Entscheidungsdatum: 15.05.2013
Werden erstmals während des Revisionsverfahrens Ermessenserwägungen angestellt, können diese im Revisionsverfahren nicht mehr berücksichtigt werden (Anschluss an BFH-Urteil vom 25. Mai 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171).
I. Im Rahmen der Überprüfung eines Lohnsteuerhaftungsbescheids ist streitig, ob die einer beherrschenden Gesellschafter-Geschäftsführerin unter Widerrufsvorbehalt zugesagte Weihnachtsgratifikation auch dann zugeflossen ist, wenn deren Zusage aufgrund eines späteren Gesellschafterbeschlusses widerrufen wird.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, wurde im Streitjahr 2002 errichtet. Deren alleinige Gesellschafterin war zugleich Geschäftsführerin.
Die Klägerin sagte der Gesellschafter-Geschäftsführerin durch Geschäftsführervertrag eine Weihnachtsgratifikation zu, behielt sich insoweit aber das Recht zum Widerruf vor. Nachdem die (Allein-)Gesellschafter-Geschäftsführerin am 4. Oktober 2002 beschlossen hatte, für das Streitjahr 2002 keine Weihnachtsgratifikation zu gewähren, wurde diese auch nicht ausgezahlt.
Im Anschluss an eine Lohnsteuer-Außenprüfung nahm das ursprünglich zuständige Finanzamt die Klägerin mit Haftungsbescheid für Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer neben weiteren, hier nicht streitigen Gründen auch hinsichtlich der auf die Weihnachtsgratifikation entfallenden Lohnsteuer in Anspruch, die von der Klägerin nicht einbehalten worden war.
Nach insoweit erfolglosem Einspruch gab das Finanzgericht (FG) der Klage statt. Die Klägerin sei hinsichtlich der Weihnachtsgratifikation nicht zum Lohnsteuerabzug verpflichtet gewesen. Denn der Gesellschafter-Geschäftsführerin sei kein Arbeitslohn zugeflossen.
Mit seiner Revision rügt der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) die Verletzung materiellen Rechts.
Das FA beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Klägerin stellt keinen Antrag.
Während des Revisionsverfahrens hat das FA den streitbefangenen Haftungsbescheid vom 9. Dezember 2004 --geändert am 24. Februar 2005-- am 9. August 2012 unter gleichzeitigem Erlass eines neuen Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 der Abgabenordnung zurückgenommen, da das Auswahlermessen in dem ursprünglichen Haftungsbescheid nicht hinreichend dokumentiert worden sei.
II. Die Revision ist unbegründet und gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
1. Die Revision führt zwar aus verfahrensrechtlichen Gründen zur Aufhebung der Vorentscheidung. Denn Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens war noch der Haftungsbescheid vom 9. Dezember 2004, der am 24. Februar 2005 geändert wurde. Da das FA diesen ursprünglichen Haftungsbescheid während des Revisionsverfahrens in vollem Umfang zurückgenommen und durch den Haftungsbescheid vom 9. August 2012 ersetzt hat, ist dieser nach § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 16. Dezember 2008 I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl II 2009, 539; vom 6. August 1996 VII R 77/95, BFHE 181, 107, BStBl II 1997, 79; vom 26. November 1986 I R 256/83, BFH/NV 1988, 82; vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791). Soweit dem Urteil eines FG ein nicht mehr existierender Bescheid zugrunde liegt, kann es keinen Bestand haben. Dennoch bedarf es hier keiner Zurückverweisung der Sache an das FG gemäß § 127 FGO, da die Sache spruchreif ist. Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen bilden unverändert die Grundlage für die Entscheidung des erkennenden Senats (dazu etwa Senatsurteil vom 27. Oktober 2011 VI R 71/10, BFHE 235, 448, BStBl II 2012, 234, m.w.N.).
2. Die Revision ist gleichwohl als unbegründet zurückzuweisen. Denn das Urteil der Vorinstanz ist im Ergebnis zu bestätigen. Die Klage ist begründet, da das FA das ihm eingeräumte Ermessen nicht rechtsfehlerfrei ausgeübt hat.
a) Der Arbeitgeber haftet dafür, dass die von seinen Arbeitnehmern geschuldete Lohnsteuer einbehalten und an das FA abgeführt wird (§ 42d Abs. 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes --EStG-- i.V.m. §§ 38 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1, 41a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Soweit die Haftung des Arbeitgebers reicht, sind er und die Arbeitnehmer gemäß § 42d Abs. 3 Satz 1 EStG Gesamtschuldner. Das FA kann die Steuerschuld oder die Haftungsschuld nach pflichtgemäßem Ermessen (§ 5 der Abgabenordnung) gegenüber jedem Gesamtschuldner geltend machen (§ 42d Abs. 3 Satz 2 EStG).
b) Der streitbefangene Haftungsbescheid verletzt die Klägerin insoweit in ihren Rechten, als das FA seiner Pflicht zur Ausübung des eingeräumten Ermessens nicht nachgekommen ist.
Denn es war sich jedenfalls hinsichtlich des Auswahlermessens dieser Pflicht bei Erlass des ursprünglichen Haftungsbescheids vom 9. Dezember 2004 --wie es selbst einräumt-- überhaupt nicht bewusst. Es hat sich in diesem Haftungsbescheid lediglich auf die Feststellung beschränkt, dass die Klägerin Lohnsteuer in unzutreffender Höhe einbehalten und abgeführt habe und ihre Inanspruchnahme --insbesondere mangels entschuldbaren Rechtsirrtums-- nicht unbillig sei. Auch in dem Änderungsbescheid vom 24. Februar 2005 und der Einspruchsentscheidung fehlen entsprechende Ermessenserwägungen.
Der Fehler, dass eine gebotene Ermessensausübung unterblieben ist, ist auch in der Folgezeit nicht geheilt worden. Nach § 102 Satz 2 FGO kann die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsakts bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. Im Streitfall hat das FA im Klageverfahren aber keine Ermessenserwägungen nachgeschoben. Denn es hat erstmals während des Revisionsverfahrens solche Ermessenserwägungen angestellt. Im Umkehrschluss aus § 102 Satz 2 FGO können diese im Revisionsverfahren jedoch unabhängig davon nicht mehr berücksichtigt werden, dass eine Ergänzung im Sinne dieser Vorschrift zumindest ansatzweise zuvor angestellte Ermessenserwägungen vorausgesetzt hätte (vgl. BFH-Urteil vom 25. Mai 2004 VIII R 21/03, BFH/NV 2005, 171).
3. Auf die zwischen den Beteiligten streitige Frage, ob der Gesellschafterbeschluss über die Nichtauszahlung der Weihnachtsgratifikation einen Zufluss von Arbeitslohn bewirkt, kommt es angesichts dessen nicht mehr an.