Entscheidungsdatum: 13.01.2012
Eine in zweiter Instanz erhobene Widerklage kann auch auf Tatsachenstoff gestützt werden, der in erster Instanz zwar vorgetragen worden, für die Entscheidung über die Klage aber unerheblich ist.
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des 14. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 30. August 2010 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Widerklage abgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Der Beklagte war für die Klägerin als Rechtsanwalt tätig. Auf sein Anraten und zu seinen Gunsten bewilligte die Klägerin die Eintragung von zwei Buchgrundschulden zu Lasten eines in ihrem Eigentum stehenden Grundstücks. Zugleich gab sie abstrakte Schuldanerkenntnisse ab und unterwarf sich der sofortigen Zwangsvollstreckung. Der Beklagte betreibt die Zwangsvollstreckung aus einer der Grundschuldbestellungsurkunden. Die Vollstreckungsgegenklage der Klägerin hat das Landgericht ebenso wie die weiteren, auf Herausgabe der zweiten vollstreckbaren Ausfertigung der Grundschuldbestellungsurkunde und der einfachen Abschriften beider Grundschuldbestellungsurkunden gerichteten Klageanträge abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht der Klage stattgegeben und die erstmals in dem Berufungsverfahren erhobene (Hilfs-)Widerklage des Beklagten auf Zahlung von Anwaltshonorar als unzulässig abgewiesen. Mit der von dem Senat nur im Hinblick auf die Widerklage zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt der Beklagte seine auf die Widerklage bezogenen Anträge aus der Berufungsinstanz weiter.
I.
Das Berufungsgericht meint, die von dem Beklagten erstmals in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage sei gemäß § 533 Nr. 2 ZPO unzulässig, weil es auf die Forderungen des Beklagten für die Entscheidung über die Klage nicht ankomme. Der Tatsachenstoff gelange nur insoweit in die Berufungsinstanz, als er aus Sicht des Berufungsgerichts für die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts erheblich sei. Andernfalls werde das Ziel des § 533 ZPO verfehlt, das in der Beschränkung des Tatsachenstoffs in der Berufungsinstanz bestehe.
II.
1. Die Revision ist zulässig.
a) Das erforderliche Rechtsschutzinteresse ist gegeben, obwohl Zweifel an den Angaben des Beklagten zu seinem Wohnort bestehen. Für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist es - anders als bei der Einreichung der Klage - im Grundsatz nicht erforderlich, dass der Rechtsmittelführer seine Anschrift bekannt gibt (BGH, Beschluss vom 25. September 1975 - VII ZB 9/75, BGHZ 65, 114, 117). Anders liegt es nur dann, wenn er rechtsmissbräuchlich handelt, indem er den Rechtsstreit "aus dem Verborgenen" führt und seine Anschrift nicht preisgibt, um Kostenerstattungsansprüche des Gegners zu vereiteln (BGH, Urteil vom 11. Oktober 2005 - XI ZR 398/04, NJW 2005, 3773 f.; Beschluss vom 28. November 2007 - III ZB 50/07, juris Rn. 8; Beschluss vom 1. April 2009 - XII ZB 46/08, NJW-RR 2009, 1009 Rn. 13 f.). Weil die Vermögenslosigkeit als solche der Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht entgegensteht, muss gerade die verweigerte Nennung der Anschrift auf eine Vereitelungsabsicht schließen lassen. Dabei handelt es sich um einen eng begrenzten Ausnahmefall, dessen Voraussetzungen nur bei ernsthaften Anhaltspunkten von Amts wegen im Freibeweisverfahren zu prüfen sind.
b) Die danach erforderliche sichere Überzeugung von einer Vereitelungsabsicht hat der Senat nicht gewinnen können. Ob der Beklagte - wie die Klägerin behauptet - unter seiner Kanzleianschrift nur ein Postfach unterhält, kann dahinstehen. Jedenfalls hat er auf wiederholte Aufforderung hin eine Wohnanschrift mitgeteilt und eine Meldebestätigung der Stadt überreicht. Der Senat kann weder feststellen, dass der Beklagte unter dieser Anschrift keinen Wohnsitz hat, noch lassen die Gesamtumstände die Würdigung zu, er handele in Vereitelungsabsicht.
2. Die Revision hat auch in der Sache Erfolg. Die Abweisung der Widerklage als unzulässig, die das Berufungsgericht auf das Fehlen der Voraussetzungen von § 533 Nr. 2 ZPO gestützt hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
a) Es kann dahinstehen, ob dies, wie die Revision meint, schon daraus folgt, dass das Berufungsgericht in zweiter Instanz zunächst eine umfangreiche Beweisaufnahme zu den Honoraransprüchen begonnen und den Beklagten zu ergänzendem Vortrag aufgefordert hatte. Allerdings muss das Berufungsgericht seiner Entscheidung jedenfalls die bereits getroffenen Feststellungen zugrunde legen. Dies folgt aus dem in § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO enthaltenen Gebot der Berücksichtigung des gesamten Inhalts einer durchgeführten Beweisaufnahme (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2006 - XII ZR 210/04, NJW 2006, 1657 Rn. 22 ff.).
b) Unabhängig davon liegen die Voraussetzungen von § 533 Nr. 2 ZPO vor. Dieser Vorschrift zufolge kann eine erst in zweiter Instanz erfolgte Klageänderung oder Aufrechnungserklärung ebenso wie eine in der Berufungsinstanz erhobene Widerklage nur auf Tatsachen gestützt werden, die das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat. Daran gemessen ist die Widerklage zulässig.
aa) Gegenstand der Widerklage sind die Honoraransprüche des Beklagten aus der von ihm behaupteten anwaltlichen Tätigkeit. Die Revision verweist zu Recht darauf, dass diese Ansprüche in erster Instanz Tatsachenstoff waren, weil der Beklagte aus ihnen die Wirksamkeit der abstrakten Schuldanerkenntnisse hergeleitet hat. Der wechselseitige Parteivortrag hatte nicht nur das Zustandekommen einer Honorarvereinbarung zwischen den Parteien zum Gegenstand, sondern auch den Inhalt und den Umfang der einzelnen Aufträge sowie das Ausmaß der entfalteten Tätigkeit. Das Landgericht ist davon ausgegangen, dass Honoraransprüche in erheblicher Höhe bestehen. Weil es das abstrakte Schuldanerkenntnis als wirksam angesehen hat, hat es hierzu keine näheren Feststellungen getroffen. Auch das Berufungsgericht hat die Honorarforderungen für die Entscheidung über die Klage als unerheblich angesehen; es hat angenommen, dass die Bestellung der Grundschulden und die Abgabe der Schuldanerkenntnisse unabhängig von bestehenden Forderungen auf einem anwaltlichen Beratungsfehler des Beklagten beruhten. Die Vollstreckungsgegenklage hat es aufgrund des daraus entstandenen Schadensersatzanspruchs gemäß § 242 BGB als begründet angesehen.
bb) Rechtsfehlerhaft geht das Berufungsgericht davon aus, der in der Berufungsinstanz zugrunde zu legende Tatsachenstoff beschränke sich auf das Tatsachenvorbringen, das für die Entscheidung des Gerichts erster Instanz "nach Rechtsauffassung des Berufungsgerichts" erheblich sei.
(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gelangt der gesamte in erster Instanz vorgetragene Tatsachenstoff in die Berufungsinstanz, auch wenn ihn das erstinstanzliche Gericht als unerheblich ansieht und es daher keine Feststellungen trifft (Senat, Urteil vom 19. März 2004 - V ZR 104/03, BGHZ 158, 295, 309 f.; BGH, Urteil vom 27. September 2006 - VIII ZR 19/04, NJW 2007, 2414 Rn. 16; Urteil vom 13. April 2011 - XII ZR 110/09, NJW 2011, 2796 Rn. 35 mwN; MünchKomm-ZPO/Rimmerspacher, 3. Aufl., § 529 Rn.7; Musielak/Ball, ZPO, 8. Aufl., § 529 Rn. 3). Hierfür spricht zunächst die einfache Überlegung, dass Vortrag nicht deshalb neu ist, weil er in erster Instanz für unerheblich befunden wurde (vgl. § 531 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 ZPO; BGH, Urteil vom 22. April 2010 - IX ZR 160/09, NJW-RR 2010, 1286 Rn. 12). In diesem Fall ist es Aufgabe des Berufungsgerichts, die erforderlichen Feststellungen zu treffen. Nichts anderes gilt, wenn die Tatsachen erst durch eine in zweiter Instanz erfolgte Klageänderung erheblich geworden sind. "Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen" im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO können sich auch aus neuen Angriffs- und Verteidigungsmitteln ergeben, die in der Berufungsinstanz zu berücksichtigen sind (Senat, Urteil vom 19. März 2004 - V ZR 104/03, BGHZ 158, 295, 310; Urteil vom 27. September 2006 - VIII ZR 19/04, NJW 2007, 2414 Rn. 16; Musielak/Ball, ZPO, 8. Aufl., § 529 Rn. 19).
(2) Diese Erwägungen gelten in gleicher Weise für die in zweiter Instanz erhobene Widerklage. Wird sie - wie hier - auf Vorbringen gestützt, das bereits in erster Instanz erfolgt und deshalb nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO beachtlich ist, sind die Voraussetzungen von § 533 Nr. 2 ZPO erfüllt (Musielak/Ball, ZPO, 8. Aufl., § 533 Rn. 21 f.; Zöller/Heßler, ZPO, 29. Aufl., § 533 Rn. 34 f.). Dies gilt ebenso, wenn die Widerklage auf neues unstreitiges Vorbringen gestützt wird (§ 529 Abs. 1 Nr. 2, § 531 Abs. 2 Nr. 3 ZPO; vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 2004 - II ZR 394/02, NJW-RR 2005, 437).
(3) Entgegen der in der Revisionserwiderung vertretenen Rechtsauffassung enthält § 533 Nr. 2 ZPO keine weiteren Anforderungen an die Zulässigkeit der Widerklage. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob das Vorbringen (auch) für die Klage erheblich ist. Eine solche zusätzliche Einschränkung kann schon dem Wortlaut des § 533 Nr. 2 ZPO nicht entnommen werden. Zwar heißt es dort, die Widerklage könne nur auf Tatsachen gestützt werden, die "das Berufungsgericht seiner Verhandlung und Entscheidung über die Berufung ohnehin nach § 529 ZPO zugrunde zu legen hat". Diese Formulierung knüpft aber wörtlich an den Eingangssatz von § 529 Abs. 1 ZPO an; schon daraus folgt, dass das Tatsachenvorbringen, auf das die Widerklage gestützt wird, (nur) die in jener Norm enthaltenen Anforderungen erfüllen muss. Dies war auch die erklärte Absicht des Gesetzgebers. § 533 Nr. 2 ZPO soll verhindern, dass über die Widerklage neuer Tatsachenstoff eingeführt wird, der nach § 529 ZPO nicht zugrunde zu legen ist; umgekehrt soll der Tatsachenstoff ausreichen, um über die Widerklage entscheiden zu können. Nur durch die Bezugnahme auf § 529 ZPO soll eine "Flucht in die Widerklage" mit dem Ziel der Verfahrensverzögerung in der Berufungsinstanz verhindert werden (BT-Drucks. 14/4722 S. 102; Musielak/Ball, ZPO, 8. Aufl., § 533 Rn. 21). Wird eine aufwendige Beweisaufnahme über im ersten Rechtszug vorgetragene Tatsachen ausschließlich im Hinblick auf die in zweiter Instanz erhobene Widerklage erforderlich, kann dies bei fehlender Einwilligung des Gegners allenfalls dazu führen, dass die Sachdienlichkeit gemäß § 533 Nr. 1 ZPO zu verneinen ist. Ob der Beklagte - wie die Klägerin geltend macht - im Hinblick auf einzelne Forderungen aktivlegitimiert ist, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit der Widerklage.
3. Auch im Übrigen ist die Widerklage zulässig. Die Voraussetzungen des § 533 Nr. 1 ZPO liegen vor. Die Klägerin hat sich rügelos zur Sache eingelassen und die Abweisung der Widerklage beantragt. Sie hat damit eingewilligt (vgl. BGH, Urteil vom 6. Dezember 2004 - II ZR 394/02, NJW-RR 2005, 437) mit der Folge, dass es nicht auf die Sachdienlichkeit ankommt.
III.
Das Urteil kann danach keinen Bestand haben; es ist im Umfang der Anfechtung aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, das die für die Entscheidung über die Widerklage erheblichen Tatsachen bislang nicht festgestellt hat.
Krüger Lemke Czub
Brückner Weinland