berufung eingelegt. Mit Verfügung vom 20. April 2015, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 22. April 2015 zugegangen, hat das Berufungsgericht auf die beabsichtigte Verwerfung der Berufung wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hingewiesen. Am 29. April 2015 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers einen Antrag auf Wiedereinsetzung übersandt und die Berufung begründet. Er hat vorgetragen, vom 22. bis 28. April 2015 urlaubsbedingt abwesend gewesen zu sein. Die Fristversäumung beruhe auf dem Versehen seiner zuverlässigen und ansonsten beanstandungsfrei arbeitenden Rechtsanwaltsfachangestellten Frau W., die die Berufungsbegründungsfrist nicht in den Fristenkalender eingetragen habe. Dem Wiedereinsetzungsantrag ist eine entsprechende eidesstattliche Versicherung der Frau W. beigefügt gewesen.
Das Berufungsgericht hat mit Beschluss vom 12. Mai 2015 den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unbegründet sei. Der Kläger habe bereits nicht schlüssig dargelegt, dass er ohne ihm zuzurechnendes Verschulden seines Prozessbevollmächtigten gehindert gewesen sei, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten.
Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger mit der vorliegenden Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Indem das Berufungsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen hat, hat es den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verpflichtet Art. 103 Abs. 1 GG das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme und Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben. In diesem Sinne gebietet Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung jedes Schriftsatzes, der innerhalb einer gesetzlichen oder richterlich bestimmten Frist bei Gericht eingeht (BVerfGE 53, 219, 222; vgl. auch Zöller/Greger, ZPO, 31. Aufl., Vor § 128 Rn. 6 jeweils mwN). Danach darf das Gericht über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor Ablauf der Wiedereinsetzungsfrist entscheiden; dabei ist unerheblich, ob es die Sache für entscheidungsreif hält, weil der Antragssteller innerhalb der Frist zu den Wiedereinsetzungsgründen ergänzend vortragen kann und darf (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Februar 2011 - V ZB 310/10, NJW 2011, 1363 Rn. 4).
2. Gegen diese Grundsätze hat das Berufungsgericht verstoßen. Das Berufungsgericht hat sich in zivilprozessual unzulässiger Weise der Möglichkeit begeben, Vortrag zur Kenntnis zu nehmen und zu würdigen, da es vor Fristablauf einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beschieden hat. Die Frist zur Beantragung der Wiedereinsetzung beträgt nach § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhalten. Sie beginnt mit dem Tag, an dem das Hindernis behoben ist (§ 234 Abs. 2 ZPO). Dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ist die Verfügung des Berufungsgerichts am 22. April 2015 zugestellt worden. Selbst wenn man für dessen Kenntnis von der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als Zeitpunkt der Behebung des Hindernisses auf dieses Datum abstellt, war am 12. Mai 2015 die Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO noch nicht abgelaufen. Die Bescheidung des Wiedereinsetzungsantrags war mithin verfrüht. Dabei kann dahinstehen, ob - wie von der Beschwerde vorgetragen - eine gerichtliche Hinweispflicht bestand, den Kläger auf seinen für unzureichend erachteten Vortrag hinzuweisen (vgl. zur Reichweite der Hinweispflichten bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etwa Senatsbeschluss vom 16. August 2016 - VI ZB 19/16, VersR 2016, 1463 Rn. 7 ff.; BGH, Beschlüsse vom 3. April 2008 - I ZB 73/07, GRUR 2008, 837; und vom 10. März 2011 - VII ZB 28/10, NJW-RR 2011, 790).
Der Verstoß war entscheidungserheblich, denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger seinen Vortrag zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags bis zum Fristablauf hinreichend ergänzt hätte.
3. Danach kann der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben. Die Sache ist gemäß § 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO zur erneuten Entscheidung unter Berücksichtigung des weiteren Vorbringens des Klägers im Rechtsbeschwerdeverfahren an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
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