Entscheidungsdatum: 29.04.2011
Die Ausschlussfrist nach § 3 Abs. 3 Satz 2 NRG BW gilt auch bei genehmigungsfreien Vorhaben; Fristbeginn ist anstelle des Zugangs der Benachrichtigung nach § 55 LBO BW der Zeitpunkt, in welchem der Nachbar von der (beabsichtigten) Baumaßnahme Kenntnis erlangt .
Auf die Revision des Klägers wird - unter Zurückweisung des Rechtsmittels im Übrigen - das Urteil der 1. Zivilkammer des Landgerichts Ulm vom 4. August 2010 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung gegen die Abweisung der auf Beseitigung des Terrassenvordachs gerichteten Klage zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird auf die Berufung des Klägers das Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 8. März 2010 abgeändert. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, das sich auf ihrem Grundstück S. weg 9, U., Flurstücks-Nr. … der Gemarkung U., befindliche und der gemeinsamen Grundstücksgrenze zwischen den Flurstücken Nr. … und Nr. … der Gemarkung U. zugewandte Terrassenvordach so zu beseitigen, dass dieses nicht näher als einen Meter an die Grundstücksgrenze heranragt.
Von den erstinstanzlichen Kosten tragen die Beklagten 37,5 % und der Kläger 62,5 %; die Kosten der Rechtsmittelverfahren werden gegeneinander aufgehoben.
Von Rechts wegen
Die Parteien sind Eigentümer aneinandergrenzender Grundstücke. Die Beklagten vergrößerten eine an der der gemeinsamen Grundstücksgrenze zugewandten Hausseite befindliche Terrasse und montierten dort ein Vordach. Eine Benachrichtigung des Klägers durch die Gemeinde erfolgte nicht. Sowohl die Terrasse als auch das Vordach halten den gesetzlich geforderten Grenzabstand zu dem Grundstück des Klägers nicht ein.
Die - soweit hier von Interesse - auf den Rückbau der Terrasse bis zu einem Grenzabstand von 1,80 m und auf die Beseitigung des Vordaches bis zu einem Abstand von 2 m von der Gebäudeaußenseite gerichtete Klage hat das Amtsgericht abgewiesen. Die Berufung ist erfolglos geblieben. Mit der in dem Urteil des Landgerichts zugelassenen Revision verfolgt der Kläger die Klageanträge weiter.
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts sind die Terrasse und das Vordach als Einheit zu betrachten. Der beide betreffende Beseitigungsanspruch sei ausgeschlossen, weil der Kläger ihn nicht innerhalb der in dem Nachbarrechtsgesetz für Baden-Württemberg normierten Frist von zwei Monaten erhoben habe. Die Wertung der gesetzlichen Regelungen über den Überbau sei nicht zugunsten des Klägers zu berücksichtigen.
II.
Das hält rechtlicher Nachprüfung nur zum Teil stand.
1. Im Ergebnis zu Recht verneint das Berufungsgericht einen Anspruch auf Rückbau der Terrasse.
a) Nach der Regelung in § 4 Abs. 1 des Nachbarrechtsgesetzes für Baden-Württemberg (NRG BW) kann der Eigentümer eines Grundstücks verlangen, dass vor Balkonen, Terrassen, Erkern, Galerien und sonstigen begehbaren Teilen eines Nachbarhauses, die einen Ausblick auf sein Grundstück gewähren, auf dem Nachbargrundstück Abstandsflächen eingehalten werden, die in der Tiefe mindestens 1,80 m über die Vorderkante und in der Breite auf jeder Seite mindestens 0,60 m über die Seitenkante der genannten Gebäudeteile hinausreichen. Die Terrasse auf dem Grundstück der Beklagten unterliegt diesem Abwehranspruch, weil sie den gesetzlichen Mindestabstand zu der Grenze zwischen den Grundstücken des Klägers und der Beklagten in der Tiefe unterschreitet.
b) Ob der Anspruch seine Grundlage in der Vorschrift selbst hat (Bruns, NRG BW, § 4 Rn. 13) oder, was für das Verlangen - wie hier - nach der Beseitigung einer bereits fertig gestellten Terrasse näher liegt, § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit § 4 Abs. 1 NRG BW die richtige Anspruchsgrundlage ist (OLG Karlsruhe, OLGR 1999, 266; Reich, NRG BW, § 4 Rn. 5), kann offen bleiben. Denn in beiden Fällen ist nach § 4 Abs. 2 in Verbindung mit § 3 Abs. 3 NRG BW die Geltendmachung des Anspruchs ausgeschlossen.
aa) Der Ausschlusstatbestand in § 3 Abs. 3 Satz 1 NRG BW steht dem Anspruch allerdings nicht entgegen. Das gilt sowohl für den ersten Ausschlussgrund, dass das Verlangen nach Einhaltung des Grenzabstands nicht gestellt werden kann, wenn keine oder nur geringfügige Beeinträchtigungen zu erwarten sind, als auch für den zweiten Ausschlussgrund, dass das Vorhaben nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften zulässig ist. Dass beides nicht zutrifft, ist im Berufungsverfahren zwischen den Parteien nicht mehr streitig gewesen.
bb) Die Durchsetzung des Anspruchs scheitert jedoch an dem Ausschlusstatbestand in § 3 Abs. 3 Satz 2 NRG BW.
(1) Nach dieser Vorschrift ist das Verlangen nach Einhaltung der Abstandsfläche nach dem Ablauf von zwei Monaten seit dem Zugang der Benachrichtigung davon, dass der Nachbar einen Bauantrag oder - in dem Fall der Einleitung eines Kenntnisgabeverfahrens (§ 51 LBO BW) - Bauvorlagen bei der Gemeinde eingereicht hat (§ 55 LBO BW), ausgeschlossen. Nach dieser Regelung ist der Kläger mit seinem Verlangen nicht präkludiert. Denn weil es sich bei der Vergrößerung der Terrasse um ein verfahrensfreies Vorhaben handelt (§ 50 Abs. 1 LBO BW), hat keine die Ausschlussfrist in Gang setzende Nachbarbeteiligung nach § 55 LBO BW stattgefunden.
(2) Die Vorschrift ist jedoch entsprechend anwendbar.
(a) § 4 NRG BW enthält eine planwidrige Regelungslücke. Der Gesetzgeber hat nicht bedacht, dass einerseits die Errichtung der in § 4 Abs. 1 NRG BW genannten Terrassen zu den verfahrensfreien Vorhaben gehört, bei denen es keine Nachbarbeteiligung gibt, und dass andererseits der Verweis auf § 3 Abs. 3 NRG BW auch die Regelung in Satz 2 dieser Vorschrift erfasst, die an die Nachbarbeteiligung bei genehmigungs- und kenntnisgabepflichtigen Vorhaben anknüpft. Dies hat zur Folge, dass der mit dem Ausschlussgrund verfolgte Zweck, dem Bauherren frühzeitig Klarheit darüber zu verschaffen, ob er bei der beabsichtigten Maßnahme Änderungen aufgrund von nachbarrechtlichen Einwendungen vornehmen muss (vgl. Bruns, aaO, § 3 Rn. 21; Karremann/Kahl, Nachbarrecht Baden-Württemberg, 18. Aufl., §§ 3-5 NRG Rn. 7; Pelka, Nachbarrecht in Baden-Württemberg, 21. Aufl., S. 81; Reich, aaO, § 3 Rn. 9), bei genehmigungsfreien Vorhaben nicht erreicht werden kann, weil es bei ihnen keine Nachbarbeteiligung gibt, welche den Beginn der Ausschlussfrist bestimmt. Dass diese Folge nicht gewollt ist, ergibt sich aus der Aufzählung von Anlagen in § 4 Abs. 1 NRG BW, die sowohl genehmigungs- bzw. kenntnisgabepflichtige als auch verfahrensfreie Vorhaben enthält, und aus der Verweisung in § 4 Abs. 2 NRG BW, die sich auf sämtliche Vorhaben bezieht.
(b) Die Lücke kann nur so geschlossen werden, dass dem in § 3 Abs. 3 Satz 2 NRG BW genannten Zeitpunkt des Zugangs der Benachrichtigung nach § 55 LBO BW bei genehmigungsfreien Vorhaben der Zeitpunkt gleichgestellt wird, in welchem der Nachbar von der (beabsichtigten) Baumaßnahme Kenntnis erlangt. Denn hinsichtlich der Wahrung seiner Rechte ist dieser Zeitpunkt mit dem in dem Gesetz genannten Zeitpunkt vergleichbar. Die Benachrichtigung von dem Bauvorhaben (§ 55 Abs. 1 Satz 1 LBO BW) gibt dem Nachbarn Gelegenheit, den Bauantrag und die Bauvorlagen bei der Gemeinde einzusehen (Sauter, LBO BW [Stand März 2010], § 55 Rn. 16). Die etwaige Verletzung nachbarrechtlicher Vorschriften kann er der Benachrichtigung selbst also nicht entnehmen; er erhält lediglich Kenntnis davon, dass auf dem angrenzenden Grundstück ein Bauvorhaben verwirklicht werden soll. Ebenso verhält es sich, wenn der Nachbar anderweitig erfährt, dass auf dem angrenzenden Grundstück gebaut werden soll, und erst recht, wenn er den Beginn der Baumaßnahme sieht. Auch dies vermittelt ihm die Kenntnis von der Verwirklichung eines Bauvorhabens. Dass dieses gegen nachbarrechtliche Vorschriften verstößt, muss er nicht erkennen, weil er von einem solchen Verstoß durch die Benachrichtigung nach § 55 LBO BW ebenfalls keine Kenntnis erlangt.
(3) Da der Kläger nach der in dem Berufungsverfahren nicht angegriffenen Feststellung des Amtsgerichts spätestens Ende Juli 2008 die Größe der Terrasse in Augenschein genommen, er nach seiner Behauptung aber erst am 13. oder 14. Oktober 2008 Einwendungen gegenüber der Gemeinde erhoben hat, ist er wegen Fristablaufs mit seinem Rückbauverlangen ausgeschlossen.
c) Entgegen der Auffassung des Klägers ist zu seinen Gunsten die Wertung des § 912 BGB, dass eine Duldungspflicht nur dann gegeben sein könne, wenn gegen den Überbau kein Widerspruch erhoben worden sei und keine vorsätzliche oder grob fahrlässige Rechtsverletzung vorliege, nicht zu berücksichtigen. Zwar findet § 912 BGB auch dann Anwendung, wenn gesetzliche Abstandsvorschriften nicht eingehalten werden (Senat, Urteil vom 5. Dezember 2003 - V ZR 447/01, NJW 2004, 1798, 1801). Aber die Vorschrift gilt nicht für das Rechtsverhältnis der Parteien. Sie betrifft den Überbau durch ein Gebäude oder ein anderes größeres Bauwerk; darum geht es nicht, wenn Nachbarn um den Bestand einer Terrasse streiten, die teilweise in eine Abstandsfläche hineinragt (vgl. Senat, Urteil vom 23. Oktober 2009 - V ZR 141/08, NJW-RR 2010, 315, 316).
2. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht jedoch einen Anspruch auf Teil-Beseitigung des Terrassenvordaches verneint. Er ergibt sich jedenfalls aus der entsprechenden Anwendung von § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB.
a) Die Verletzung nachbarschützender Bauvorschriften kann sowohl einen (quasi negatorischen) verschuldensunabhängigen Beseitigungsanspruch des Nachbarn nach § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog als auch einen auf Naturalrestitution gerichteten Schadensersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB begründen (Senat, Urteil vom 28. Juni 1985 - V ZR 43/84, NJW 1985, 2825, 2826).
aa) Nachbarschützend sind die bauordnungsrechtlichen Normen über den Grenzabstand, denn sie dienen auch dem Interesse des Nachbarn an ausreichender Belichtung und Belüftung seines Grundstücks sowie an einem freien Ausblick (Senat, Urteil vom 30. April 1976 - V ZR 188/74, BGHZ 66, 354, 355 f.; Urteil vom 28. Juni 1985 - V ZR 43/84, NJW 1985, 2825, 2826 f.; Urteil vom 11. Oktober 1996 - V ZR 3/96, NJW-RR 1997, 16, 17). Die Regelungen in den §§ 5, 6 LBO BW über die Abstandsflächen vor den Außenwänden von baulichen Anlagen, die von oberirdischen baulichen Anlagen freizuhalten sind, haben demnach (auch) nachbarschützende Wirkung (Sauter, LBO BW [Stand März 2010], § 55 Rn. 77); dies verdeutlicht die Vorschrift in § 6 Abs. 3 Nr. 2 LBO BW, nach der eine geringere Tiefe der Abstandsflächen u.a. dann zuzulassen ist, wenn die Beleuchtung mit Tageslicht sowie die Belüftung in ausreichendem Maß gewährleistet bleiben und nachbarliche Belange nicht erheblich beeinträchtigt werden. Auch die hier maßgebliche Regelung in § 4 der Ulmer Staffelbauordnung, nach der bei der hier gegebenen baulichen Situation Balkone, Erker, Treppen, Terrassen, Dachvorsprünge und andere Gebäudeteile in die drei Meter tiefe Abstandsfläche zwischen dem Wohnhaus der Beklagten und der Grenze zu dem Grundstück des Klägers höchstens zwei Meter hineinragen dürfen, hat nachbarschützende Wirkung.
bb) Nach dieser Vorschrift darf das Terrassenvordach nicht näher als einen Meter an die Grenze zu dem Grundstück des Klägers heranreichen. Diesen Abstand hält es nach der von dem Berufungsgericht übernommenen Feststellung des Amtsgerichts, welche die Beklagten nicht angegriffen haben, nicht ein. Der Kläger kann deshalb die Beseitigung des Daches verlangen, soweit es näher als einen Meter an die Grundstücksgrenze heranreicht. Die Beseitigung so weit, dass - wie mit der Klage gefordert - das Dach jedenfalls nicht weiter als zwei Meter von der Außenwand des Wohnhauses der Beklagten absteht, kann der Kläger dagegen nicht verlangen. Diesen Anspruch hätte er nur dann, wenn die Abstandsfläche zwischen dem Gebäude und der Grundstücksgrenze genau drei Meter betrüge. Das ist aber nicht festgestellt.
cc) Bei dem auf § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog gestützten Anspruch kommt es nicht darauf an, ob die Beklagten bei der Montage des Vordaches schuldhaft den Grenzabstand verletzt haben.
b) Eine Duldungspflicht des Klägers nach § 912 Abs. 1 BGB besteht bereits deshalb nicht, weil das Vordach kein Gebäude im Sinne der Vorschrift ist und auch nicht zu den Teilen des Wohnhauses der Beklagten gehört, die nicht von diesem getrennt werden können, ohne dass das Dach oder das Gebäude zerstört oder in ihrem Wesen verändert wird (vgl. Senat, Urteil vom 22. Mai 1981 - V ZR 102/80, NJW 1982, 756).
c) Der Ausschlusstatbestand in § 3 Abs. 3 Satz 2 NRG BW liegt nicht vor.
aa) Er gilt unmittelbar nur für das Verlangen nach der Einhaltung von Abstandsflächen vor Lichtöffnungen in der Außenwand eines Nachbargebäudes und entsprechend für das Verlangen nach der Einhaltung von Abstandsflächen vor Ausblick gewährenden begehbaren Anlagen auf dem Nachbargrundstück. Ein Vordach gehört weder zu dem einen noch zu dem anderen. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts bilden die Terrasse und ihre Überdachung weder tatsächlich noch rechtlich eine Einheit. Beide sind nicht baulich miteinander verbunden. Sowohl die eine als auch das andere erfüllen jeweils allein die ihnen zugedachten Zwecke. Der Ausschluss des Beseitigungsverlangens hinsichtlich der Terrasse erfasst somit nicht das Vordach.
bb) Entgegen der von dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vertretenen Ansicht scheidet die analoge Anwendung der Vorschrift auf Vordächer angesichts der eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers, für welche Anlagen die Ausschlussfrist gilt, aus.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
Krüger Lemke Schmidt-Räntsch
Stresemann Czub