Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 29.09.2010


BGH 29.09.2010 - V ZB 233/10

Ausländerrecht: Verhältnismäßigkeit der Anordnung der Abschiebungshaft gegen einen Minderjährigen; Amtsermittlung bei Zweifeln an der Minderjährigkeit; Überprüfbarkeit der Beschwerdeentscheidung betreffend die Annahme der Volljährigkeit


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
5. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
29.09.2010
Aktenzeichen:
V ZB 233/10
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend LG Frankfurt, 19. August 2010, Az: 2-28 T 135/10vorgehend AG Frankfurt, 20. Juli 2010, Az: 934 XIV 1340/10, Beschluss
Zitierte Gesetze

Tenor

Dem Betroffenen wird unter Zurückweisung des Antrags im Übrigen und unter Beiordnung von Rechtsanwalt Wassermann für den Aussetzungsantrag Verfahrenskostenhilfe bewilligt.

Der Antrag des Betroffenen, die Vollziehung des Beschlusses des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 20. Juli 2010 bis zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde auszusetzen, wird zurückgewiesen.

Gründe

I.

1

Der Betroffene, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste eigenen Angaben zufolge am 17. Juli 2010 aus Österreich ohne die erforderlichen Papiere oder einen Aufenthaltstitel in die Bundesrepublik Deutschland ein und wurde am 19. Juli 2010 festgenommen. Der Betroffene hatte bereits in Österreich einen Asylantrag gestellt und dort angegeben, am 1. Januar 1991 geboren zu sein. Im Rahmen seiner polizeilichen Vernehmung machte er zu seinem Geburtsdatum keine Angaben. Bei seiner persönlichen Anhörung durch den Haftrichter gab er an, er sei 17 Jahre alt und im Jahr 1993 geboren.

2

Das Amtsgericht hat auf Antrag der Beteiligten zu 2 gegen den Betroffenen, der nach Österreich zurückgeschoben werden soll, die Sicherungshaft bis längstens 19. Oktober 2010 angeordnet. Die Beschwerde hat das Landgericht nach erneuter persönlicher Anhörung des Betroffenen, in der jener angegeben hat, er wisse sein Alter nicht, und ihm sei gesagt worden, er solle sich stets als Siebzehnjähriger ausgeben, zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Betroffenen. Er beantragt zunächst, die Vollziehung der Abschiebungshaft einstweilen auszusetzen.

II.

3

Das Beschwerdegericht geht davon aus, dass der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig ist. Es hält die Anordnung von Zurückschiebungshaft nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG für zulässig und geboten. Dem stehe die Behauptung des Betroffenen, noch nicht volljährig zu sein, nicht entgegen. Nach seinem Aussehen und Auftreten sei der Betroffene deutlich älter als 18 Jahre. Die Kammer könne dies einschätzen, weil sie als Jugendstrafkammer in vielen Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende mit Migrationshintergrund - auch aus dem zentralasiatischen Raum - zu entscheiden habe.

III.

4

Der in entsprechender Anwendung von § 64 Abs. 3 FamFG zulässige Antrag auf einstweilige Aussetzung der Vollziehung der Sicherungshaft bleibt in der Sache ohne Erfolg.

5

Das Rechtsbeschwerdegericht hat bei der Entscheidung über den Aussetzungsantrag die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels und die drohenden Nachteile für den Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Die Aussetzung der Vollziehung einer Freiheitsentziehung, die durch das Beschwerdegericht bestätigt worden ist, wird danach regelmäßig nur in Betracht kommen, wenn das Rechtsmittel bei summarischer Prüfung Aussicht auf Erfolg hat oder die Rechtslage zumindest zweifelhaft ist (vgl. Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97; Beschluss vom 18. August 2010 - V ZB 211/10, Rn. 8).

6

Daran fehlt es hier.

7

1. Die Annahme des Haftgrundes nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FamFG ist frei von Rechtsfehlern. Nach dieser Vorschrift ist gegen einen Ausländer, der infolge einer unerlaubten Einreise vollziehbar ausreisepflichtig ist und zurückgeschoben (§ 57 AufenthG) werden soll, die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung anzuordnen, wenn der Ausländer nicht nach § 62 Abs. 2 Satz 3 AufenthG glaubhaft gemacht hat, er werde sich der Zurückschiebung nicht entziehen. Die hierzu von dem Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen sind für den Senat nach §§ 74 Abs. 3 Satz 4 FamFG, 559 Abs. 2 ZPO bindend. Rechtsfehler sind weder ersichtlich, noch hat der Betroffene insoweit Verfahrensfehler gerügt (§ 71 Abs. 3 Nr. 2b FamFG).

8

2. Im Ergebnis nicht zu beanstanden wird auch die Auffassung des Beschwerdegerichts sein, dass das Alter des Betroffenen der Inhaftierung nicht entgegensteht.

9

a) Allerdings kommt bei minderjährigen Ausländern dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der Anordnung von Sicherungshaft wegen der Schwere des Eingriffs besondere Bedeutung zu (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 30. August 2004 - 20 W 245/04, juris, Rn. 3; OLG Köln, OLGR 2003, 193; OLG München, OLGR 2005, 393, 394; OLG Rostock, OLGR 2006, 993, 994; OLG Zweibrücken, OLGR 2006, 599; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand, 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rn. 31; Art. 17 RL 2008/115/EG, ABl. L 348 S. 97, 106; s. auch Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 - V ZB 9/10, Rn. 27, juris). Anstelle von Haft kommt beispielsweise in Betracht, den Ausländer in einer Einrichtung für Jugendliche unterzubringen, ihm Meldepflichten aufzuerlegen oder anderweitig in seiner Bewegungsfreiheit räumlich zu beschränken (vgl. OLG Köln, NVwZ 2003, Beilage I 8/2003, S. 64).

10

b) Der Senat wird indes an die Feststellung des Beschwerdegerichts gebunden sein, dass der Betroffene volljährig ist.

11

aa) Mit der Rechtsbeschwerde kann nicht geltend gemacht werden, die Folgerungen des Tatrichters seien nicht zwingend oder eine andere Schlussfolgerung liege ebenso nahe (Senat, Beschluss vom 10. Februar 2000 - V ZB 5/00, FGPrax 2000, 130). Bei Zweifeln über die Minderjährigkeit des Betroffenen sind allerdings hohe Anforderungen an die Ausfüllung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 26 FamFG) zu stellen, und im Zweifel ist zugunsten des Betroffenen zu entscheiden (vgl. OLG Köln, OLGR 2009, 811, 812). Der Rechtsbeschwerde ist auch zuzugeben, dass die auf ein großes Erfahrungswissen gestützte Einschätzung des Haftrichters, der Betroffene sei volljährig, in der Regel nicht ausreicht, um ein sicheres Bild zu gewinnen. Vielmehr sind die nach § 49 Abs. 3 i.V.m. Abs. 6 AufenthG vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen.

12

bb) Im vorliegenden Fall hat sich das Beschwerdegericht als Tatgericht aber nicht darauf beschränkt, bei der Beurteilung des Lebensalters des Betroffenen auf seine Erfahrung abzustellen. Vielmehr hat es die eigenen Angaben des Betroffenen einer kritischen Würdigung unterzogen. Dabei hat es entscheidend darauf abgehoben, dass der Betroffene sich im Zusammenhang mit dem Asylantrag in Österreich als volljährig dargestellt und erst bei seiner Anhörung vor dem Amtsgericht angegeben hat, er sei am 1. Januar 1993 geboren. Die Widersprüchlichkeit seiner Angaben hat er damit begründet, "die Jungs" hätten ihm geraten, er solle, egal wo er gefragt werde, angeben, erst 17 Jahre alt zu sein. Dass das Beschwerdegericht aus diesen besonderen Umständen und gestützt auf den eigenen Erfahrungsschatz den Schluss darauf gezogen hat, dass der Betroffene volljährig ist, ist eine durchaus mögliche, wenn nicht sogar naheliegende Würdigung, die einer Prüfung im Rechtsbeschwerdeverfahren standhalten dürfte.

13

3. Die angefochtene Entscheidung wird auch im Hinblick darauf nicht zu beanstanden sein, dass die Haft unzulässig ist, wenn feststeht, dass die Zurückschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG). Nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts ist Österreich nach der Dublin II-Verordnung zur Rückübernahme verpflichtet. Bei normalem Verfahrensgang ist davon auszugehen, dass die Zurückschiebung in einen Mitgliedstaat innerhalb von drei Monaten seit der Haftanordnung wird erfolgen können (vgl. OLG Hamm, InfAuslR 2010, 202, 203). Die Identität des Betroffenen steht fest, und im Rahmen der Zurückschiebung nach der Dublin II-Verordnung hat der um Rückübernahme ersuchte Staat die Fristen nach Art. 17 Abs. 2 (sog. Dringlichkeitsverfahren) und Art. 18 Abs. 1, 6 und 7 Dublin II-Verordnung, Art. 3 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 des Rates mit Durchführungsbestimmungen zur Dublin II-Verordnung (ABl. L 222 S. 3) zu beachten. Nach Art. 18 Abs. 7 Dublin II-Verordnung gilt die Zustimmung des Staates zur Rückübernahme des Ausländers gar als erteilt, wenn nicht innerhalb der Monats- beziehungsweise Zwei-Monats-Frist eine Entscheidung ergangen ist (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 152).

IV.

14

Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Antrag auf Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe für das Rechtsbeschwerdeverfahren mangels hinreichender Erfolgsaussicht zurückzuweisen ist, § 76 Abs. 1 FamFG, § 114 ZPO.

Krüger                                          Lemke                                 Schmidt-Räntsch

                    Stresemann                                      Roth