Entscheidungsdatum: 14.04.2015
1. NV: Ein verbleibender Verlustabzug ist gemäß § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG, § 181 Abs. 5 AO für bereits festsetzungsverjährte Jahre nur dann festzustellen, wenn die zuständige Finanzbehörde Kenntnis von dem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte hatte und die Feststellung des Verlustvortrags pflichtwidrig unterlassen hat .
2. NV: Die durch § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2007 vom 13. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2878) angeordnete Anwendung des § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG auf alle bei Inkrafttreten der Norm noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen stellt keine von Verfassung wegen unzulässige Rückwirkung dar .
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 3. Juni 2014 13 K 1443/11 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
I. Im Streit ist die Durchführung der gesonderten Feststellung des vortragsfähigen Verlusts zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 1999.
Dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) entstanden im Streitjahr 1999 Aufwendungen für ein Studium. Nach Abschluss des Studiums war der Kläger berufstätig und erzielte Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Mit Schreiben vom 21. Dezember 2007 beantragte der Kläger die Feststellung eines verbleibenden Verlustabzugs nach § 10d des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf den 31. Dezember 1999. In der gleichzeitig für 1999 eingereichten Einkommensteuererklärung machte der Kläger Kosten für das Studium in Höhe von 9.960 DM als vorab entstandene Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit geltend. Den Antrag auf Verlustfeststellung lehnte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) am 17. April 2008 ab.
Der Kläger legte dagegen Einspruch ein und bezifferte die geltend gemachten Aufwendungen mit insgesamt 11.584 DM. Am 20. Dezember 2010 erließ das FA einen Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 1999. Der verbleibende Verlustabzug zum 31. Dezember 1998 in Höhe von 16.639 DM wurde auf den 31. Dezember 1999 fortgeführt.
Mit Einspruchsentscheidung vom 11. April 2011 wies das FA den Einspruch gegen die Ablehnung der Durchführung einer Verlustfeststellung vom 17. April 2008 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 20. Dezember 2010 als unbegründet zurück. Die Feststellungsfrist habe mit Ablauf des 31. Dezember 2006 geendet; sie sei daher im Zeitpunkt des Eingangs des Antrags bereits abgelaufen gewesen. Die Regelung des § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 2007 (JStG 2007) vom 13. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2878) gelte gemäß § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2007 für den Feststellungszeitraum 1999. Da die Nichtdurchführung der Verlustfeststellung nicht auf einem pflichtwidrigen Unterlassen des FA beruht habe, finde § 181 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) im Streitfall keine Anwendung.
Die dagegen nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) bestätigte die Auffassung des FA, auf den 31. Dezember 1999 sei bereits Feststellungsverjährung eingetreten und damit ein Erlass eines Verlustfeststellungsbescheids ausgeschlossen. Der Antrag des Klägers sei erst nach Eintritt der Feststellungsverjährung gestellt worden. Gemäß § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG i.d.F. des JStG 2007 sei die gesonderte Feststellung auch nicht nach § 181 Abs. 5 AO zulässig, da das FA die Feststellung des Verlustvortrags nicht pflichtwidrig unterlassen habe. Der Verlust sei erst am 21. Dezember 2007 und damit nach Ablauf der Feststellungsfrist geltend gemacht worden. § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG i.d.F. des JStG 2007 gelte für alle bei Inkrafttreten dieses Gesetzes noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen (§ 52 Abs. 25 Satz 5 EStG i.d.F. des JStG 2007). Da die Feststellungsfrist mit Ablauf des 31. Dezember 2006 geendet habe, sei sie im Zeitpunkt des Inkrafttretens des JStG 2007 am 19. Dezember 2006 noch nicht abgelaufen gewesen. § 10d Abs. 4 Satz 6 und § 52 Abs. 25 Satz 5 EStG, jeweils i.d.F. des JStG 2007, verstießen auch nicht gegen das aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) abgeleitete Rückwirkungsverbot.
Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers. Er trägt im Wesentlichen vor, es sei verfassungsrechtlich nicht zulässig, die seit 40 Jahren geltende Regelung des § 181 Abs. 5 AO, die vom Gesetzgeber, den Gerichten, der Finanzverwaltung und den Steuerpflichtigen akzeptiert und gelebt worden sei, im Dezember 2006 mit Rückwirkung auf den Feststellungszeitraum 1999 zu ändern. Weder durch das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 12. Juni 2002 XI R 26/01 (BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681) noch durch das BFH-Urteil vom 2. August 2006 XI R 65/05 (BFHE 214, 492, BStBl II 2007, 921) sei die Rechtslage geändert worden. Vielmehr sei lediglich der Gesetzeswortlaut des § 181 Abs. 5 AO und damit die bestehende Rechtslage bestätigt worden. Zudem habe er seinen Antrag auf Verlustfeststellung bereits zwölf Monate nach Inkrafttreten der Neuregelung gestellt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des FG München vom 3. Juni 2014 13 K 1443/11 aufzuheben und unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 17. April 2008 und Änderung des Bescheids über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 1999 vom 20. Dezember 2010 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 11. April 2011 das FA zu verpflichten, den verbleibenden Verlustvortrag zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 1999 auf 28.223 DM (14.430 €) festzustellen.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.
Zutreffend hat es das FG abgelehnt, einen höheren verbleibenden Verlustabzug auf den 31. Dezember 1999 festzustellen. Denn im Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Erlass des Verlustfeststellungsbescheids auf den 31. Dezember 1999 gestellt wurde, war bereits Feststellungsverjährung eingetreten (1.). Eine Ablaufhemmung nach § 181 Abs. 5 AO kommt mit Blick auf § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG i.d.F. des JStG 2007 nicht in Betracht (2.). Die durch § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG i.d.F. des JStG 2007 angeordnete Nichtanwendung des § 181 Abs. 5 AO ist auch von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (3.).
1. Da der Kläger für das Streitjahr 1999 zunächst keine Feststellungserklärung abgegeben hatte, endete die Feststellungsfrist nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, § 181 Abs. 1 AO für den Feststellungszeitraum 1999 mit Ablauf des 31. Dezember 2006. Darüber besteht zwischen den Beteiligten kein Streit. Der Antrag des Klägers vom 21. Dezember 2007 ist damit erst nach Eintritt der Feststellungsverjährung gestellt worden.
2. Eine Ablaufhemmung nach § 181 Abs. 5 AO kommt nicht in Betracht. Diese Norm ist im Streitfall wegen § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG i.d.F. des JStG 2007 nicht anwendbar.
a) Nach § 181 Abs. 5 Satz 1 AO ist ein zum Schluss eines Veranlagungszeitraums verbleibender Verlustabzug auch nach Ablauf der für seine gesonderte Feststellung geltenden Feststellungsfrist gesondert festzustellen, wenn dies für einen späteren Einkommensteuer- oder Feststellungsbescheid nach § 10d EStG von Bedeutung ist, für den die Festsetzungs- oder Feststellungsfrist noch nicht abgelaufen ist. § 181 Abs. 5 AO ist nach § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG i.d.F. des JStG 2007 jedoch nur anzuwenden, wenn die zuständige Finanzbehörde die Feststellung des Verlustvortrags pflichtwidrig unterlassen hat. Da § 10d Abs. 4 Satz 6 2. Halbsatz EStG gemäß § 52 Abs. 25 Satz 5 jeweils i.d.F. des JStG 2007 für alle bei Inkrafttreten des JStG 2007 am 19. Dezember 2006 (vgl. Art. 20 Abs. 1 JStG 2007) noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen anwendbar ist, gilt die Vorschrift auch im Streitfall. § 181 Abs. 5 AO bleibt aber anwendbar, wenn das FA keinen Verlustfeststellungsbescheid erlassen hat, obwohl ihm dies möglich gewesen wäre, etwa weil ihm die Verluste aus einer Steuererklärung bekannt waren (vgl. u.a. BFH-Urteil vom 8. April 2014 IX R 32/13, BFH/NV 2014, 1206, m.w.N.).
b) Im Streitfall hat das FA zwar die vom Kläger auf der Grundlage der aufgewandten Studienkosten begehrte erhöhte Feststellung des Verlustvortrags auf den 31. Dezember 1999 unterlassen. Dies geschah aber nicht pflichtwidrig. Denn vor Ablauf der Feststellungsfrist lag dem FA keine Feststellungserklärung vor, und der Kläger hatte vor Ablauf der Frist auch keine Einkommensteuererklärung für das Streitjahr abgegeben, auf deren Mantelbogen die Durchführung einer Verlustfeststellung beantragt worden war. Das FA hat daher zu Recht im Bescheid vom 20. Dezember 2010 über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs auf den 31. Dezember 1999 nur den festgestellten Verlustvortrag zum 31. Dezember 1998 unverändert fortgeführt. Denn der Verlustfeststellungsbescheid des Vorjahres ist Grundlagenbescheid (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 171 Abs. 10 AO) für den Verlustfeststellungsbescheid auf den nachfolgenden Feststellungszeitpunkt, so dass nach § 171 Abs. 10 Satz 1, § 181 Abs. 1 Satz 1 AO der Erlass des Bescheids vom 20. Dezember 2010 als Folgebescheid mit dem dort enthaltenen Verlustbetrag möglich war (vgl. Schmidt/Heinicke, EStG, 33. Aufl., § 10d Rz 41; zur Möglichkeit der Verlustfeststellung für den Feststellungszeitpunkt 31. Dezember 1998 vgl. BFH-Urteile vom 10. Juli 2008 IX R 90/07, BFHE 222, 32, BStBl II 2009, 816, unter II.2.c bb, und vom 19. August 2008 IX R 89/07, BFH/NV 2009, 762).
3. Die Regelung des § 52 Abs. 25 Satz 5 i.d.F. des JStG 2007, wonach § 181 Abs. 5 AO für alle bei Inkrafttreten des JStG 2007 am 19. Dezember 2006 (vgl. Art. 20 Abs. 1 JStG 2007) noch nicht abgelaufenen Feststellungsfristen anwendbar ist, ist auch verfassungsgemäß. Entgegen der Ansicht des Klägers enthält die Regelung des § 52 Abs. 25 Satz 5 i.d.F. des JStG 2007 keine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung.
a) Selbst wenn man eine Rückwirkung durch das Inkraftsetzen von § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG durch § 52 Abs. 25 Satz 5 i.d.F. des JStG 2007 annehmen würde, weil der zur Verlustfeststellung führende Verlust mehr als sechs Jahre vor der Gesetzesänderung entstanden ist und dem Kläger für den streitigen Feststellungszeitraum 1999 bis zum Inkrafttreten der Neuregelung im Dezember 2006 die Möglichkeit der Verlustfeststellung offen gestanden hat (vgl. insoweit für verfassungswidrige Rückwirkung FG München, Beschluss vom 14. August 2007 5 V 1558/07, Entscheidungen des Bundesfinanzhofs für die Praxis der Steuerberatung 2008, 129; Kube, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2011, 1829, 1832), ist die Rückwirkung im Rahmen der Abwägung zwischen den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen (vgl. dazu BTDrucks 16/2712, S. 44 f.) und dem Vertrauen des Klägers von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
Die Möglichkeit einer nachträglichen Verlustfeststellung für Jahre, bei denen die siebenjährige Feststellungsverjährung bereits eingetreten ist, ist dem Kläger erst durch die BFH-Urteile in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681, vom 1. März 2006 XI R 33/04, BFHE 212, 497, BStBl II 2007, 919 und in BFHE 214, 492, BStBl II 2007, 921 und die damit verbundene Anwendung des § 181 Abs. 5 AO eingeräumt worden. Mit der Einfügung des § 10d Abs. 4 Satz 6 EStG hat der Gesetzgeber die vor Ergehen dieser BFH-Entscheidungen und damit auch im Streitjahr geltende und nicht weiter umstrittene, unklare oder verworrene Rechtslage wiederhergestellt. Vor Ergehen der o.g. BFH-Urteile wurde übereinstimmend eine Anwendung des § 181 Abs. 5 AO und damit die erstmalige Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs abgelehnt, wenn für das Jahr der Verlustentstehung Festsetzungs- und Feststellungsverjährung eingetreten waren (vgl. H 115 "Feststellungsbescheid" des Amtlichen Einkommensteuer-Handbuchs --EStH-- 2001; Oberfinanzdirektion Münster, Verfügung vom 11. März 2005 Kurzinformation Einkommensteuer Nr. 011/2005, DStR 2005, 786 sowie Gatzka/Wilhelm, DStR 2005, 1794 und BTDrucks 16/2712, S. 43 f.). Dem Gesetzgeber ist es im Rahmen der Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, und dem Vertrauen des Einzelnen in den Fortbestand der Rechtslage in diesem Fall nicht verwehrt, eine Rechtslage rückwirkend festzuschreiben, die vor einer Rechtsprechungsänderung einer gefestigten und einheitlichen Rechtspraxis entsprach (vgl. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 2010 2 BvL 14/02, 2 BvL 2/04, 2 BvL 13/05, BVerfGE 127, 1, BStBl II 2011, 76, unter C.II.1.c, und vom 2. Mai 2012 2 BvL 5/10, BVerfGE 131, 20, unter B.I.2.b bb(2); für Verfassungsmäßigkeit der Regelung auch Heuermann, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 10d Rz A 90, A 289, D 112). Ungeachtet der verfahrensrechtlichen Rechtslage konnte der Kläger nach der im streitigen Feststellungszeitraum geltenden herrschenden materiell-rechtlichen Rechtsauffassung die Aufwendungen zudem ohnehin nicht steuerlich geltend machen. Denn Aufwendungen für eine berufliche Erstausbildung wurden nach der 1999 geltenden herrschenden Rechtsauffassung nur als begrenzt abziehbare Sonderausgaben eingestuft und waren einer Verlustfeststellung nicht zugänglich (vgl. u.a. BFH-Urteil vom 6. November 1992 VI R 12/90, BFHE 169, 436, BStBl II 1993, 108, unter II.1.; R 34 der Lohnsteuer-Richtlinien 1999; H 103 (Studium) EStH 1999).
b) Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, dass ihm im Hinblick auf die mit Ablauf des 31. Dezember 2006 eintretende Feststellungsverjährung für den Feststellungszeitraum 1999 nach Inkrafttreten des JStG 2007 am 19. Dezember 2006 nur noch wenige Tage geblieben waren, um einen Antrag auf Verlustfeststellung zu stellen. Denn der Kläger hatte nach Veröffentlichung der BFH-Entscheidungen in BFHE 198, 395, BStBl II 2002, 681 und in BFHE 212, 497, BStBl II 2007, 919 ausreichend Zeit, um auf der Grundlage dieser Entscheidungen die ihm entstandenen Verluste verfahrensrechtlich geltend zu machen. Gleichwohl hat der Kläger die Anträge auf Verlustfeststellung erst am 21. Dezember 2007 --mithin mehr als ein Jahr nach Inkrafttreten der Neuregelung und mehr als elf Monate nach Eintritt der Feststellungsverjährung-- gestellt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.