Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 29.02.2012


BFH 29.02.2012 - IX R 3/11

Zu Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Verlustfeststellungsbescheiden


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
29.02.2012
Aktenzeichen:
IX R 3/11
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend FG Münster, 9. Juli 2010, Az: 4 K 3154//08 F, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

NV: Wer gegen einen Bescheid, mit dem der verbleibende Verlustvortrag auf 0 € festgestellt wurde, nicht fristgerecht Einspruch einlegt, kann keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen, wenn seine fehlende Beschwer daher rührt, dass er abziehbare Aufwendungen früherer Jahre, die sich auf den Abzugsbetrag im Sinne des § 10d Abs. 2, 4 Satz 2 EStG auswirken, bislang entgegen gebotener Sorgfalt nicht geltend gemacht hat.

Tatbestand

1

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob wegen Versäumnisses der Einspruchsfrist gegen den Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2005 (Streitjahr) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.

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Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) begehrt, einen höheren vortragsfähigen Verlust zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2005 festzustellen.

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In der Sache geht es um (weitere) Verpflegungsmehraufwendungen von 1.164 €. Die Klägerin war im Streitjahr als Biologin an einem Forschungszentrum nichtselbständig tätig. Sie begehrte im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung Aufwendungen für eine doppelte Haushaltsführung. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) kürzte lediglich die Verpflegungsmehraufwendungen um 1.164 € und setzte mit Bescheid vom 23. März 2006 die Einkommensteuer des Streitjahres auf 0 € fest. Dabei ging das FA von einem Gesamtbetrag der Einkünfte von 18.802 € aus; dieser verminderte sich um den auf den 31. Dezember 2004 festgestellten Verlustvortrag von 14.861 €. Im Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf den 31. Dezember 2005 wurde der Verlustvortrag ebenfalls auf 0 € festgestellt (verbleibender Verlustvortrag zum 31. Dezember 2004 vermindert um den im Jahr 2005 voll verbrauchten Verlustvortrag).

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Die Klägerin legte hiergegen zunächst keinen Einspruch ein.

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Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) zu Aufwendungen für ein Erststudium (Urteil vom 20. Juli 2006 VI R 26/05, BFHE 214, 370, BStBl II 2006, 764) reichte die Klägerin am 25. September 2006 Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1999 bis 2001 ein und focht im Hinblick auf die verbliebenen Verpflegungsmehraufwendungen von 1.164 €, am 4. Oktober 2006 neben dem Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr auch den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf den 31. Dezember 2005 an.

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Das FA führte für die Jahre 1999 bis 2001 die Einkommensteuerveranlagungen durch und berücksichtigte die beantragten Verluste. Das führte (nach § 175 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung --AO--) dazu, dass die Verlustfeststellung zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2004 auf 22.542 € (durch Bescheid vom 6. Juni 2008) und auf den 31. Dezember 2005 auf 3.740 € (durch Bescheid vom 1. September 2008) erhöht wurde.

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Das FA verwarf die Einsprüche gegen die Bescheide für das Jahr 2005 als unzulässig. Die Klage gegen den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2005 blieb erfolglos.

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Das Finanzgericht (FG) führte in seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 801 veröffentlichten Urteil zur Begründung aus: Der Einspruch sei verfristet gewesen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht zu gewähren. Irrtümer, die nicht die Fristwahrung unmittelbar selbst beträfen, seien für Zwecke der Wiedereinsetzung unbeachtlich. Die Klägerin hätte es in der Hand gehabt, ihre Beschwer durch die Abgabe der Einkommensteuererklärungen für 1999 bis 2001 zu konkretisieren.

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Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, die sie auf Verletzung materiellen Rechts stützt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätte gemäß § 110 AO gewährt werden müssen. Die Steuererklärungen für die Jahre 1999 bis 2001 seien zwar aufgrund der geänderten Rechtsprechung des BFH im Urteil in BFHE 214, 370, BStBl II 2006, 764 veranlagt worden. Indes gehe es hinsichtlich des auf das Streitjahr bezogenen Änderungsbegehrens (also der Verpflegungsmehraufwendungen) in erster Linie nicht um diese Rechtsprechung. Sie führe lediglich mittelbar die eigentliche Beschwer (§ 350 AO) durch das Verwaltungshandeln des FA herbei und sei von diesem Sachverhalt strikt zu trennen. Darüber hinaus sei die Rechtslage in Bezug auf die Abziehbarkeit von Studienkosten als vorab entstandene Werbungskosten unsicher gewesen und habe sich erst mit dem BFH-Urteil in BFHE 214, 370, BStBl II 2006, 764 geklärt. Ferner habe der Feststellungsbescheid vom 23. März 2006 den verbleibenden Verlustabzug in Höhe von 0 € festgestellt. Die Klägerin sei deshalb nicht in der Lage gewesen, sich gegen die Feststellungsgrundlagen zu wenden, da die Kürzung der Werbungskosten keine Auswirkungen auf das Ergebnis gehabt hätte. Außerdem sei Wiedereinsetzung nach § 126 Abs. 3 AO zu gewähren gewesen, weil der strittige Bescheid über die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs keine Begründung hinsichtlich der Kürzung der Werbungskosten erkennen lasse.

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Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2005 vom 23. März 2006, geändert am 1. September 2008 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. August 2008 dahingehend zu ändern, dass bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit Werbungskosten für eine doppelte Haushaltsführung für das Jahr 2005 in Höhe von 6.758 € berücksichtigt werden und der verbleibende Verlustabzug auf den 31. Dezember 2005 um 1.165 € auf einen Betrag von 4.905 € erhöht wird.

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Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Zutreffend hat es das FG abgelehnt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der unstreitig versäumten Einspruchsfrist zu gewähren.

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1. Gemäß § 110 Abs. 1 AO ist dem Steuerpflichtigen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Dies ist der Fall, wenn er die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. z.B. Urteil vom 17. März 2010 X R 57/08, BFH/NV 2010, 1780, m.w.N.). Wegen unverschuldeten Rechtsirrtums kann nach ständiger Rechtsprechung des BFH Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn sich der Irrtum auf die Frist selbst oder die Form der Fristwahrung bezieht. Irrtümer über materielles Recht begründen dagegen eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht; denn in diesen Fällen kann dem Steuerpflichtigen oder seinem Berater zugemutet werden, sich über die Verfahrensrechte zu informieren und in der gebotenen Weise davon Gebrauch zu machen (BFH-Urteil vom 29. November 2006 VI R 48/05, BFH/NV 2007, 861, m.w.N.).

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2. Nach diesen Grundsätzen hat das FG zu Recht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen Umständen ohne Verschulden gehandelt hat, ist im Wesentlichen Tatfrage (BFH-Urteil in BFH/NV 2007, 861). Im Streitfall hat das FG die rechtlichen Maßstäbe richtig angewandt, die nach der Rechtsprechung des BFH bei der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zugrunde zu legen sind.

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a) Die Versäumung der Einspruchsfrist gilt nicht bereits nach § 126 Abs. 3 Satz 1 AO als nicht verschuldet. Der Senat pflichtet insoweit dem FG bei, wonach es ausreicht, wenn --wie hier aus den Akten nachvollziehbar-- der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr in Bezug auf die nicht anerkannten Aufwendungen für die doppelte Haushaltsführung eine eingehende Erläuterung enthält.

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b) Das FG hat rechtsfehlerfrei entschieden, die Klägerin habe in einem für die Wiedereinsetzung nach § 110 AO nicht erheblichen materiell-rechtlichen Irrtum über die steuerrechtliche Anerkennung von Kosten eines Erststudiums gehandelt.

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aa) Die Klägerin hätte diese Aufwendungen bereits mit einem fristgerechten Einspruch gegen den ursprünglichen Feststellungsbescheid vom 23. März 2006 darlegen müssen. Ihr diesbezüglicher Rechtsirrtum bezieht sich jedenfalls mitursächlich (Mitursächlichkeit reicht aus, vgl. Söhn in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 110 AO Rz 65) nicht nur auf das Wahren der Einspruchsfrist, sondern vor allen Dingen auf das materielle Recht des Verlustabzugs im Streitjahr. Auch wenn die Klägerin mit dem Einspruch den Ansatz von Verpflegungsmehraufwand im Rahmen der doppelten Haushaltsführung begehrt und die steuerrechtliche Qualifizierung ihrer Studienkosten als Erwerbsaufwand zunächst nicht das Streitjahr, sondern die Veranlagungszeiträume von 1999 bis 2001 betrifft, sind diese Aufwendungen auch für die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs des Streitjahres materiell-rechtlich wirkende Bezugsgrößen.

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bb) Nach § 10d Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Streitjahres (EStG) ist der am Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibende Verlustabzug gesondert festzustellen. Was unter dem Begriff des verbleibenden Verlustabzugs zu verstehen ist, sagt § 10d Abs. 4 Satz 2 EStG. Es handelt sich dabei um die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichenen negativen Einkünfte, vermindert um die nach § 10d Abs. 1 EStG abgezogenen und die nach § 10d Abs. 2 EStG abziehbaren Beträge und vermehrt um den auf den Schluss des vorangegangenen Veranlagungszeitraums festgestellten verbleibenden Verlustvortrag.

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Die Klägerin hatte im Streitjahr zunächst einen positiven Gesamtbetrag der Einkünfte von 18.802 €, der materiell-rechtlich aber unter Berücksichtigung der von ihr geltend gemachten Verpflegungsmehraufwendungen auf 17.638 € zu korrigieren wäre. In dieser Höhe allein ist der Verlustvortrag aus dem Jahr 2004 nach § 10d Abs. 2 EStG abziehbar und beeinflusst auf diese Weise auch den im Streitjahr nach § 10d Abs. 4 EStG festzustellenden verbleibenden Verlustvortrag. Rechnet man den geändert festgestellten Verlustvortrag zum 31. Dezember 2004 hinzu, ergibt sich ein um die Verpflegungsmehraufwendungen von 1.164 € erhöhter Verlustvortrag, also von 4.904 € (statt wie bisher 3.740 €). Grund hierfür ist nicht --wie die Revision hervorhebt-- die für die Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags auf den 31. Dezember des Streitjahres bindende (§ 182 Abs. 1 AO) korrigierte Verlustfeststellung auf den 31. Dezember 2004 (als hinzuzurechnende Position), sondern der in die Berechnung nach § 10d Abs. 4 Satz 2 EStG materiell-rechtlich eingehende Abzugsposten der nach § 10d Abs. 2 "abziehbaren" Beträge.

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cc) Das FG hat auch zutreffend erkannt, dass dieser materielle Rechtsirrtum die Fristversäumnis der Klägerin nicht zu entschuldigen vermag. Zwar hat der BFH erstmals in seinem Urteil in BFHE 214, 370, BStBl II 2006, 764 über die Abziehbarkeit von Studienkosten eines Erststudiums als vorab entstandene Werbungskosten entschieden. Doch wurde die Rechtslage --wie in dieser Entscheidung ausführlich wiedergegeben-- schon ab dem Jahr 2002 im Schrifttum mit Blick auf die (geänderte) BFH-Rechtsprechung zu Aufwendungen im Zusammenhang mit berufsbegleitenden erstmaligen Hochschulstudien (vgl. die Urteile vom 4. Dezember 2002 VI R 120/01, BFHE 201, 156, BStBl II 2003, 403; vom 17. Dezember 2002 VI R 137/01, BFHE 201, 211, BStBl II 2003, 407, und vom 22. Juli 2003 VI R 50/02, BFHE 202, 563, BStBl II 2004, 889) kontrovers erörtert, so dass ein gewissenhaft handelnder Verfahrensbeteiligter rechtzeitig Einspruch eingelegt und zumindest in diesem Zusammenhang auch seine Studienaufwendungen geltend gemacht hätte. Hieran wäre er durch § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nicht gehindert gewesen: Abgesehen davon, dass diese Antragsfrist für den Erlass des Verlustfeststellungsbescheides keine Bedeutung hatte (BFH-Urteil vom 12. Juni 2002 XI R 26/01, BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681), ist diese Vorschrift im Streitfall nicht einschlägig. Die Klägerin erfüllte in den Jahren 1999 bis 2001 ersichtlich die Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 EStG nicht, weil kein Steuerabzug vorgenommen wurde.