Entscheidungsdatum: 08.12.2011
Der Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit eines Richters liegt im Gericht und nicht im häuslichen Arbeitszimmer.
I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer einer Richterin als Werbungskosten einkünftemindernd zu berücksichtigen sind.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erzielt als Richterin am Amtsgericht (AG) in A-Stadt Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Dort betreut sie seit vielen Jahren ein zivilrechtliches Dezernat. Im Gerichtsgebäude des AG steht ihr ein eigenes Dienstzimmer zur Verfügung, das sie im Streitjahr tatsächlich auch für ihre richterliche Tätigkeit nutzte. Zudem führte die Klägerin regelmäßig einmal in der Woche mündliche Verhandlungen im Sitzungssaal des AG durch.
Im Streitjahr wohnte sie gemeinsam mit ihrem Sohn in ihrem Einfamilienhaus in dem in der Nähe von A-Stadt belegenen B. Das Wohnhaus hat eine Wohnfläche von ungefähr 150 qm. In diesem Wohnhaus hat die Klägerin sich in einem Anbau, der vom Wohnzimmer aus betreten werden kann, ein häusliches Arbeitszimmer eingerichtet, das ungefähr eine Größe von 19 qm besitzt.
In ihrer Einkommensteuererklärung 2008 machte die Klägerin bei ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit u.a. als Werbungskosten Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer in Höhe von insgesamt 1.728,33 € steuermindernd geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) berücksichtigte diese Aufwendungen bei der Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres hingegen nicht, weil das Arbeitszimmer nicht den Mittelpunkt der gesamten beruflichen und betrieblichen Betätigung der Klägerin darstelle.
Die Klage war erfolglos.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Das Finanzgericht (FG) habe § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr 2008 rückwirkend anzuwendenden Fassung des Jahressteuergesetzes --JStG-- 2010 (EStG) unzutreffend ausgelegt. Denn es habe allein die Durchführung von mündlichen Verhandlungen im AG als die den Richterberuf prägende Tätigkeit beurteilt und dabei verkannt, dass die für den Richterberuf wesentliche, qualitativ bedeutendere Leistung in der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung eines Streitfalls liege. Diese Tätigkeit sei vorliegend im häuslichen Arbeitszimmer erbracht worden, so dass sich dort der Mittelpunkt der Betätigung befinde. Aber auch wenn das Erarbeiten von Entscheidungen und das mündlich Verhandeln als einheitliche richterliche Kerntätigkeit zu werten seien, liege der örtliche Mittelpunkt der Berufstätigkeit der Klägerin im häuslichen Arbeitszimmer. Denn dann sei auf die quantitative Nutzung des Arbeitszimmers --im Streitfall werde über 60 % der Arbeitsleistung dort erbracht-- abzustellen. Denn nach der Neuregelung des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG durch das JStG 2010 sei der zeitlichen Komponente bei der Bestimmung des Mittelpunkts der beruflichen Betätigung ein höheres Gewicht als bisher beizumessen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen FG vom 8. Februar 2011 14 K 329/09 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2008 vom 19. März 2009 i.d.F. der Einspruchsentscheidung vom 12. August 2009 in der Weise zu ändern, dass Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer in Höhe von 1.695 € zusätzlich als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit abgezogen werden.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. 1. Die Revision ist unbegründet und gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass die Kosten für das häusliche Arbeitszimmer der Klägerin nicht als Werbungskosten bei ihren Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zu berücksichtigen sind.
a) Gemäß § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG kann ein Steuerpflichtiger Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer nicht als Werbungskosten abziehen. Dies gilt nicht, wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 2 EStG). In diesem Fall wird die Höhe der abziehbaren Aufwendungen auf 1.250 € begrenzt; die Beschränkung der Höhe nach gilt nicht, wenn das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung bildet (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 EStG). Die genannte Regelung kommt auch im Streitfall zur Anwendung. Denn gemäß § 52 Abs. 12 Satz 9 EStG gilt sie für alle offenen Fälle ab dem Veranlagungszeitraum 2007.
b) Die Neuregelung ersetzt § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes (StÄndG) 2007. Die Vorschrift, die den Abzug der Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie die Kosten der Ausstattung nur noch erlaubte, wenn das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Betätigung bildete, war mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) teilweise unvereinbar (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 6. Juli 2010 2 BvL 13/09, BVerfGE 126, 268).
Im Übrigen war mit dem JStG 1996 in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG erstmals eine sachliche und betragsmäßige Einschränkung des Betriebsausgaben- und des Werbungskostenabzugs (§ 9 Abs. 5 Satz 1 EStG) für steuerlich anzuerkennende, ausschließlich betrieblich oder beruflich genutzte häusliche Arbeitszimmer gesetzlich geregelt worden. Nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 1996 durften Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer sowie die Kosten der Ausstattung den Gewinn nicht mindern. Eine Ausnahme von dem in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 1996 normierten Abzugsverbot galt nach Satz 2 der Vorschrift, wenn die betriebliche oder berufliche Nutzung des Arbeitszimmers mehr als 50 % der gesamten betrieblichen und beruflichen Tätigkeit betrug oder wenn für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit kein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung stand. In diesem Fall wurde die Höhe der abziehbaren Aufwendungen auf 2.400 DM bzw. 1.250 € begrenzt und eine unbeschränkte Abzugsmöglichkeit nur noch zugelassen, wenn das Arbeitszimmer den Mittelpunkt der gesamten betrieblichen und beruflichen Tätigkeit bildete (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 EStG i.d.F. des JStG 1996).
2. Im Streitfall liegen, wie auch zwischen den Beteiligten unstreitig ist, die Voraussetzungen für den beschränkten Werbungskostenabzug gemäß § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 2 EStG nicht vor. Aber auch der unbeschränkte Werbungskostenabzug nach Satz 3 der Vorschrift ist im Streitfall nicht eröffnet. Denn vorliegend liegt der Mittelpunkt der beruflichen Betätigung der Klägerin nicht in ihrem häuslichen Arbeitszimmer.
a) Der Begriff "Mittelpunkt der gesamten ... Betätigung" ist gesetzlich nicht näher definiert. Auch die Gesetzesmaterialien geben keinen Aufschluss über die Bedeutung dieses Merkmals (Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13. November 2002 VI R 82/01, BFHE 201, 93, BStBl II 2004, 62, m.w.N.). Nach der zu § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 EStG i.d.F. des JStG 1996 ergangenen Rechtsprechung des BFH bestimmt sich bei einem Steuerpflichtigen, der lediglich eine einzige berufliche Tätigkeit --teilweise zu Hause und teilweise auswärts-- ausübt, der Mittelpunkt danach, ob er im Arbeitszimmer diejenigen Handlungen vornimmt und Leistungen erbringt, die für den ausgeübten Beruf wesentlich und prägend sind (ständige Rechtsprechung; s. etwa BFH-Urteile vom 15. März 2007 VI R 65/05, BFH/NV 2007, 1133; vom 23. Mai 2006 VI R 21/03, BFHE 214, 158, BStBl II 2006, 600; vom 9. November 2005 VI R 19/04, BFHE 211, 505, BStBl II 2006, 328). Die für den Beruf wesentlichen und prägenden Leistungen werden auch mit dem Begriff des inhaltlichen (qualitativen) Schwerpunkts der betrieblichen und beruflichen Betätigung des Steuerpflichtigen umschrieben (BFH-Urteile in BFH/NV 2007, 1133; vom 22. November 2006 X R 1/05, BFHE 216, 110, BStBl II 2007, 304; in BFHE 214, 158, BStBl II 2006, 600; vom 6. Juli 2005 XI R 87/03, BFHE 210, 493, BStBl II 2006, 18; vom 26. Juni 2003 IV R 9/03, BFHE 202, 529, BStBl II 2004, 50; vom 9. April 2003 X R 75/00, BFH/NV 2003, 917). Maßgebend ist danach, ob --unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung-- das qualitativ für eine bestimmte steuerbare Tätigkeit Typische im häuslichen Arbeitszimmer ausgeübt wird (Söhn, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Rz Lb 191).
So ist bei einem Lehrer das häusliche Arbeitszimmer nicht der Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit, weil ein Lehrer die für seinen Beruf wesentlichen und prägenden Leistungen regelmäßig nicht zu Hause, sondern in der Schule erbringt (BFH-Urteil in BFHE 211, 505, BStBl II 2006, 328). Auch bei einem Hochschullehrer liegt der Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit grundsätzlich nicht im häuslichen Arbeitszimmer. Denn das Wesensmäßige der Hochschullehrertätigkeit, nämlich die Lehre, muss in der Universität stattfinden (BFH-Entscheidungen vom 14. Juli 2010 VIII B 54/10, BFH/NV 2010, 2253; vom 14. Juli 2010 VI B 43/10, BFH/NV 2010, 2053; vom 16. Juni 2010 VI B 18/10, BFH/NV 2010, 1810, und vom 27. Oktober 2011 VI R 71/10, BFHE 235, 448). Entsprechendes gilt für den Richter, weil die eigentliche richterliche Tätigkeit im Gericht ausgeübt wird und sich in Sitzungen und mündlichen Verhandlungen manifestiert (Schmidt/ Heinicke, EStG, 30. Aufl., § 4 Rz 595; Söhn, in: Kirchhof/ Söhn/Mellinghoff, EStG, § 4 Rz Lb 193; s. zur Bedeutung des jeweiligen Gepräges auch die BFH-Urteile in BFHE 210, 493, BStBl II 2006, 18: Tankstellenbetreiber; in BFHE 202, 529, BStBl II 2004, 50: Architekt).
b) In diesen Fällen, in denen die das Berufsbild prägende Tätigkeit außerhalb des häuslichen Arbeitszimmers stattfindet, kann auch eine zeitlich weit überwiegende Nutzung des häuslichen Arbeitszimmers keine Verlagerung des Mittelpunkts bewirken (BFH-Urteil vom 27. Oktober 2011 VI R 71/10, BFHE 235, 448). Aufgrund der berufstypischen bzw. typisierenden Betrachtung erübrigen sich Feststellungen zum jeweiligen zeitlichen Umfang der beruflichen oder betrieblichen Nutzung eines häuslichen Arbeitszimmers. Auf diese Weise kann nach Auffassung des BFH dem Prinzip eines gleichmäßigen Gesetzesvollzugs Rechnung getragen werden (BFH-Urteil in BFHE 210, 493, BStBl II 2006, 18).
c) Der Senat hält an diesen Grundsätzen fest. Zwar ist zu beachten, dass der genannten Rechtsprechung die bis 2006 geltende Rechtslage zugrunde liegt. Der BFH leitete seine Auffassung u.a. aus einem Vergleich der Mittelpunktregelung (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 3 Halbsatz 2 EStG i.d.F. des JStG 1996) mit der 50 %-Regelung in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 2 EStG i.d.F. des JStG 1996 her (vgl. BFH-Urteile vom 13. November 2002 VI R 28/02, BFHE 201, 106, BStBl II 2004, 59; in BFHE 201, 93, BStBl II 2004, 62; vom 13. November 2002 VI R 104/01, BFHE 201, 100, BStBl II 2004, 65; in BFH/NV 2003, 917; vom 23. Januar 2003 IV R 71/00, BFHE 201, 269, BStBl II 2004, 43). Nach Wegfall der Abzugsmöglichkeit bei einer beruflichen Nutzung von mehr als 50 % der Gesamttätigkeit durch § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG i.d.F. des JStG 2010 bzw. StÄndG 2007 (zur Verfassungsmäßigkeit insoweit s. BVerfG-Beschluss in BVerfGE 126, 268) sieht der Senat dennoch für die Fallgestaltungen, in denen der Steuerpflichtige lediglich eine einzige berufliche Tätigkeit --teilweise zu Hause und teilweise auswärts-- ausübt, angesichts der Grundentscheidung in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b Satz 1 EStG keine Notwendigkeit, den Mittelpunktbegriff grundlegend neu zu bestimmen (BFH-Urteil vom 27. Oktober 2011 VI R 71/10, BFHE 235, 448).
d) Die angefochtene Entscheidung entspricht im Ergebnis den genannten Grundsätzen.
Denn bei einem Richter liegt der prägende Tätigkeitsschwerpunkt zumindest immer dann außerhalb des häuslichen Arbeitszimmers, wenn er --wie die Klägerin im Streitjahr als Berufsrichterin-- in einem Richterverhältnis (im Dienst eines Landes oder des Bundes) steht und in Ausübung dieses öffentlichen Amtes Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt wahrnimmt.
Denn die Ausübung der dem Richter in Art. 92 GG anvertrauten rechtsprechenden Gewalt, das verbindliche Entscheiden in Rechtsfragen, die von den Beteiligten nicht oder nicht einvernehmlich aus einer Vorschrift beantwortet werden können (Kirchhof, Neue Juristische Wochenschrift 1986, 2275), ist prägendes Element der richterlichen Tätigkeit. Dieses hoheitliche Tun ist nach der allgemeinen Verkehrsanschauung im Gericht(sgebäude) und nicht im häuslichen Arbeitszimmer zu verorten.
Wegen der im Streitfall gebotenen berufstypischen bzw. typisierenden Betrachtung hat das FG der von der Klägerin behaupteten zeitlich weit überwiegenden Nutzung ihres häuslichen Arbeitszimmers zu Recht keine Bedeutung beigemessen.
e) Der Senat teilt auch die von der Klägerin angedeuteten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 9 Abs. 5 i.V.m. § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 6b EStG nicht. Nach Auffassung des BVerfG in BVerfGE 126, 268 ist ein Werbungskostenabzugsverbot bzw. eine Beschränkung von Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmers trotz des Werbungskostencharakters dieser Kosten verfassungsrechtlich unbedenklich, soweit für die betriebliche oder berufliche Tätigkeit --wie vorliegend-- ein anderer Arbeitsplatz zur Verfügung steht.