Entscheidungsdatum: 25.02.2010
1. NV: Ein Verfahrensfehler in Form der Verletzung des rechtlichen Gehörs liegt vor, wenn das FG dem Stpfl. Tatsachen, Beweismittel oder Beweisergebnisse vorenthält, die das Ergebnis des Verfahrens beeinflussen können.
2. NV: Die Pflicht des FG dem Stpfl. gem. § 75 FGO die Grundlagen der Besteuerung mitzuteilen, hat als Ausfluss des rechtlichen Gehörs den Zweck, dem Stpfl. die Kenntnis zu verschaffen, wogegen er sich verteidigen soll. Sie hat nicht den Zweck, dem Stpfl. in Verfahren mit komplexen Sachverhalten die ergänzende Akteneinsicht nach § 78 FGO zu ersparen.
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) wendet sich mit der Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Entscheidung des Finanzgerichts (FG), mit der das FG u.a. die Anerkennung von steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferungen von Computerteilen an verschiedene holländische und belgische Firmen nach den § 4 Nr. 1 Buchst. b und § 6a Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) versagt hat.
Zur Begründung hat das FG ausgeführt, die Lieferungen seien nicht steuerbefreit, weil die Klägerin keine zeitnah erstellten Versicherungen der jeweiligen Abnehmer vorgelegt habe, sie würden die Waren in das Gemeinschaftsgebiet verbringen. Die von der Klägerin nicht zu Beginn der Beförderung, sondern erst drei bis vier Jahre später vorgelegten Sammelbescheinigungen für Lieferungen mit dem Text: "Hiermit bestätige ich, dass ich die Ware aus den in der Anlage aufgeführten Rechnungen empfangen und für die Firma … in das übrige Gemeinschaftsgebiet verbracht habe", führten nicht zu der tatrichterlichen Überzeugung, dass die Lieferungen tatsächlich in das Gemeinschaftsgebiet ausgeführt worden seien. Es sei nicht nachvollziehbar, wie der ehemalige Geschäftsführer der Firma X ohne Vorhandensein der Buchführung nach so langer Zeit die Richtigkeit der von der D-GmbH vorgelegten Bescheinigung hätte überprüfen können. Auch die Person, C, die die Bescheinigung für die Firma Z erstellt hatte, sei nicht mehr Geschäftsführer der Firma Z gewesen und habe keinen Zugriff mehr auf die Buchführung gehabt. Trotz eines entsprechenden Hinweises des FG sei der ehemalige Geschäftsführer in der mündlichen Verhandlung nicht als Auslandszeuge gestellt worden. Auch sei unklar, welche Funktionen in den Firmen A und B die Personen gehabt hätten, die die Abnehmerversicherungen für die Lieferungen an A und B ausgestellt haben; weiter sei unklar, wie diese sich mangels Buchführung von der Richtigkeit der nachträglichen Bescheinigungen überzeugt hätten. Die Steuerbescheide seien auch nicht deshalb rechtswidrig, weil der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) und das FG entgegen einem Antrag der Klägerin nach § 75 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die Besteuerungsgrundlagen zu einigen Punkten (Auskunftsersuchen, Fahrtaufzeichnungen, ausländische Steuererklärungen der Empfängerfirmen, Listen über Einfuhren der ausländischen Steuerverwaltung) nicht mitgeteilt hätten. Das FG habe seine Entscheidung ausschließlich auf Unterlagen gestützt, die das FA dem FG vorgelegt habe und die die Klägerin im Rahmen einer Akteneinsicht hätte einsehen können.
Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der auf Verfahrensmängel und Divergenz gestützten Nichtzulassungsbeschwerde.
II. Die Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 115 Abs. 2 FGO ist die Revision u.a. zuzulassen, wenn die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) oder ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Die Nichtzulassung kann mit der Beschwerde angefochten werden (§ 116 Abs. 1 FGO). In der Beschwerdebegründung müssen die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO dargelegt werden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO).
1. Ein zur Zulassung der Revision führender Verfahrensfehler liegt nicht darin, dass es das FG unterlassen hat, entsprechend den Anträgen der Klägerin nach § 75 FGO weitere Beweismittel zu übersenden.
a) Die in dieser Bestimmung geregelte Pflicht, den Beteiligten die Unterlagen der Besteuerung mitzuteilen, dient der Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO und hat somit lediglich klarstellende Bedeutung (Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 75 FGO Rz 1; Stöcker in Beermann/Gosch, AO/FGO, § 75 FGO Rz 1; Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, AO/FGO, § 75 FGO Rz 4). Sie hat den Zweck, Überraschungsentscheidungen zu vermeiden (BFH-Urteil vom 22. Mai 2007 X R 26/05, BFH/NV 2007, 1817, m.w.N.). Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht rechnen musste (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 29. Mai 1991 1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188; BFH-Urteile in BFH/NV 2007, 1817; vom 17. Februar 1998 VIII R 28/95, BFHE 186, 29, BStBl II 1998, 505; BFH-Beschlüsse vom 28. Mai 1998 III B 5/98, BFH/NV 1998, 1352; vom 23. April 1998 VII B 282/97, BFH/NV 1998, 1492).
b) Das FG hat keine Überraschungsentscheidung getroffen. Ein FG verstößt zwar gegen Art. 103 Abs. 1 GG i.V.m. § 96 Abs. 2 FGO bzw. § 75 FGO, wenn es einem Beteiligten Tatsachen, Beweismittel oder Beweisergebnisse vorenthält, die das Ergebnis des Verfahrens beeinflussen können (z.B. BFH-Beschluss vom 12. März 2004 VII B 239/02, BFH/NV 2004, 1114). Dies ist hier aber nicht der Fall.
aa) Das FG hat auf S.8 seines Urteils aufgeführt, es stütze seine Entscheidung "nur auf jene Unterlagen, die der Beklagte dem Gericht vorgelegt hat und die die Klägerin gem. § 78 Abs. 1 FGO im Rahmen der Akteneinsicht hätte einsehen können. Soweit die Klägerin mutmaßt, dass der Beklagte weiteres Informationsmaterial 'in der Hinterhand' habe, ihr aber tatsächlich vorenthalte, sind diese Unterlagen, sollten sie denn tatsächlich existieren, nicht Gegenstand der Entscheidung geworden".
Dass dies unzutreffend sei, hat die Klägerin, die von der Möglichkeit der Akteneinsicht keinen Gebrauch gemacht hat, nicht behauptet. Für die Klägerin konnte nach der Einspruchsentscheidung des FA sowie nach dem vorangegangenen Verfahren im vorläufigen Rechtsschutz auch nicht überraschend sein, dass es für das FG entscheidungserheblich darauf ankam, den Nachweis der Verbringung der Computerteile in das innergemeinschaftliche Ausland zu erbringen und den Einwand bezüglich der nachträglich erstellten "Gefälligkeitsbescheinigungen" zu entkräften.
bb) Das FG hat im Streitfall auch nicht verfahrensfehlerhaft seine Pflicht aus § 75 FGO verletzt, der Klägerin die Grundlagen der Besteuerung mitzuteilen. Wie sich aus den vom Bevollmächtigten übersandten zahlreichen Anlagen zur Klageschrift ergibt, hatte das FA dem Bevollmächtigten bereits im Einspruchsverfahren eine Vielzahl von Unterlagen (Steuerbescheide, Vermerke des Zollfahndungsdienstes über Besprechungen, Ergebnisse von Auskunftsersuchen im internationalen Amtshilfeverkehr, Zusammenstellung des wesentlichen Inhalts von Aktenvermerken usw.) übersandt, sodass der Klägerin die Grundlagen der Besteuerung (§ 75 FGO) bekannt waren. Nach dem Grundsatz der Prozessverantwortung (von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 96 Rz 33) wäre es ihr zumutbar gewesen, durch Akteneinsicht nach § 78 FGO selbst Einsicht in etwaige vorhandene weitere Beweismittel zu nehmen und sich ggf. gemäß § 78 Abs. 2 FGO Abschriften erteilen zu lassen. Die Pflicht des FA und des Gerichts, der Klägerin nach § 75 FGO die Besteuerungsgrundlagen mitzuteilen, hat den Zweck, der Klägerin die Kenntnis zu verschaffen, wogegen sie sich verteidigen soll. Sie hat nicht den Zweck, ihr in Klageverfahren mit komplexen Sachverhalten, wie insbesondere nach Fahndungs- und Betriebsprüfungen, die ergänzende Akteneinsicht nach § 78 FGO zu ersparen.
cc) Soweit die Klägerin mit ihrem Vorbringen sinngemäß rügt, das FG habe verfahrensfehlerhaft seine Sachaufklärungspflicht verletzt (§ 96 FGO), weil es über den bisher vorhandenen Akteninhalt hinaus den Sachverhalt durch weitere Ermittlungen (z.B. über das Ergebnis von Personenabklärungen, Fahrtaufzeichnungen und den Inhalt ausländischer Steuererklärungen) hätte aufklären müssen, steht der Aufklärungsrüge bereits entgegen, dass der Prozessvertreter in der mündlichen Verhandlung die Nichterhebung weiterer Beweise und Übersendung weiterer Unterlagen nicht in ausreichender Form gerügt hat (vgl. § 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO). Für die Abwendung eines solchen Rügeverzichts genügt es zumindest in komplexen Verfahren nicht, wenn der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem FG pauschal die Nichterhebung "der von ihr angebotenen Beweise" und "den Verstoß zur Pflicht der Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen" rügt. Da nach eigenen Angaben des Prozessbevollmächtigten im späteren Verfahren der Tatbestandsberichtigung (§ 108 FGO) von den 14 Beweisanträgen "4 durch Teilstattgabe und 1 durch Belegvorlage" erledigt worden sind, wäre die konkrete Benennung der nicht erledigten Beweisanträge oder Belegvorlagen in der mündlichen Verhandlung erforderlich gewesen (vgl. BFH-Beschluss vom 21. Juni 2000 VIII B 107/99, juris, zum Rügeverlust bei "vorsorglicher Rüge aller Beweisantritte").
2. Das FG hat auch nicht verfahrensfehlerhaft gegen das Gebot des § 96 Abs. 1 FGO verstoßen. Die Klägerin macht geltend, das FG habe nicht unter Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens entschieden, weil es nicht berücksichtigt habe, dass in den Rechnungen der Klägerin an die A und die B neben der Rechnungsanschrift auch die Lieferanschrift enthalten sei, was als Indiz für die Richtigkeit der nachträglichen Bestätigungen anzusehen sei. Dies trifft nicht zu, denn das FG hat im Tatbestand ausdrücklich wiedergegeben, dass in den Rechnungen dieser beiden Firmen neben der Rechnungsanschrift auch die Lieferanschriften enthalten sind. Es hat jedoch die nach § 96 Abs. 1 FGO in freier Beweiswürdigung zu treffende Überzeugung nicht gewinnen können, dass aus der Erwähnung der Geschäftsadressen in den Rechnungen auch die tatsächliche Lieferung dorthin erfolgt war. Das FG hat daher nicht --wie es für einen Verstoß gegen § 96 FGO als Verfahrensfehler erforderlich wäre-- bestimmte Umstände von vornherein aus seiner Überzeugungsbildung ausgeschlossen, sondern die zur Kenntnis genommenen Umstände nur anders gewürdigt, was dem mit der Verfahrensrüge nicht angreifbaren, dem materiellen Recht zuzuordnenden Bereich der Beweiswürdigung zuzuordnen ist (vgl. z.B. Rechtsprechungsnachweise bei Lange in HHSp, AO/FGO, § 96 Rz 165, 166).
3. Die Revision ist auch nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) zuzulassen, da die Divergenzrüge nicht ordnungsgemäß erhoben worden ist. Es fehlt an einer Gegenüberstellung der Rechtssätze des FG und des BFH (hier nach dem Urteil in BFH/NV 2007, 1817), aus der sich die Abweichung im Grundsätzlichen ergibt. Inwieweit die Nichtübersendung einzelner Unterlagen gem. § 75 FGO zu einer Überraschungsentscheidung und damit zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs führt, ist eine Frage der Rechtsanwendung nach den Umständen des Einzelfalls. Eine Divergenz in der Würdigung von Tatsachen, die fehlerhafte Umsetzung von Rechtsprechungsgrundsätzen auf die Umstände des Einzelfalles oder bloße Subsumtionsfehler des FG können jedoch nicht zur Zulassung der Revision führen (z.B. BFH-Beschlüsse vom 8. März 2004 VII B 334/03, BFH/NV 2004, 974; vom 16. Dezember 2005 IX B 38/05, BFH/NV 2006, 772; vom 2. September 2005 I B 56-59/05, BFH/NV 2006, 96). Auch ein offensichtlicher Rechtsanwendungsfehler von erheblichem Gewicht im Sinne einer greifbar gesetzwidrigen Entscheidung (vgl. BFH-Beschluss vom 28. Juli 2003 III B 125/02, BFH/NV 2003, 1445, m.w.N.), der ausnahmsweise zur Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO führt, ist von der Klägerin weder dargelegt noch ersichtlich.