Entscheidungsdatum: 12.12.2012
NV: Macht der Steuerpflichtige geltend, ihm sei der Vorsteuerabzug trotz Nichtvorliegens der materiell-rechtlichen Voraussetzungen zu gewähren, handelt es sich um einen Antrag auf eine Billigkeitsentscheidung nach § 163 AO, da § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG einen Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung des Vorsteuerabzuges nicht vorsieht .
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, erwarb am 1. Februar 2006 einen Entsorgungsbetrieb. Die hierfür in der Rechnung gesondert ausgewiesene Umsatzsteuer in Höhe von 19.200 € machte die Klägerin erfolglos im Rahmen der Umsatzsteuervoranmeldung für Februar 2006 und in der Umsatzsteuerjahreserklärung für 2006 als Vorsteuer geltend. Auch ein später gestellter Antrag auf Änderung des Umsatzsteuerbescheides für 2006 blieb ohne Erfolg.
Mit ihrem Einspruch gegen den Umsatzsteueränderungsbescheid für 2006 vom 22. Oktober 2008, mit dem der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben wurde, verfolgte die Klägerin ihr Begehren weiter. Mit Einspruchsentscheidung vom 10. Dezember 2009 wies der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) den Einspruch als unbegründet zurück.
Darüber hinaus beantragte die Klägerin unter Hinweis auf § 257 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) in Höhe des geltend gemachten Vorsteuerabzugs die Rückzahlung der im Rahmen der Vollstreckung des Umsatzsteuervorauszahlungsbescheides für Februar 2006 beigetriebenen Beträge. Auch diesen Antrag lehnte das FA ab und wies den hiergegen gerichteten Einspruch mit Bescheid vom 16. Dezember 2009 als unbegründet zurück.
Die Klage vor dem Finanzgericht (FG) hatte keinen Erfolg.
Mit der Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision und macht geltend, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderten eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs --BFH--(§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO). Von grundsätzlicher Bedeutung sei, ob und inwieweit ein FG Interpretationen von Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und höchstrichterlichen Entscheidungen vornehmen dürfe, die offensichtlich mit dem klaren Wortlaut dieser Entscheidungen nicht mehr im Einklang stünden. Insbesondere im Hinblick auf die im Streitfall relevante Vorsteuerabzugsberechtigung diene eine Entscheidung des BFH der Fortbildung des Rechts und der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung. Zudem liege ein Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) vor, da das FG ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzt habe. Die Entscheidung des FG verstoße im Ergebnis gegen das Urteil des EuGH vom 25. März 2007 C-35/05, Reemtsma (Slg. 2007, I-2425, BFH/NV 2007, Beilage 3, 293).
Das FA ist der Nichtzulassungsbeschwerde entgegengetreten.
II. Die Beschwerde ist unzulässig.
1. Gemäß § 115 Abs. 2 FGO ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO), der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung oder der Fortbildung des Rechts dient (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) oder Verfahrensmängel vorliegen, auf denen die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO im Einzelnen dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdeschrift nicht.
2. Einen Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO hat die Klägerin nicht schlüssig dargelegt.
a) Der verfassungsrechtlich gewährleistete Anspruch auf Gewährung des rechtlichen Gehörs umfasst sowohl das Recht der Beteiligten, sich hinreichend zur Sache äußern zu können, als auch die Pflicht des Gerichts, das Vorbringen der Kläger zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 17. Mai 2011 V B 73/10, BFH/NV 2011, 1544, m.w.N.). Die Gewährung des rechtlichen Gehörs bedeutet jedoch nicht, dass das Gericht die Klägerin "erhört", sich also ihren rechtlichen Ansichten oder ihrer Sachverhaltswürdigung anschließt (BFH-Beschluss vom 13. April 2007 V B 122/05, BFH/NV 2007, 1517). Der schlüssige Vortrag der Verletzung des rechtlichen Gehörs setzt somit voraus, dass besondere Umstände vorgetragen werden, aus denen sich ergibt, dass das Gericht dem Vortrag der Klägerin nicht nur nicht gefolgt, sondern ihn nicht zur Kenntnis genommen hat (BFH-Beschluss in BFH/NV 2011, 1544). Der Vortrag, das FG habe gegen eine die deutschen Gerichte bindende Entscheidung "des EuGH judiziert und diese missachtet", genügt diesen Anforderungen nicht.
b) Letztlich rügt die Klägerin mit ihrem Vorbringen eine unzutreffende Auslegung der vom EuGH in der Rechtssache Reemtsma in Slg. 2007, I-2425, BFH/NV 2007, Beilage 3, 293 konkretisierten Grundsätze, wonach bei Zahlungsunfähigkeit des Leistenden dem Leistungsempfänger ermöglicht werden müsste, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Umsatzsteuer erstattet zu bekommen, also einen materiell-rechtlichen Fehler. Ein Fehler bei der Rechtsanwendung kann nur ausnahmsweise nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zur Zulassung der Revision führen, wenn es sich um einen schwerwiegenden Rechtsanwendungsfehler handelt, der geeignet ist, das Vertrauen in die Rechtsprechung zu beschädigen. Ein derartiger Fehler liegt jedoch nur dann vor, wenn die angefochtene FG-Entscheidung objektiv willkürlich und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar ist (z.B. BFH-Beschluss vom 25. März 2010 X B 176/08, BFH/NV 2010, 1455, m.w.N.). Einen solchen qualifizierten Rechtsanwendungsfehler des FG hat die Klägerin nicht dargelegt.
3. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen. Insoweit fehlt es an der schlüssigen Darlegung, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsfrage beruht, deren Klärung das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt, die zudem klärungsbedürftig und im Streitfall klärungsfähig ist (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 24. Juli 2012 V B 76/11, BFH/NV 2012, 1840).
a) Die von der Klägerin als grundsätzlich bedeutsam erachtete Frage, ob und inwieweit ein FG von einer Entscheidung des EuGH abweichen darf, ist in einem künftigen Revisionsverfahren nicht klärungsfähig, da sie in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich wäre und deshalb in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht geklärt werden könnte (vgl. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2012, 1840, und vom 4. Mai 2011 VI B 152/10, BFH/NV 2011, 1347). Das Urteil des FG steht entgegen der Auffassung der Klägerin nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH.
b) Der EuGH führt im Urteil Reemtsma in Slg. 2007, I-2425, BFH/NV 2007, Beilage 3, 293 Rdnrn. 41 f. aus, dass in Fällen, in denen die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird, insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers, die Grundsätze der Neutralität und der Effektivität es gebieten können, dass der Dienstleistungsempfänger seinen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richten kann. Die Mitgliedstaaten müssen deshalb die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen. Gleichzeitig betont der EuGH jedoch, dass nach ständiger Rechtsprechung mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats sind (vgl. EuGH-Urteil in Reemtsma in Slg. 2007, I-2425 Rdnr. 40; vom 19. September 2000 C-454/98, Schmeink & Cofreth und Strobel, Slg. 2000, I-6973, BFH/NV 2001, 33, Beilage 1 Randnrn. 65, 66, Leitsatz).
c) Macht der Steuerpflichtige geltend, ihm sei der Vorsteuerabzug trotz Nichtvorliegens der materiell-rechtlichen Voraussetzungen zu gewähren, handelt es sich um einen Antrag auf eine Billigkeitsentscheidung nach § 163 AO, da im Rahmen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes ein Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung des Vorsteuerabzuges nicht vorgesehen ist (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 12. Oktober 2010 V B 134/09, BFH/NV 2011, 326). Die Billigkeitsentscheidung ist zwar nach § 163 Satz 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden, gleichwohl sind Steuerfestsetzung und Billigkeitsentscheidung zwei Verwaltungsakte (BFH-Beschluss in BFH/NV 2011, 326). Im Streitfall war Gegenstand des Klageverfahrens nur die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheides und die Aufhebung von Vollstreckungsmaßnahmen nach § 257 Abs. 2 Satz 1 AO. In diesen Verfahren kann --wie das FG zu Recht entschieden hat-- eine Billigkeitsmaßnahme nicht erreicht werden.
4. Auch die Fortbildung des Rechts erfordert keine Entscheidung des BFH (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO), weil auch dieser Zulassungsgrund eine klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage voraussetzt (BFH-Beschlüsse vom 29. September 2011 IV B 56/10, BFH/NV 2012, 266, unter 1.b; vom 18. September 2012 VI B 9/12, BFH/NV 2012, 1961).
5. Eine Entscheidung des BFH ist darüber hinaus auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) wegen Divergenz des Urteils des FG zu dem EuGH-Urteil Reemtsma in Slg. 2007, I-2425, BFH/NV 2007, Beilage 3, 293 zuzulassen. Zur Darlegung einer Divergenz muss der Beschwerdeführer tragende und abstrakte Rechtssätze aus dem angefochtenen FG-Urteil einerseits und aus der behaupteten Divergenzentscheidung andererseits herausarbeiten und einander gegenüberstellen, um so eine Abweichung zu verdeutlichen. Dabei ist insbesondere auszuführen, dass es sich im Streitfall um einen vergleichbaren Sachverhalt und um eine identische Rechtsfrage handelt (BFH-Beschlüsse vom 17. Januar 2006 VIII B 172/05, BFH/NV 2006, 799; vom 1. Dezember 2006 VIII B 2/06, BFH/NV 2007, 450; vom 11. Mai 2012 V B 106/11, BFH/NV 2012, 1339). Im Streitfall fehlt es schon an der Herausarbeitung zweier einander widersprechender Rechtssätze. Die Klägerin hat zwar aus dem Urteil des EuGH den Rechtssatz herausgearbeitet, dass für den Fall, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird, die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel vorsehen müssen, die es ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen. Sie hat aber keinen dem widersprechenden, die Entscheidung tragenden Rechtssatz aus dem FG-Urteil herausgearbeitet. Das ist auch nicht möglich, da das FG-Urteil (wie unter II.2. dargestellt) nicht vom EuGH-Urteil Reemtsma in Slg. 2007, I-2425, BFH/NV 2007, Beilage 3, 293 abweicht.