Entscheidungsdatum: 26.01.2018
Das Notleitungsrecht kann auch dazu berechtigen, Leitungen durch ein Gebäude zu führen; eine Einschränkung ergibt sich nur aus dem Gebot, die für den Duldungspflichtigen geringstmögliche Belastung zu wählen (Aufgabe von Senat, Urteil vom 10. Juni 2011, V ZR 233/10, Grundeigentum 2011, 1365 Rn. 12).
Die Revision gegen das Urteil des 11. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 26. Januar 2017 wird auf Kosten des Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Die Parteien sind Eigentümer benachbarter, in Schleswig-Holstein belegener Grundstücke, die durch Teilung eines Grundstücks im Jahr 1977 entstanden sind. Die beiden Grundstücke der Kläger sind bebaut, verfügen aber - anders als das angrenzende Grundstück des Beklagten - über keine direkte Verbindung zu einer öffentlichen Straße. Das Grundstück des Beklagten ist in voller Breite mit einem Wohnhaus bebaut. Die Ver- und Entsorgungsleitungen zu den Grundstücken der Kläger verlaufen seit der Errichtung der Gebäude in den Jahren 1900 bis 1910 von der öffentlichen Straße durch den Keller dieses Wohnhauses. Dinglich abgesicherte Leitungsrechte bestehen insoweit nicht.
Die Kläger verlangen von dem Beklagten, das auf seinem Grundstück befindliche Leitungszubehör ihrer Grundstücke sowie dessen notwendige Unterhaltung und erforderlichenfalls Neuanlage zu dulden. Das Landgericht hat die Klage, mit der eine entsprechende Duldungspflicht des Beklagten zunächst (nur) festgestellt werden sollte, abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat der nach Antragsumstellung unmittelbar auf Duldung gerichteten Klage mit der Maßgabe stattgegeben, dass ein Betreten der Räume durch Dritte in der Regel nur nach vorheriger Ankündigung und zu näher festgelegten Zeiten möglich ist. Mit der von dem Oberlandesgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Kläger beantragen, will der Beklagte die Abweisung der Klage erreichen.
I.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist der Beklagte analog § 917 Abs. 1 BGB zur Duldung der Ver- und Entsorgungsleitungen verpflichtet, weil den Grundstücken der Kläger eine Verbindung zu einem öffentlichen Weg fehlt. Duldungspflichtig sei wegen der vorangegangenen Grundstücksteilung nach § 918 Abs. 2 BGB allein der Beklagte als Eigentümer des Grundstücksteils, über den die Verbindung bisher stattgefunden habe. Inhalt des Notleitungsrechts könne es auch sein, Leitungen durch ein Gebäude zu legen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn Leitungen nur durch ein Gebäude geführt werden könnten. Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die jegliche Inanspruchnahme von Wohngebäuden verbiete, finde sich nicht. Es gebe auch keine Gründe, § 917 Abs. 1 BGB einschränkend auszulegen. Die Belastung, die von durch ein Gebäude verlaufenden Leitungen ausgehe, sei grundsätzlich gering.
II.
Das hält rechtlicher Überprüfung stand.
1. Rechtsfehlerfrei geht das Berufungsgericht davon aus, dass sich aus der entsprechenden Anwendung des § 917 BGB ein Recht ergeben kann, Versorgungsleitungen über ein anderes, fremdes Grundstück zu führen, um diese mit den öffentlichen Versorgungsnetzen zu verbinden. Die diesbezügliche Rechtsprechung des Senats dient zur Lückenfüllung im Wege analoger Rechtsfortbildung, soweit entsprechende landesrechtliche Regelungen fehlen. Unmittelbar regeln die Vorschriften der §§ 917, 918 BGB nämlich nur das Notwegrecht, und für ihre analoge Anwendung besteht kein Bedürfnis, wenn das Landesrecht die Voraussetzungen des Notleitungsrechts entsprechend dem Vorbehalt in Art. 124 EGBGB in eigenständiger Weise regelt (vgl. Senat, Urteil vom 4. Juli 2008 - V ZR 172/07, BGHZ 177, 165 Rn. 7, 15 f. mwN). Das hier maßgebliche Nachbarrecht des Landes Schleswig-Holstein enthält keine Regelung über private Notleitungsrechte.
2. Das Berufungsgericht bejaht zu Recht die Voraussetzungen eines Notleitungsrechts analog § 917 BGB.
a) Die Grundstücke der Kläger haben keine eigene Verbindung zu den öffentlichen Versorgungsnetzen. Eine solche Verbindung ist erforderlich, weil die Grundstücke zu Wohnzwecken sowie gewerblich genutzt werden. Diese Nutzung ist ordnungsgemäß. Hiervon geht das Berufungsgericht aus. Die Revision nimmt dies hin.
b) Das Notleitungsrecht kann auch dazu berechtigen, Leitungen durch ein Gebäude zu führen; eine Einschränkung ergibt sich nur aus dem Gebot, die für den Duldungspflichtigen geringstmögliche Belastung zu wählen.
aa) Der Wortlaut des § 917 Abs. 1 BGB nimmt eine Beschränkung auf bestimmte Flächen eines Grundstücks, die in Anspruch genommen werden können, nicht vor. Satz 1 dieser Vorschrift spricht nur allgemein davon, dass der Eigentümer des notleidenden Grundstücks von den Nachbarn verlangen kann, die Benutzung ihrer Grundstücke zur Herstellung der erforderlichen Verbindung zu dulden. Danach kann das gesamte Grundstück, gleich ob dieses bebaut ist oder nicht, in Anspruch genommen werden. Dies steht in Einklang mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Sie will der Notlage eines vom Zugang zu einem öffentlichen Weg abgeschnittenen Grundstücks abhelfen. Im Interesse des Eigentümers des notleidenden Grundstücks, dieses in angemessener Weise wirtschaftlich zu nutzen, hat der Nachbar die Nutzung seines Grundstücks zu dulden (vgl. Staudinger/Roth, BGB [2016], § 917 Rn. 1; Soergel/Baur, BGB, 13. Aufl., § 917 Rn. 1). Dieser Zweck lässt sich nur verwirklichen, wenn die Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks uneingeschränkt möglich ist.
Dementsprechend ist im Rahmen des unmittelbaren Anwendungsbereichs der Vorschrift anerkannt, dass der Notweg nicht nur über den Grund und Boden selbst führen, sondern auch über diesem (vgl. RG, Recht 1914, Rspr. Nr. 211: Drehbrücke im Luftraum des Nachbargrundstücks) oder unter dem Boden hergestellt werden kann (RGZ 157, 305, 309). Daher kann auch eine Untertunnelung, etwa zur Herstellung einer Tiefgaragenausfahrt, in Betracht kommen (Staudinger/Roth, BGB [2016], § 917 Rn. 34; vgl. auch Soergel/Baur, BGB, 13. Aufl., § 917 Rn. 11). Für das Notleitungsrecht gilt nichts anderes. Es ermöglicht nicht nur die Mitbenutzung der auf dem belasteten Grundstück vorhandenen Leitungen (Senat, Urteil vom 4. Juli 2008 - V ZR 172/07, BGHZ 177, 165 Rn. 7; Urteil vom 30. Januar 1981 - V ZR 6/80, BGHZ 79, 307, 308 f.; vgl. auch Urteil vom 22. Juni 1990 - V ZR 59/89, NJW 1991, 176), sondern auch die ober- und unterirdische Herstellung von Leitungen auf dem Nachbargrundstück (Senat, Urteil vom 11. November 1959 - V ZR 98/58, BGHZ 31, 159, 161; Urteil vom 4. November 1959 - V ZR 49/58, MDR 1960, 124). Im Grundsatz können die Leitungen auch durch bestehende Gebäude geführt werden, ohne dass es auf die Art der Gebäudenutzung ankommt. Soweit der Senat ausgeführt hat, dass das Notleitungsrecht analog § 917 BGB nicht die Befugnis zur Inanspruchnahme von Wohngebäuden umfasst (Urteil vom 10. Juni 2011 - V ZR 233/10, GE 2011, 1365 Rn. 12), hält er daran nicht fest.
bb) Im Rahmen der Ausübung eines Notleitungsrechts ist allerdings der Verlauf zu wählen, der für den Duldungspflichtigen die geringstmögliche Belastung darstellt (MüKoBGB-Brückner, 7. Aufl., § 917 Rn. 36). Die inhaltliche Beschränkung des Eigentumsrechts des Nachbarn kann nämlich nur so weit reichen, wie sie zur Behebung der Notlage des gefangenen Grundstücks erforderlich ist. Insoweit kann auch auf den in § 1020 Satz 1 BGB enthaltenen Rechtsgedanken zurückgegriffen werden, das Eigentum am belasteten Grundstück tunlichst zu schonen (vgl. Senat, Urteil vom 22. Juni 1990 - V ZR 59/89, NJW 1991, 176, 178). Der Rechtsgedanke gilt auch hier, weil § 917 Abs. 1 BGB eine zulässige Eigentumsschranke im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt. Daher hat das Interesse des Notleitungsberechtigten an dem für ihn effizientesten Verlauf gegenüber dem Interesse des Duldungsverpflichteten zurückzustehen, wobei im Rahmen der Abwägung auf objektive Gesichtspunkte, wie etwa Nutzungsart und Zuschnitt der Grundstücke abzustellen ist (vgl. Staudinger/Roth, BGB [2016], § 917 Rn. 38). Die Inanspruchnahme von Gebäuden zum Zwecke der Verlegung von Versorgungsleitungen wird daher grundsätzlich nur dann in Betracht kommen, wenn eine Verbindung zu dem öffentlichen Leitungsnetz anders auf dem Nachbargrundstück nicht hergestellt werden kann.
cc) Nach diesen Maßstäben ist das Berufungsurteil nicht zu beanstanden, insbesondere ist das Gebot der geringstmöglichen Belastung des Verpflichteten gewahrt. Dass die Leitungen in einer das Grundstück des Beklagten schonenderer Weise, insbesondere im Boden, verlegt werden könnten, ist angesichts der Bebauung in voller Breite nicht erkennbar und wird von dem Beklagten auch nicht geltend gemacht.
c) Der Beklagte kann nicht mit Erfolg darauf verweisen, dass die Leitungen über andere Grundstücke verlegt werden könnten.
aa) Rechtsfehlerfrei geht das Berufungsgericht davon aus, dass sich das Notleitungsrecht nach § 918 Abs. 2 Satz 1 BGB allein gegen den Beklagten richtet. Wird infolge einer Veräußerung eines Teils des Grundstücks der veräußerte oder der zurückbehaltene Teil von der Verbindung mit dem öffentlichen Weg abgeschnitten, so hat nach dieser Vorschrift der Eigentümer desjenigen Teils, über welchen die Verbindung bisher stattgefunden hat, den Notweg zu dulden. So liegt es hier. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurde durch die Teilung des ursprünglichen Grundstücks und die Veräußerung des an der Straße gelegenen Grundstücksteils an die Mutter des Beklagten der von den Klägern erworbene Grundstücksteil von dem öffentlichen Versorgungsnetz abgeschnitten. Da der Anschluss der klägerischen Grundstücke an das öffentliche Leitungsnetz bislang über das nunmehr im Eigentum des Beklagten stehende Grundstück erfolgte, ist dieser nach § 918 Abs. 2 Satz 1 BGB zur Duldung der Leitungen verpflichtet.
bb) Soweit der Beklagte geltend macht, dass den Klägern ein Wegerecht zu einer anderen öffentlichen Straße über zwei andere Grundstücke zusteht und sie daher das Notleitungsrecht nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gegenüber deren Eigentümern durchsetzen müssten, bleibt dies ohne Erfolg. Das Wegerecht berechtigt nur zu der damit eingeräumten Nutzungsmöglichkeit des belasteten Grundstücks, nicht zu der Verlegung von Leitungen. Einer Inanspruchnahme der Eigentümer der mit dem Wegerecht belasteten Grundstücke entsprechend § 917 Abs. 1 BGB stünde, wie dargelegt, § 918 Abs. 2 Satz 1 BGB entgegen.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
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