Entscheidungsdatum: 02.09.2010
1. Die Aufhebung (Rücknahme, Widerruf) einer dem Arbeitgeber erteilten Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) ist ein Verwaltungsakt i.S. von § 118 Satz 1 AO (Anschluss an Senatsentscheidung vom 30. April 2009 VI R 54/07, BFHE 225, 50) .
2. Die Finanzbehörde kann eine Anrufungsauskunft mit Wirkung für die Zukunft aufheben oder ändern (§ 207 Abs. 2 AO analog) .
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) war zunächst Mitglied der Zusatzversorgungskasse (ZVK) der Stadt X. Mit der Mitgliedschaft verfolgte sie den Zweck, ihren Arbeitnehmern beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis einen zusätzlichen Versorgungsanspruch zu verschaffen. Entsprechend einer am 10. Januar 2001 abgeschlossenen Vereinbarung übernahm die Y Zusatzversorgungskasse Z (YZVK) das Vermögen der ZVK. Die bisherigen Mitglieder der ZVK wurden mit Wirkung ab 1. Januar 2001 Mitglieder der YZVK. Sie hatten an die YZVK zum Ausgleich der mit der Übernahme für die YZVK verbundenen Nachteile eine Ausgleichszahlung zu leisten. Der Nachteilsausgleich belief sich für die Klägerin auf 49 Mio. DM. Der Betrag war ab 2001 in 15 gleichen Raten zu zahlen. Die Klägerin behandelte die Zahlungen des Nachteilsausgleichs als erhöhte Umlage und erhob die Lohnsteuer mit einem Pauschsteuersatz gemäß § 40b des Einkommensteuergesetzes (EStG). Soweit die Zahlungen die Pauschalierungsgrenze überstiegen, unterwarf die Klägerin die entsprechenden Beträge dem Regelbesteuerungsverfahren.
Im Anschluss an die Entscheidung des Senats vom 14. September 2005 VI R 148/98 (BFHE 210, 443, BStBl II 2006, 532) teilte die Klägerin dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) mit Schreiben vom 6. Dezember 2005 mit, dass sie eine "Stornierung der zu Unrecht versteuerten geldwerten Vorteile aus Nachteilsausgleichszahlungen der Jahre 2002 - 2005" beabsichtige. Sie beantragte eine Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) dahingehend, dass die von ihr beabsichtigte Rückabwicklung der zu Unrecht erfolgten Besteuerung der Nachteilsausgleichszahlungen rechtmäßig sei. Dazu teilte sie unter 3. ihres Schreibens ihre Absicht mit, die Versteuerung der Zahlungen im laufenden Kalenderjahr dergestalt rückgängig zu machen, dass die stornierten Beträge als negative Einnahmen vom Arbeitslohn abgesetzt würden. Die in den Veranlagungszeiträumen 2002 bis 2004 zu Unrecht der Lohnsteuer unterworfenen Beträge sollten in den Veranlagungszeiträumen 2005 und 2006 als negative Einnahmen behandelt werden. Den nicht mehr bei ihr beschäftigten Arbeitnehmern werde sie auf Wunsch eine Bescheinigung über die zu Unrecht versteuerten Nachteilsausgleichszahlungen ausstellen. Der Erstattungsanspruch, der für die in den Jahren 2002 bis 2005 fälschlicherweise pauschal versteuerten Nachteilsausgleichszahlungen entstanden sei, solle mit entsprechenden Zahlungen im kommenden Anmeldungszeitraum verrechnet werden.
Das FA erteilte der Klägerin mit Schreiben vom 29. Juni 2006 die erbetene Anrufungsauskunft. Darin heißt es, bezugnehmend auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 30. Mai 2006 IV C 5 -S 2333- 53/06 I u.a.: "...
Danach unterliegen also lediglich o.g. Sonderzahlungen, die bis einschließlich 31.12.2005 vom Arbeitgeber geleistet wurden, nicht dem Lohnsteuerabzug.
Der in Ihrem Schreiben vom 05.12.2006 unter Punkt 3 geplanten Vorgehensweise stimme ich daher grundsätzlich zu ...".
Am 20. September 2006 widerrief das FA seine Zustimmung zu der von der Klägerin geplanten und unter 3. des Schreibens vom 6. Dezember 2005 mitgeteilten Vorgehensweise "für die Zukunft". Zur Begründung heißt es:
"Nach einer mündlichen Auskunft von Herrn G (Lohnsteuer-Referat ...) stellen die von Ihren Arbeitnehmern überzahlten Individualsteuerbeträge keine negativen Arbeitslöhne im Zeitpunkt der angeblichen Rückzahlung in 2006 dar, da überhaupt kein Abfluss i.S. von § 11 Abs. 2 EStG vorliegt."
Mit Schreiben vom 29. September 2006 bekräftigte das FA seine Auffassung, dass negativer Arbeitslohn nur angenommen werden könne, wenn tatsächlich eine Zahlung aus dem Versorgungssystem zurückfließe oder aber der betroffene Arbeitnehmer sein Bezugsrecht ersatzlos verliere. Beide Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. Insbesondere seien die bisher besteuerten Sonderzahlungen nicht zurückgezahlt worden.
Das FA verwarf den gegen den Widerruf gerichteten Einspruch der Klägerin als unzulässig, weil es sich bei der Anrufungsauskunft nicht um einen Verwaltungsakt handele.
Die Klägerin erhob gegen die Einspruchsentscheidung erfolglos Klage. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Auffassung, dass die von der Klägerin in erster Linie erhobene Anfechtungsklage unzulässig sei. Der hilfsweise gestellte Feststellungsantrag sei zulässig, die Feststellungsklage sei jedoch unbegründet. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 347 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt, die Vorentscheidung, den Verwaltungsakt des FA vom 20. September 2006 (Widerruf der Anrufungsauskunft) und die Einspruchsentscheidung aufzuheben, hilfsweise (unter Aufhebung der Vorentscheidung) festzustellen, dass der Widerruf vom 20. September 2006 rechtswidrig ist.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, der Einspruchsentscheidung und des angefochtenen Verwaltungsakts vom 20. September 2006.
1. Die von der Klägerin erhobene --auf Aufhebung eines Verwaltungsakts gerichtete-- Anfechtungsklage (§ 40 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) ist zulässig. Sowohl die Anrufungsauskunft (§ 42e EStG) als auch deren Aufhebung stellen Verwaltungsakte i.S. des § 118 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) dar. Zwar hat der Bundesfinanzhof (BFH) in seiner früheren Rechtsprechung der Anrufungsauskunft nach § 42e EStG lediglich den Charakter einer bloßen Wissenserklärung zuerkannt. Der Senat hat diese Rechtsprechung jedoch mit Urteil vom 30. April 2009 VI R 54/07 (BFHE 225, 50) aufgegeben und die Anrufungsauskunft als feststellenden Verwaltungsakt qualifiziert. Zur Begründung wird, um Wiederholungen zu vermeiden, auf die zitierte Entscheidung verwiesen. Dabei ist nach Ansicht des Senats auch unbeachtlich, dass das FA die Anrufungsauskunft lediglich "grundsätzlich" erklärt hat. Angesichts des Wortlauts von § 42e EStG ("hat auf Anfrage ... Auskunft zu geben, ob und inwieweit im einzelnen Fall die Vorschriften über die Lohnsteuer anzuwenden sind") ist eine Beschränkung der Regelungswirkung entgegen der Auffassung des FG nicht möglich.
2. Die Klage ist auch begründet. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der erteilten Anrufungsauskunft liegen nicht vor.
a) § 42e EStG enthält für die Aufhebung bzw. Änderung einer Anrufungsauskunft keine eigene Korrekturbestimmung. Demgegenüber eröffnet der die Außenprüfung betreffende § 207 Abs. 2 AO die Möglichkeit, eine verbindliche Zusage mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben oder zu ändern. Eine Einschränkung ergibt sich lediglich aus dem Umstand, dass die Maßnahme in das Ermessen des Finanzamts gestellt ist (Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 207 AO Rz 10). Vergleichbares gilt gemäß § 89 Abs. 2 AO i.V.m. § 2 Abs. 3 der Steuer-Auskunftsverordnung für nach dem 12. September 2006 erteilte verbindliche Auskünfte. Der Senat sieht in dem Fehlen einer Korrekturvorschrift für die Lohnsteueranrufungsauskunft eine Gesetzeslücke, die durch entsprechende Anwendung des § 207 Abs. 2 AO zu schließen ist (gl.A. Schulze Grotthoff, Betriebs-Berater 2009, 2123; a.A. Heuermann, Die steuerliche Betriebsprüfung 2009, 275).
Der Senat hat, wie im Urteil in BFHE 225, 50 ausgeführt, seine Rechtsprechung zur Rechtsnatur der Anrufungsauskunft mit der Rechtsentwicklung im Bereich der verbindlichen Zusage (und verbindlichen Auskunft) und der Vermeidung von ansonsten auftretenden Wertungswidersprüchen zwischen diesem Institut und der Anrufungsauskunft begründet. Wenn der Gesetzgeber Steuerpflichtigen aus Gründen der Planungs- und Entscheidungssicherheit Rechtsschutz in Form von Zusagen bereits vor der eigentlichen Steuerfestsetzung gewährt, so darf der Rechtsschutz im Bereich des § 42e EStG für den Arbeitgeber, der zudem Entrichtungsempfänger ist und für Lohnsteuerzwecke vom Fiskus in Anspruch genommen wird, nicht schwächer ausfallen. Die vom Senat damit angesprochene Wertungsgleichheit zwischen der Zusage und der Anrufungsauskunft ist nicht auf die Frage des Rechtsschutzes beschränkt, sondern erfordert auch einen Gleichklang im Bereich der Korrekturmöglichkeiten. Denn die Gründe, die den Gesetzgeber veranlasst haben, im Fall einer verbindlichen Zusage wegen der Vorverlagerung des Verwaltungshandelns von einer minderen Verbindlichkeit auszugehen und deshalb die Korrekturmöglichkeiten zu erleichtern, gelten auch für die Anrufungsauskunft. Da die verbindliche Zusage in die Zukunft wirkt, sind das Dispositionsinteresse des Steuerpflichtigen und die Fundamentalprinzipien der Gesetz- und Gleichmäßigkeit der Besteuerung in angemessener Weise sachgerecht auszugleichen. Dabei hat es der Gesetzgeber für richtig erachtet, der Finanzbehörde zu ermöglichen, sich von einer eingegangenen Selbstverpflichtung ex nunc wieder lösen zu können. Dies gilt wegen des Gebots der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns insbesondere dann, wenn die verbindliche Zusage ohne Rechtsgrundlage oder unter Verstoß gegen materielles Recht erteilt wurde. Die Korrekturvorschriften des § 130 und § 131 AO werden dem Erfordernis, im Fall eines vorverlagerten Verwaltungshandelns eine erleichterte Korrekturmöglichkeit zu eröffnen, nicht gerecht.
Das Bedürfnis nach einer eigenständigen Korrekturmöglichkeit für die Lohnsteueranrufungsauskunft gemäß § 42e EStG ist zwar erst durch die genannte Änderung der Rechtsprechung im BFH-Urteil in BFHE 225, 50 entstanden. Nach Überzeugung des Senats hätte der Gesetzgeber jedoch die dadurch offenbar gewordene Regelungslücke sachgerecht durch eine am Inhalt des § 207 Abs. 2 AO orientierte Norm geschlossen (s. dazu Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 4 AO Rz 351).
b) Kann danach entsprechend § 207 Abs. 2 AO auch eine Anrufungsauskunft unter erleichterten Bedingungen für die Zukunft aufgehoben oder geändert werden, so bedeutet dies nicht, dass die Behörde grundsätzlich ohne jede weitere Voraussetzung zur Aufhebung oder Änderung befugt ist. § 207 Abs. 2 AO stellt die Aufhebung oder Änderung der verbindlichen Zusage in das Ermessen der Behörde ("kann"). Die Vorschrift stellt also die Aufhebung oder Änderung des Verwaltungsakts für die Zukunft nicht generell frei; sie macht die Entscheidung vielmehr von sachgerechten Erwägungen der Behörde abhängig. Abzuwägen ist insbesondere, ob das Vertrauen des Steuerpflichtigen in die Einhaltung der verbindlichen Zusage größeres Gewicht hat als der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der die Durchsetzung des "richtigen Rechts" verlangt (Schick in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 207 AO Rz 21, 26 ff.; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 207 AO Rz 10 ff.).
c) Nach den genannten Grundsätzen hätte somit das FA entsprechend § 207 Abs. 2 AO eine Ermessensentscheidung treffen müssen. Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen lassen (§ 102 Satz 1 FGO), muss die Ermessensentscheidung der Verwaltung begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1 AO). Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen aus der Entscheidung erkennbar sein (BFH-Urteil vom 11. März 2004 VII R 52/02, BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579, m.w.N.).
Im Streitfall hat das FA weder im angefochtenen Aufhebungsbescheid noch in der Einspruchsentscheidung den Widerruf begründet und insbesondere keine Abwägung der für und gegen eine Aufhebung sprechenden Umstände vorgenommen (s. dazu BFH-Urteil in BFHE 225, 50). Aus den behördlichen Entscheidungen geht nicht einmal hervor, dass sich das FA des ihm eingeräumten Ermessens bewusst war (s. zum Ermessensnichtgebrauch Kruse in Tipke/Kruse, a.a.O., § 5 AO Rz 40).
Die in der mündlichen Verhandlung vom Vertreter des FA geäußerte Erwägung, die Auskunft habe sich als rechtswidrig erwiesen und sei allein deshalb (zu Recht) widerrufen worden, kann nicht mehr berücksichtigt werden. Es handelt sich dabei nicht um eine Ergänzung der Ermessenserwägungen, sondern um deren nicht zulässige Nachholung (BFH-Urteil in BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579).