Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 14.11.2012


BGH 14.11.2012 - StB 13/12

Haftbeschwerdeverfahren während laufender Hauptverhandlung: Nachprüfung der Annahme des dringenden Tatverdachts; Beschleunigungsgebot in Haftsachen


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsdatum:
14.11.2012
Aktenzeichen:
StB 13/12
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend BGH, 26. Oktober 2011, Az: 2 BGs 565/11
Zitierte Gesetze
§§ 112ff StPO
Art 5 Abs 3 MRK

Tenor

Die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 26. Oktober 2011 (2 BGs 565/11) wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

1

I. Der Angeklagte befindet sich seit dem 3. Juni 2011 aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tage (2 BGs 281/11), abgeändert und neu gefasst durch Beschluss vom 26. Oktober 2011 (2 BGs 565/11), in Untersuchungshaft. Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeklagte habe sich spätestens ab August 2010 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, in Ungarn und in Deutschland bis zu seiner Festnahme am 16. Mai 2011 als Mitglied an der Al Qaida beteiligt. Bei der Organisation Al Qaida handele es sich um eine Vereinigung im Ausland, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord (§ 211 StGB) und Totschlag (§ 212 StGB) zu begehen. Der Generalbundesanwalt hat gegen den Angeklagten sowie den Mitangeklagten O.   unter dem 11. November 2011 Anklage zum Kammergericht in Berlin erhoben. Das Kammergericht hat mit Beschluss vom 15. Dezember 2011 die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Der Senat hat im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121 ff. StPO mit Beschluss vom 22. Dezember 2011 (AK 22 und 23/11) die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus angeordnet. Die Hauptverhandlung vor dem Kammergericht hat am 25. Januar 2012 begonnen und dauert seither an.

2

Die Verteidigung des Angeklagten hat mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2012 Haftbeschwerde eingelegt und die Aufhebung des Haftbefehls beantragt. Zur Begründung hat sie allein darauf abgestellt, die bisherige Hauptverhandlung genüge nicht dem Beschleunigungsgebot. Das Kammergericht hat der Beschwerde am 10. Oktober 2012 nicht abgeholfen. Der dringende Tatverdacht habe sich durch die im Wesentlichen abgeschlossene Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung weiter verdichtet. Außerdem hat es den Gang der Hauptverhandlung im Einzelnen dargelegt sowie ausgeführt, dem Beschleunigungsgebot im Rahmen des Möglichen Rechnung getragen zu haben. Der Generalbundesanwalt beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen, weil die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft mit dem Freiheitsrecht des Angeklagten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG vereinbar und dessen aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK folgender Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist nicht verletzt sei. Die Verteidigung hat mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2012 an ihrer Meinung festgehalten, gegen den Beschleunigungsgrundsatz sei "gravierend und unheilbar" verstoßen worden.

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II. Die gemäß § 304 Abs. 5 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Insbesondere ist ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz nicht gegeben.

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1. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin der - von der Verteidigung mit der Beschwerde nicht beanstandete - dringende Tatverdacht der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 StGB).

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Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegt die Beurteilung des dringenden Tatverdachts, die das erkennende Gericht während laufender Hauptverhandlung vornimmt, im Haftbeschwerdeverfahren nur in eingeschränktem Umfang der Nachprüfung durch das Beschwerdegericht (st. Rspr.; vgl. im Einzelnen BGH, Beschlüsse vom 8. Oktober 2012 - StB 9/12, juris Rn. 6; vom 7. August 2007 - StB 17/07, juris Rn. 5; vom 19. Dezember 2003 - StB 21/03, BGHR StPO § 112 Tatverdacht 3 mwN). Bei Anwendung dieses Prüfungsmaßstabs hat das Kammergericht vor dem Hintergrund des wesentlichen Ergebnisses der Ermittlungen, wie es in der Anklageschrift zusammengefasst ist, ausreichend dargelegt, dass die Ergebnisse der bisherigen, aus seiner Sicht nahezu abgeschlossenen Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, den der Senat auf der Grundlage des damaligen Ermittlungsergebnisses in seiner Haftprüfungsentscheidung ebenfalls bejaht hatte, nicht in Frage stellen bzw. sogar noch verdichten.

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2. Es liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) vor; denn es ist aufgrund der im Haftbefehl sowie der Haftfortdauerentscheidung des Senats dargelegten Gründe auch derzeit noch wahrscheinlich, dass der Angeklagte, in Freiheit belassen, sich dem Verfahren entziehen wird. Weniger einschneidende Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO vermögen unter diesen Umständen nicht die Erwartung zu begründen, dass durch sie der Zweck der Untersuchungshaft erreicht werden kann.

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3. Entgegen der Ansicht der Verteidigung liegt auch mit Blick auf die sich aus dem Grundgesetz und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergebenden Anforderungen ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot als spezielle Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht vor.

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a) Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist dabei nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Nach dem verfassungsrechtlich ebenfalls in Art. 2 Abs. 2 GG verankerten Beschleunigungsgebot in Haftsachen haben die Strafverfolgungsbehörden und -gerichte alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind dabei umso strengere Forderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft schon andauert. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von dem Umfang und der Komplexität der Rechtssache, der Anzahl der beteiligten Personen und dem Verhalten der Verteidigung abhängig ist; dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Bei absehbar umfangreichen Verfahren erfordert das Beschleunigungsgebot eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umfassende Hauptverhandlungsplanung mit durchschnittlich mehr als nur einem Hauptverhandlungstag pro Woche (vgl. im Einzelnen BVerfG, Beschlüsse vom 4. Juni 2012 - 2 BvR 644/12, juris Rn. 23 ff.; vom 4. Mai 2011 - 2 BvR 2781/10, juris Rn. 13; vom 24. August 2010 - 2 BvR 1113/10, juris Rn. 19 ff.; vom 23. Januar 2008 - 2 BvR 2652/07, juris Rn. 40 ff.; vom 19. September 2007 - 2 BvR 1847/07, juris Rn. 3; EGMR, Urteil vom 29. Juli 2005 - 49746/99 - C.   /Deutschland, NJW 2005, 3125, 3126 f.; BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2012 - StB 9/12, juris Rn. 12).

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b) Bei Anwendung dieser Grundsätze ist das Vorgehen des Kammergerichts einschließlich der Planung und Durchführung der Hauptverhandlung nicht zu beanstanden. Vielmehr genügt die Verfahrensführung auch mit Blick auf die Dauer der Untersuchungshaft von mittlerweile mehr als 17 Monaten angesichts der maßgebenden konkreten Umstände in jeder Hinsicht den Anforderungen des Beschleunigungsgebots. Im Rahmen der gebotenen Abwägung sind dabei im Wesentlichen die folgenden Gesichtspunkte von Bedeutung:

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aa) Das Kammergericht hat zunächst im Zwischenverfahren trotz des erheblichen Umfangs des Verfahrens mit bei Anklageerhebung 98 Stehordnern Verfahrensakten schon etwa einen Monat nach Akteneingang über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden und - trotz der dazwischen liegenden Feiertage - bereits nur wenig mehr als einen Monat später mit der Hauptverhandlung begonnen.

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bb) Nach der Aufstellung der Verteidigung wurde sodann in den 38 Wochen Hauptverhandlung bis zur Einlegung der Beschwerde an insgesamt 55 Terminen verhandelt. In sechs Wochen fanden jeweils drei Hauptverhandlungstermine, in 16 Wochen jeweils zwei und in elf Wochen fand jeweils ein solcher Termin statt. Hieraus ergeben sich durchschnittlich 1,45 Verhandlungstermine pro Woche. Somit ist im Durchschnitt an mehr als einem Tag pro Woche verhandelt worden. Dabei eingerechnet sind sogar diejenigen Zeiträume, in denen die Hauptverhandlung entsprechend den Vorgaben des § 229 StPO für längere Zeiträume unterbrochen worden ist. Es bedarf dabei keiner näheren Darlegung, dass ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nicht dadurch begründet werden kann, dass im Rahmen der gesetzlichen Regelungen den berechtigten Regenerations- und Erholungsinteressen der Verfahrensbeteiligten in angemessener Weise Rechnung getragen wird; das Beschleunigungsgebot lässt vielmehr Unterbrechungen für eine angemessene Zeit bei einer ansonsten hinreichenden Terminsdichte zu (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2008 aaO juris Rn. 53). Mit Ausnahme der Urlaubswochen sind durchschnittlich sogar etwa zweieinhalb Verhandlungstage pro Woche anberaumt worden, obwohl - wie sich aus der Darstellung des Kammergerichts ergibt, der die Verteidigung insoweit im Rahmen der Beschwerde nicht entgegen getreten ist - der das Rechtsmittel vertretende Verteidiger Rechtsanwalt L.   bei einer Besprechung am 18. November 2011 darauf hingewiesen hatte, es sei für die Verteidigung ein Problem, wenn regelmäßig drei Tage je Woche verhandelt würde, und der Versuch des Kammergerichts, nach der Sommerpause auch montags zu verhandeln und so die Verhandlung zu verdichten, auf erheblichen Widerstand der Verteidigung gestoßen ist.

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cc) Folgt man der Berechnung der Verteidigung, dauerte ein durchschnittlicher Hauptverhandlungstermin einschließlich der Pausen mehr als vier Stunden, diese herausgerechnet immer noch deutlich mehr als zwei Stunden. Während die Verteidigung in ihrer Beschwerdebegründung zum Ablauf der einzelnen Sitzungstage keine Angaben gemacht und sich im Wesentlichen auf die Mitteilung der Verhandlungszeiten beschränkt hat, hat das Kammergericht zunächst dargelegt, die Verhandlungspausen überwiegend für notwendige Zwischenberatungen genutzt zu haben. Im Übrigen ist zu beachten, dass sich zahlreiche Zeugenvernehmungen kürzer als ursprünglich geplant gestaltet haben, etwa weil die Zeugen von ihren Rechten aus den §§ 52, 55 StPO Gebrauch gemacht haben. Der Inhalt von Urkunden mit einem Umfang von mehr als 4.000 Blatt ist im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführt worden, was zu einer erheblichen Verkürzung der Verhandlungsdauer geführt hat. Es versteht sich von selbst, dass der Zeitraum, den die Verfahrensbeteiligten benötigen, um den Inhalt der Urkunden außerhalb der Hauptverhandlung zur Kenntnis zu nehmen, bei der Gesamtbetrachtung nicht unberücksichtigt bleiben darf. Dasselbe gilt von Beratungszeiten, die für das Tatgericht etwa aufgrund von Anträgen der übrigen Verfahrensbeteiligten entstehen. In diesem Zusammenhang lässt eine vorausschauende Verhandlungsplanung es regelmäßig gerade zielführend erscheinen, jeweils Freiräume auch deshalb einzuplanen, damit diese für notwendige Zwischenberatungen etwa über zu bescheidende Anträge zur Verfügung stehen und auf diese Weise das geplante Hauptverhandlungsprogramm ohne Änderung im zeitlichen Ablauf durchgeführt werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die vom Kammergericht praktizierte Verfahrensweise ebenfalls sinnvoll, in geeigneten Situationen die aufgrund der Zwischenberatungen getroffenen Entscheidungen erst am nächsten Verhandlungstag in die Hauptverhandlung einzuführen, anstatt den weiteren Verfahrensbeteiligten an dem konkreten Verhandlungstag Wartepflichten aufzuerlegen und so die Dauer des Verhandlungstages zu verlängern. Diese Vorgehensweise des Kammergerichts hat hier auch dazu beigetragen, dass die Sitzungen den Wünschen der Verteidiger entsprechend regelmäßig so geplant werden konnten, dass die jeweils für den Sitzungstag gebuchten Rückflüge aus Berlin wahrgenommen werden konnten.

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dd) In Bedacht zu nehmen ist schließlich, dass das Verfahren sich gegen zwei Angeklagte richtet und die Aufklärung der sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden vielfältigen Betätigungen der Angeklagten für mehrere ausländische terroristische Organisationen erfordert. Während der laufenden Hauptverhandlung hat sich deshalb etwa die Notwendigkeit ergeben, zahlreiche - teilweise umfangreiche - Rechtshilfeersuchen an mehrere Länder zu richten, um auf diese Weise im Ausland gewonnene Ermittlungsergebnisse in das hiesige Verfahren einführen zu können. Es erschließt sich ohne Weiteres, dass diese Komplexität des Verfahrensstoffs eine umfangreiche Vor- und Nachbereitung der jeweiligen Hauptverhandlungstage notwendig gemacht hat und weiterhin macht. Dies gilt insbesondere auch mit Blick auf die zahlreichen Anträge der Verteidigung, insbesondere auf Einholung von Sachverständigengutachten und Vernehmung schwer erreichbarer Zeugen. Trotz dieses erheblichen Verfahrensumfangs und der Vermehrung des Beweisstoffs während der laufenden Hauptverhandlung hält das Kammergericht nach deutlich weniger als einem Jahr Hauptverhandlungsdauer - im Wesentlichen abhängig vom weiteren (Antrags-)Verhalten der Verteidigung - ein baldiges Ende der Beweisaufnahme für absehbar.

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ee) Bei einer zusammenfassenden Bewertung der vorstehenden Gesichtspunkte besteht kein Zweifel daran, dass trotz der erheblichen Dauer der Untersuchungshaft die Anforderungen des Beschleunigungsgebots sowohl im Zwischen- als auch im Hauptverfahren gewahrt worden sind. Die Hauptverhandlung ist sowohl bezüglich der Anzahl der Sitzungstage als auch deren Dauer ausreichend zügig durchgeführt worden. Ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot liegt nach alldem bei sachgemäßer Würdigung fern.

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4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft verstößt vor allem mit Blick auf die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung und - unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 StGB - das hypothetische Strafende (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Juni 2012 aaO juris Rn. 25) auch im Übrigen nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Becker                      Schäfer                      Spaniol