Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 11.02.2010


BFH 11.02.2010 - VI R 61/08

(Zwangsläufigkeit von Aufwendungen für behindertes Kind bei Unzumutbarkeit des Einsatzes eigenen Vermögens - Maßvolle Vermögensbildung zur Altersvorsorge - Keine Anwendung des § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG im Rahmen von § 33 EStG - Zusätzlicher Abzug nach § 33 EStG bei Übertragung des Behinderten-Pauschbetrags)


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsdatum:
11.02.2010
Aktenzeichen:
VI R 61/08
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht, 22. Mai 2008, Az: 1 K 50225/04, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. Unterhaltsaufwendungen sind nur dann zwangsläufig, wenn die unterhaltene Person außerstande ist, sich selbst zu unterhalten. Grundsätzlich ist das volljährige Kind verpflichtet, seinen Vermögensstamm im Rahmen des Zumutbaren zu verwerten, bevor es seine Eltern auf Unterhalt in Anspruch nimmt .

2. Ein schwerbehindertes Kind, das angesichts der Schwere und der Dauer seiner Erkrankung seinen Grundbedarf und behinderungsbedingten Mehrbedarf nicht selbst zu decken in der Lage ist, darf zur Altersvorsorge maßvoll Vermögen bilden (Anschluss an BFH-Urteil vom 30. Oktober 2008 III R 97/06, BFH/NV 2009, 728) .

3. Die das eigene Vermögen des Unterhaltsempfängers betreffende Bestimmung des § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG kommt im Rahmen des § 33 EStG nicht eigens zur Anwendung .

4. Im Fall der Übertragung des Behinderten-Pauschbetrags kann der Steuerpflichtige Aufwendungen für sein behindertes Kind gemäß § 33 EStG zusätzlich abziehen .

Tatbestand

1

I. Die zusammen zur Einkommensteuer veranlagte Klägerin und Revisionsklägerin und der inzwischen verstorbene Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielten im Streitjahr (1998) Einkünfte aus Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit. Der Gesamtbetrag der Einkünfte belief sich auf 663.618 DM. Die 1975 geborene Tochter A leidet an Down-Syndrom. Ihr Schwerbehindertenausweis ist mit dem Merkmal "H" gekennzeichnet. A war im Streitjahr in einer sozialtherapeutischen Hofgemeinschaft untergebracht und ging in einer angeschlossenen Behindertenwerkstatt einer Tätigkeit nach. Sie wurde im Streitjahr bei den Klägern gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) berücksichtigt.

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A ist Eigentümerin eines ihr 1993 vom Großvater geschenkten Mehrfamilienhauses in B. Sie erzielte im Streitjahr aus der Vermietung dieses Objekts negative Einkünfte in Höhe von 10.486 DM.

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Die Kläger machten im Streitjahr Aufwendungen für die Unterbringung und den Werkstattbesuch ihrer Tochter als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG geltend. Sie bezifferten die Kosten nach Abzug von vereinnahmtem Pflegegeld und Verpflegungsaufwendungen auf 77.114 DM. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte die Aufwendungen nicht. Das FA ließ jedoch den Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 3 EStG) und den Pflege-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 6 EStG) zum Abzug zu.

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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Entscheidungen der Finanzgerichte 2008, 1710). Es führte u.a. aus, dass Aufwendungen von Eltern erwachsener behinderter Menschen in vollstationärer Heimunterbringung grundsätzlich eine außergewöhnliche Belastung seien. Im Streitfall bestehe jedoch die Besonderheit, dass A über ein nicht unerhebliches Vermögen --ein Mehrfamilienhaus-- verfüge. Deshalb komme eine steuerliche Berücksichtigung der Aufwendungen nicht in Betracht. Dies sei in § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG ausdrücklich normiert, gelte aber auch in den Fällen des § 33 EStG.

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Die Kläger beantragen sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid dahingehend zu ändern, dass 77.114 DM, hilfsweise 73.176 DM, als außergewöhnliche Belastungen abgezogen werden.

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Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision der Kläger ist begründet; das angefochtene Urteil wird aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat die Unterstützungsleistungen der Kläger für ihre Tochter zu Unrecht vom Abzug als außergewöhnliche Belastungen ausgeschlossen.

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1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen (außergewöhnliche Belastungen). Aufwendungen sind außergewöhnlich, wenn sie nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen liegen. Aufwendungen erwachsen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit sie den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 EStG).

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2. Im Streitfall sind den Klägern die Aufwendungen für die Heimunterbringung der Tochter aus rechtlichen Gründen zwangsläufig erwachsen.

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a) Die Kläger hatten ihrer Tochter angemessenen Unterhalt zu leisten (§§ 1601, 1610 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs i.d.F. des Streitjahres --BGB--). Ihr von den Klägern aufzubringender Lebensbedarf umfasste auch den behinderungsbedingten Mehrbedarf (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 30. Oktober 2008 III R 97/06, BFH/NV 2009, 728, m.w.N; s. auch BFH-Urteil vom 23. Mai 2002 III R 24/01, BFHE 199, 296, BStBl II 2002, 567).

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b) Unterhaltsaufwendungen sind nur dann zwangsläufig, wenn die unterhaltene Person außerstande ist, sich selbst zu unterhalten (§ 1602 Abs. 1 BGB; BFH-Urteil vom 14. August 1997 III R 68/96, BFHE 184, 315, BStBl II 1998, 241). Diese Voraussetzung ist im Streitfall gegeben. A war im Streitfall nicht verpflichtet, den Stamm ihres Vermögens einzusetzen.

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Ein volljähriges Kind ist grundsätzlich verpflichtet, vorrangig seinen Vermögensstamm zu verwerten, bevor es seine Eltern auf Unterhalt in Anspruch nimmt. Dies folgt im Umkehrschluss aus § 1602 Abs. 2 BGB. Der Grundsatz kommt jedoch nicht zur Anwendung, wenn die Vermögensverwertung im Einzelfall unzumutbar ist. Inwieweit das Vermögen einzusetzen ist, muss daher jeweils aufgrund einer Zumutbarkeitsabwägung unter Berücksichtigung aller bedeutsamen Umstände und insbesondere auch der Lage der Unterhaltsverpflichteten entschieden werden (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 5. November 1997 XII ZR 20/96, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1998, 978; Urteil des Oberlandesgerichts --OLG-- Hamm vom 11. August 2006  11 UF 25/06, NJW 2007, 1217; BFH-Urteil in BFH/NV 2009, 728; MünchKommBGB/ Born, 5. Aufl., § 1602 Rz 58). Nach diesen Grundsätzen dürfen schwerbehinderte volljährige Kinder, die ihren angemessenen Bedarf nicht selbst decken können und bei denen ungewiss ist, ob ihr Unterhaltsbedarf im Alter durch Unterhaltsleistungen der Eltern gedeckt werden kann, maßvoll Vermögen bilden; eine als Altersvorsorge dienende vermietete Eigentumswohnung braucht deshalb nicht vor der Inanspruchnahme elterlichen Unterhalts verwertet zu werden (Urteil des OLG Karlsruhe vom 10. November 1999  2 UF 229/98, Zeitschrift für das Familienrecht 2001, 47).

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Nach diesen Grundsätzen konnte auch der schwerbehinderten Tochter der Kläger die Veräußerung des Grundstücks nicht zugemutet werden, da sie hierauf zur Altersvorsorge und zur Abdeckung ihres weiteren lebenslangen behinderungsbedingten Mehrbedarfs angewiesen war (s. BFH-Urteil in BFH/NV 2009, 728). Da ungewiss ist, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang A mit zunehmendem Alter ihren Grundbedarf und vor allem den behinderungsbedingten Mehrbedarf durch Unterhaltsleistungen der Kläger wird decken können, war eine Altersvorsorge zu treffen. Diese Vorsorge ist angesichts der Schwere und der Dauer der Krankheit maßvoll ausgefallen. Mit den Vermögenserträgnissen kann der durch die Behinderung bedingte Bedarf im Alter wenigstens teilweise gedeckt werden. Da andererseits nach den Feststellungen des FG wegen des außerordentlich hohen Unterhaltsbedarfs der A bei Verwertung des Grundstücks "der Veräußerungserlös schnell verbraucht wäre", wäre es unbillig, von A zu verlangen, den Stamm ihres Vermögens anzugreifen.

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c) Entgegen der Auffassung der Vorinstanz kommt die das eigene Vermögen des Unterhaltsempfängers betreffende Bestimmung des § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG im Rahmen des § 33 EStG nicht ergänzend zur Anwendung. § 33a EStG stellt gegenüber der allgemeinen Regelung des § 33 EStG eine Sondervorschrift dar. Das bedeutet auch, dass die in § 33a EStG enthaltenen Sonderbestimmungen nicht auf die Generalklausel des § 33 EStG ausgedehnt werden dürfen (Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach --HHR--, § 33a EStG Rz 10).

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3. Die Vorentscheidung beruht auf einer anderen Rechtsauffassung und ist daher aufzuheben. Der Senat kann jedoch nicht durcherkennen, da die Sache nicht spruchreif ist. Von seinem Standpunkt aus zu Recht hat das FG keine Feststellungen zur Höhe der nach § 33 EStG abziehbaren Aufwendungen gemacht. Zum Verhältnis dieser Aufwendungen zum Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 3 EStG) wird darauf hingewiesen, dass im Fall der Übertragung dieses Pauschbetrags (§ 33b Abs. 5 EStG) der Steuerpflichtige Aufwendungen für sein behindertes Kind zusätzlich abziehen kann, weil der Pauschbetrag nur Aufwendungen des Kindes abgilt (HHR/Kanzler, § 33b EStG Rz 80). Im Übrigen wird § 33 Abs. 3 EStG zu beachten sein.