Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 29.03.2012


BFH 29.03.2012 - VI R 47/10

Aufwendungen für die Asbestsanierung des Daches eines Wohnhauses als außergewöhnliche Belastung


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
6. Senat
Entscheidungsdatum:
29.03.2012
Aktenzeichen:
VI R 47/10
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 12. November 2009, Az: 6 K 2314/07, Urteil
Zitierte Gesetze
§§ 485ff ZPO
§ 52 Abs 2 S 1 Nr 3 GefStoffV

Leitsätze

1. Die tatsächliche Zwangsläufigkeit von Aufwendungen für Sanierungsarbeiten an Asbestprodukten ist nicht anhand der abstrakten Gefährlichkeit von Asbestfasern zu beurteilen; erforderlich sind zumindest konkret zu befürchtende Gesundheitsgefährdungen.

2. Sind die von einem Gegenstand des existenznotwendigen Bedarfs ausgehenden konkreten Gesundheitsgefährdungen auf einen Dritten zurückzuführen und unterlässt der Steuerpflichtige die Durchsetzung realisierbarer zivilrechtlicher Abwehransprüche, sind die Aufwendungen zur Beseitigung konkreter Gesundheitsgefährdungen nicht abziehbar.

3. Bei der Beseitigung konkreter von einem Gegenstand des existenznotwendigen Bedarfs ausgehender Gesundheitsgefahren ist ein vor Durchführung dieser Maßnahmen erstelltes amtliches technisches Gutachten nicht erforderlich. Gleichwohl hat der Steuerpflichtige nachzuweisen, dass er sich den Aufwendungen aus tatsächlichen Gründen nicht entziehen konnte.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob Kosten einer Asbestsanierung auch ohne Einholung eines Gutachtens über gesundheitliche Gefahren als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen sind.

2

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) bewohnt ein im Jahr 1976 errichtetes Reihenhaus. Das Dach besteht aus Asbestzement-Wellplatten, die überlappend von Haus zu Haus gelegt sind. Nachdem sich die Nachbarn der Klägerin zum Austausch der Asbestzement-Wellplatten entschieden haben, wurde im Streitjahr 2005 auch das Dach des der Klägerin gehörenden Reihenhauses durch eine Eindeckung mit Ziegeln ersetzt.

3

Die Klägerin machte die von ihr im Kalenderjahr 2005 gezahlten Aufwendungen im Rahmen ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2005 als außergewöhnliche Belastung geltend. Die Sanierung sei unabwendbar gewesen, da das Dach Korrosionserscheinungen aufgewiesen hätte. Überdies hätten die Asbestzement-Wellplatten zerschnitten werden müssen, wenn die Klägerin keine Sanierung hätte durchführen lassen. Eine Gesundheitsgefährdung sei durch die damit verbundene Freisetzung von Asbest unausweichlich gewesen. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) lehnte eine entsprechende Berücksichtigung ab. Der Einspruch blieb erfolglos.

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Das Finanzgericht (FG) erkannte die Aufwendungen mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 33 veröffentlichten Gründen als außergewöhnliche Belastungen an.

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Mit seiner Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts.

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Das FA beantragt,

das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

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1. Nach § 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Mehraufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen. Aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen sind dagegen die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 11. November 2010 VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969, m.w.N.).

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a) Gehen von einem Gegenstand des existenznotwendigen Bedarfs konkrete Gesundheitsgefährdungen aus, entstehen die Aufwendungen zur Beseitigung dieser Gefährdung dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG) und sind deshalb grundsätzlich als außergewöhnliche Belastung abziehbar (BFH-Urteile vom 9. August 2001 III R 6/01, BFHE 196, 492, BStBl II 2002, 240, Aufwendungen für die Asbestsanierung der Außenfassade eines Wohnhauses; vom 23. Mai 2002 III R 52/99, BFHE 199, 287, BStBl II 2002, 592, Aufwendungen für den Austausch mit Formaldehyd verseuchter Möbel, und vom 11. November 2010 VI R 16/09, BFHE 232, 34, BStBl II 2011, 966, Aufwendungen für die medizinisch indizierte Anschaffung von Schlafzimmermöbeln und einer Couchgarnitur; zu den Aufwendungen zur Schadstoffbeseitigung vgl. auch Hettler, Der Betrieb --DB-- 2002, 1848).

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b) Die tatsächliche Zwangsläufigkeit von Aufwendungen zur Beseitigung von Asbest ist nach der Rechtsprechung des BFH nicht anhand der abstrakten Gefährlichkeit von Asbestfasern zu beurteilen; erforderlich sind zumindest konkret zu befürchtende Gesundheitsgefährdungen. Denn die Notwendigkeit einer Asbestsanierung hängt wesentlich von der verwendeten Asbestart und den baulichen Gegebenheiten ab. So haben Asbestzementprodukte einen vergleichsweise hohen Anteil an mineralischen Bindemitteln, weshalb die Asbestfasern relativ fest gebunden sind. Bei schwach gebundenen Asbestprodukten wie Spritzasbest ist die Gefahr einer Freisetzung aufgrund äußerer Einflüsse wie Erschütterungen und Alterung der Produkte hingegen höher (BFH-Urteil in BFHE 196, 492, BStBl II 2002, 240; vgl. dazu auch Hettler, DB 2002, 1848, 1849). Hieran hält der erkennende Senat fest.

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Darüber hinaus ist bei Sanierungsarbeiten an Asbestprodukten die gesundheitsschädliche Freisetzung von Asbestfasern nicht unvermeidlich. Dies zeigen die Technischen Regeln für Gefahrstoffe 519-Asbest: Abbruch-, Sanierungs- oder Instandhaltungsarbeiten vom 1. August 2001 (BArbBl 2001, Nr. 9, 64, berichtigt durch Bekanntmachung vom 8. März 2007, GMBl 2007, 398 --TRGS 519-Asbest--), die zum Schutz der Beschäftigten und anderer Personen bei Tätigkeiten mit Asbest und asbesthaltigen Gefahrstoffen bei Abbruch-, Sanierungs- oder Instandhaltungsarbeiten gelten. Nach Nr. 7.1 Abs. 1 TRGS 519-Asbest ist bei Sanierungsarbeiten das Arbeitsverfahren so zu gestalten, dass Asbestfasern nicht frei werden und die Ausbreitung von Asbeststaub verhindert wird, soweit dies nach dem Stand der Technik möglich ist. Kann das Freiwerden von Asbestfasern nicht unterbunden werden, sind diese nach Nr. 7.1 Abs. 2 TRGS 519-Asbest an der Austritts- oder Entstehungsstelle zu erfassen und anschließend ohne Gefahr für Mensch und Umwelt zu entsorgen. Angesichts dieser Bestimmung erscheint es zumindest nicht ausgeschlossen, dass die Sanierungsmaßnahme an dem Gebäude der Klägerin auch ohne Gesundheitsgefährdung möglich war. Denn die TRGS 519-Asbest sind die gemäß des zum Zeitpunkt ihrer Bekanntmachung geltenden § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 der Gefahrstoffverordnung vom Ausschuss für Gefahrstoffe ermittelten Regeln, die dem Stand von Wissenschaft, Technik und Medizin entsprechen.

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c) Aufwendungen zur Beseitigung konkreter Gesundheitsgefährdungen sind nur dann abziehbar, wenn den Grundstückseigentümer kein Verschulden an der Belastung trifft, die Belastung für ihn zum Zeitpunkt des Grundstückserwerbs nicht erkennbar war und realisierbare Ersatzansprüche gegen Dritte nicht gegeben sind (BFH-Urteile in BFHE 196, 492, BStBl II 2002, 240; vom 20. Dezember 2007 III R 56/04, BFH/NV 2008, 937; jeweils m.w.N.). Ein Verschulden des Grundstückseigentümers kann auch dann anzunehmen sein, wenn die von einem Gegenstand des existenznotwendigen Bedarfs ausgehenden konkreten Gesundheitsgefährdungen auf einen Dritten zurückzuführen sind und er die Durchsetzung realisierbarer zivilrechtlicher Abwehransprüche unterlässt. Denn dadurch hätte sich der Steuerpflichtige den Aufwendungen entziehen können.

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d) Überdies dürfen die streitigen Aufwendungen nicht der Beseitigung von Baumängeln dienen. Baumängel sind keineswegs unüblich und nicht mit ungewöhnlichen Ereignissen wie etwa Hochwasserschäden vergleichbar (BFH-Beschluss vom 11. Februar 2009 VI B 140/08, BFH/NV 2009, 762, m.w.N.). War der Einsatz schadstoffhaltiger Materialien zum Zeitpunkt der Errichtung des Gebäudes erlaubt, liegt jedenfalls für das Jahr der Errichtung des Gebäudes kein Baumangel vor (BFH-Urteil in BFHE 196, 492, BStBl II 2002, 240).

15

e) Bei Aufwendungen zur Beseitigung konkreter von einem Gegenstand des existenznotwendigen Bedarfs ausgehender Gesundheitsgefahren ist ein vor Durchführung dieser Maßnahmen erstelltes amtliches technisches Gutachten nicht erforderlich. Gleichwohl hat der Steuerpflichtige nachzuweisen, dass er sich den Aufwendungen aus tatsächlichen Gründen nicht entziehen konnte. Dies hat der Senat bereits für Krankheitskosten entschieden (BFH-Urteile in BFHE 232, 34, BStBl II 2011, 966; in BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969). Entsprechendes gilt auch für solche Aufwendungen, die durch die Beseitigung konkreter von einem Gegenstand des existenznotwendigen Bedarfs ausgehender Gesundheitsgefahren veranlasst sind. Denn auch insoweit ergeben sich gesteigerte Nachweispflichten nicht aus dem Gesetz und widersprechen dem in § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO geregelten Grundsatz der freien Beweiswürdigung.

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Als Nachweisverpflichteter trägt der Steuerpflichtige das Risiko, dass ein gerichtlich bestellter Sachverständiger im Nachhinein die Zwangsläufigkeit möglicherweise nicht mehr verlässlich feststellen kann. Dieser Gefahr kann der Steuerpflichtige entgehen, wenn er vor Beginn der Behandlung auf eigene Initiative ein amts- oder vertrauensärztliches Zeugnis bzw. ein amtlich technisches Gutachten einholt oder im Rahmen eines selbständigen Beweisverfahrens gemäß § 155 FGO i.V.m. §§ 485 ff. der Zivilprozessordnung die eine tatsächliche Zwangsläufigkeit begründenden Umstände feststellen lässt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969, zur medizinischen Indikation einer Heilbehandlung).

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Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus den durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 vom 1. November 2011 (BGBl I 2011, 2131) geänderten Anforderungen an den Nachweis außergewöhnlicher Belastungen (vgl. BFH-Urteil vom 29. März 2012 VI R 21/11, BFHE).

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2. Die Vorentscheidung beruht auf einer anderen Rechtsauffassung und ist daher aufzuheben. Der Senat kann jedoch nicht durcherkennen, da die Sache nicht spruchreif ist.

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a) Das FG wird im zweiten Rechtsgang zu prüfen haben, ob sich die Klägerin den Aufwendungen für die Sanierung des Daches an ihrem Haus aus tatsächlichen Gründen nicht entziehen konnte. Insoweit ist von Bedeutung, ob der Klägerin durch die Sanierungsarbeiten am angrenzenden Dach nachweislich eine konkrete Gesundheitsgefährdung drohte. Das FG hat schon keine Feststellungen dazu getroffen, ob das im Eigentum der Klägerin stehende Dach tatsächlich hätte zerschnitten werden müssen oder ob andere Formen der Sanierung ebenso möglich gewesen wären (etwa dauerhafte Versiegelung der angrenzenden Platten oder eine überlappende Verlegung). Selbst wenn eine Dachdurchtrennung erforderlich gewesen sein sollte, war die konkrete Gesundheitsgefährdung angesichts der in der TRGS 519-Asbest beschriebenen Schutzmaßnahmen zur Minderung der Gefährdungen nicht unumgänglich.

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Die erforderlichen Feststellungen hat das FG nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) zu treffen. Da weder das FA noch das FG die Sachkunde besitzen, um die Zwangsläufigkeit der den Aufwendungen zugrunde liegenden Maßnahme zu beurteilen, ist das FG aufgrund seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung (§ 76 FGO) gehalten, gegebenenfalls von Amts wegen ein entsprechendes Gutachten einzuholen.

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b) Gleichfalls fehlen Feststellungen dazu, ob der Klägerin wegen der Sanierung und einer daraus folgenden Freisetzung von Asbestfasern nach dem Zivilrecht realisierbare Unterlassungs- bzw. Ersatzansprüche zugestanden haben. Diese stehen dem Abzug von Aufwendungen zur Beseitigung konkreter und von einem Gegenstand des existenznotwendigen Bedarfs ausgehender Gesundheitsgefährdungen entgegen.