Entscheidungsdatum: 22.06.2016
Weicht der Inhalt des Versicherungsscheins zugunsten des Versicherungsnehmers vom Inhalt des zugrunde liegenden Antrags ab, so kommt der Versicherungsvertrag auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 VVG mit dem Inhalt des Versicherungsscheins zustande, wenn der Versicherungsnehmer nicht binnen eines Monats widerspricht (Bestätigung des Senatsurteils vom 22. Februar 1995, IV ZR 58/94, VersR 1995, 648).
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 7. Oktober 2014 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Die Klägerin macht Leistungsansprüche aus einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung geltend, die sie im Jahre 2009 bei der Beklagten abgeschlossen hat. Die Parteien streiten im Revisionsverfahren ausschließlich darum, ob die Beklagte die Klägerin abstrakt auf einen anderen Ausbildungsberuf verweisen kann.
Den Versicherungsantrag stellte die Klägerin am 5. August 2009. In dem Vorschlag W2K20Y8EF der Beklagten für einen Antrag war neben einem Verweis auf die Versicherungsbedingungen die folgende Klausel enthalten:
"Maßgebende Versicherungsbedingungen/Zusätzliche Vereinbarungen
…
- Es gilt folgende Regelung: Ist die versicherte Person bei Eintritt des in § 1, Absatz 1, 2 oder 3 der Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung beschriebenen Zustands Auszubildender, so kommt es bei der Anwendung von § 1, Absatz 1 bis 3 darauf an, dass die versicherte Person außer Stande ist, einer Tätigkeit als Auszubildender nachzugehen oder eine Tätigkeit auszuüben, zu der sie auf Grund ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten in der Lage ist und die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht. Abweichend hiervon erbringen wir, sofern sich die versicherte Person beim Eintritt des in § 1, Absatz 1, 2 oder 3 beschriebenen Zustands im letzten Ausbildungsjahr einer dreijährigen Ausbildung befindet und aus medizinischen Gründen eine neue Ausbildung beginnt, Leistungen für die ersten zwei Jahre der neuen Ausbildung, sofern diese tatsächlich absolviert wird. Bei kürzeren Ausbildungsdauern gelten entsprechend anteilige Zeiträume.
…"
Der Versicherungsantrag der Klägerin nahm auf diesen Vorschlag in der Weise Bezug, dass es dort heißt:
"Dieser Antrag gilt nur in Verbindung mit dem zum Antragsinhalt gehörenden Vorschlag Nr. W2K20Y8EF".
In dem am 14. August 2009 ausgestellten Versicherungsschein ist die Klausel zu Ausbildungsverhältnissen dagegen nicht wiederholt. Auf Seite 7 ist lediglich auf die Versicherungsbedingungen verwiesen und zu den "Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZVB 03.09)" heißt es dort: "Diese Bedingungen haben Sie bereits mit der Antragsdurchschrift erhalten."
In diesen Bedingungen lautet es in § 1 Abs. 1 unter anderem:
"… Eine Verweisung auf eine andere Tätigkeit kommt nur dann in Betracht, wenn diese im Sinne von Absatz 4 a) konkret ausgeübt wird (Verzicht auf abstrakte Verweisung)."
Die Klägerin absolvierte eine im August 2010 begonnene Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau, als sie Ende Januar 2011 einen Bandscheibenvorfall erlitt. Danach suchte sie ihre Ausbildungsstelle nicht mehr auf. Seit dem 1. September 2013 befindet sie sich in einer Ausbildung zur Fachangestellten für Arbeitsmarktdienstleistungen.
Die Klägerin behauptet, aufgrund des erlittenen Bandscheibenvorfalls und dessen Folgen seither bedingungsgemäß berufsunfähig zu sein. Sie meint, eine Verweisung auf die ausgeübte Tätigkeit als Fachangestellte für Arbeitsmarktdienstleistungen sei nicht zulässig. Die in dem Antrag enthaltene Zusatzklausel zur Berufsunfähigkeit bei Auszubildenden sei nicht Vertragsinhalt geworden und die jetzt ausgeübte Tätigkeit sei auch nicht mit derjenigen einer Einzelhandelskauffrau vergleichbar.
In den Vorinstanzen ist die Klage erfolglos geblieben. Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision.
Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Dieses hat angenommen, dass die Beklagte die Klägerin jedenfalls wirksam auf den Ausbildungsberuf der Bürokauffrau verwiesen hat. Die Ausbildungsklausel, die die Möglichkeit einer abstrakten Verweisung in den beiden ersten Ausbildungsjahren vorsieht, sei Vertragsbestandteil geworden. Die Beklagte habe den Antrag der Klägerin einschließlich dieser Klausel angenommen. Die fehlende Wiederholung im Versicherungsschein ändere daran nichts. Zwar habe der Versicherungsschein grundsätzlich die Vermutung der Vollständigkeit und Richtigkeit für sich; diese Vermutung sei hier aber durch das von der Klägerin unterzeichnete Formular, das die fragliche Klausel enthielt, widerlegt. Ausgehend davon stünden der Klägerin keine Leistungen zu, weil eine abstrakte Verweisungsmöglichkeit bestehe. Dass sie für den Ausbildungsberuf der Bürokauffrau ungeeignet sei oder ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen dieser Ausbildung entgegenstünden, habe die Klägerin nicht aufgezeigt. Auf die Möglichkeit der konkreten Verweisung auf den aktuellen Ausbildungsberuf der Klägerin komme es nicht an.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Nach § 5 Abs. 1 VVG kommt der Versicherungsvertrag mit dem Inhalt des Versicherungsscheins zustande, sofern dieser vom Inhalt des zugrunde liegenden Antrags abweicht und der Versicherungsnehmer dem nicht binnen eines Monats widerspricht; dies gilt nach der Rechtsprechung des Senats im Falle einer dem Versicherungsnehmer günstigen Abweichung auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des Absatzes 2 der Vorschrift, weil dieser - anders als Absatz 1 - nur im Falle den Versicherungsnehmer benachteiligender Abweichungen anzuwenden ist (Senatsurteil vom 22. Februar 1995 - IV ZR 58/94, VersR 1995, 648 unter 1 a m.w.N.).
An dieser Auslegung des § 5 VVG hält der Senat auch in Anbetracht der im Schrifttum nach der VVG-Reform geführten Diskussion fest.
Soweit die Auffassung vertreten wird, dass sich der Inhalt des Vertrages in diesen Fällen nicht nach § 5 Abs. 1 VVG, sondern nach den allgemeinen Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs richte (Rudy in Prölss/Martin, VVG 29. Aufl. § 5 Rn. 7; Knops in Bruck/Möller, VVG 9. Aufl. § 5 Rn. 8; jeweils unter Verweis auf § 150 Abs. 2 BGB), ist dem entgegenzuhalten, dass der klare Wortlaut des § 5 Abs. 1 VVG gegen eine Einschränkung auf dem Versicherungsnehmer ungünstige Abweichungen spricht und eine solche Einschränkung auch durch den Zweck der Norm nicht geboten wird (ebenso mit zutreffender Begründung Johannsen in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 8 Rn. 59 und HK-VVG/Brömmelmeyer, 3. Aufl. § 5 Rn. 9).
Aber auch der Ansicht, dass im Falle für den Versicherungsnehmer günstiger Abweichungen § 5 VVG insgesamt, also einschließlich der Absätze 2 und 3, anzuwenden sei und deshalb auch in diesem Fall eine dem § 5 Abs. 2 VVG entsprechende Belehrung erforderlich sei, damit die Abweichung zum Vertragsinhalt wird (so Schneider in Looschelders/Pohlmann, VVG 2. Aufl. § 5 Rn. 16), ist nicht zu folgen. Sie berücksichtigt nicht hinreichend, dass es sich bei Absatz 2 des § 5 VVG um eine Schutzvorschrift für den Versicherungsnehmer handelt und deshalb kein Grund ersichtlich ist, weshalb ein Versicherer aus der Verletzung dieser Schutzvorschrift sollte Rechte herleiten können (Senatsurteil vom 21. Januar 1976 - IV ZR 123/74, VersR 1976, 477 unter II 1, juris Rn. 41); daran hat sich durch die Neufassung von § 5 Abs. 3 VVG im Zuge der VVG-Reform nichts geändert (so auch Johannsen in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 8 Rn. 59).
Im Ergebnis zu keinem Unterschied führt schließlich die Auffassung, nach der zwar die Absätze 2 und 3 des § 5 VVG auf alle Abweichungen des Versicherungsscheins vom Antrag anwendbar sein sollen, es dem Versicherer aber bei Abweichungen, die für den Versicherungsnehmer günstig sind, nach § 242 BGB verwehrt sei, sich auf das Fehlen der Voraussetzungen für die Genehmigungsfiktion zu berufen (so MünchKomm-VVG/Armbrüster, 2. Aufl. § 5 Rn. 29 und FAKomm-VersR/Reusch, VVG § 5 Rn. 22 f.).
2. Eine Ausnahme von der Genehmigungsfiktion nach § 5 Abs. 1 VVG ist nur dann zu machen, wenn der Erklärende - also der Versicherer - in Wahrheit etwas anderes wollte und der Erklärungsempfänger - also der Versicherungsnehmer - dies erkannt hat, mithin der übereinstimmende Wille beider Parteien auf einen anderen Regelungsinhalt gerichtet war. In diesen Fällen ist unabhängig von der Regelung des § 5 VVG der wahre Wille des Erklärenden maßgebend (Senatsurteil vom 22. Februar 1995 - IV ZR 58/94, VersR 1995, 648 unter 2).
3. Nach den vorgenannten Maßstäben hat das Berufungsgericht zu Unrecht angenommen, dass die im Vorschlag der Beklagten enthaltene und im Antrag der Klägerin in Bezug genommene Zusatzvereinbarung Bestandteil des Versicherungsvertrages geworden ist.
a) Der Versicherungsschein erwähnt diese Zusatzvereinbarung nicht, sondern nennt als für die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung geltende Versicherungsbedingungen ausschließlich die BUZVB 03.09, die die Klägerin mit der Antragsdurchschrift bereits erhalten habe. Anders als die Revisionserwiderung meint, lässt sich diesem Hinweis auf deren Aushändigung nicht entnehmen, dass weitere - an dieser Stelle nicht erwähnte - Vereinbarungen oder Bedingungen für den Vertrag gelten sollen.
Damit liegt eine Abweichung des Versicherungsscheins vom Antrag vor, so dass der Anwendungsbereich des § 5 Abs. 1 VVG eröffnet ist. Von einer solchen Abweichung geht letztlich auch das Berufungsgericht aus, wenn es seiner Entscheidung zugrunde legt, dass die Vermutung der Richtigkeit und Vollständigkeit des Versicherungsscheins durch den von der Klägerin unterzeichneten Antrag widerlegt sei. Diese Konstruktion setzt voraus, dass Versicherungsschein und Versicherungsantrag einen voneinander abweichenden Inhalt haben, weil anderenfalls eine Widerlegung der genannten Vermutung nicht stattfinden kann.
b) Mit seiner Begründung verkennt das Berufungsgericht indes den Regelungsgehalt des § 5 Abs. 1 VVG. Indem die Vorschrift anordnet, dass mangels Widerspruchs des Versicherungsnehmers der Inhalt des Versicherungsscheins bei einem vom Versicherungsantrag abweichenden Inhalt als genehmigt gilt, schließt die Norm gerade aus, dass in diesem Fall der vorherige Antrag den Vertragsinhalt bestimmt. Die Genehmigungsfiktion hat insoweit konstitutive vertragsgestaltende Wirkung (MünchKomm-VVG/Armbrüster, VVG 2. Aufl. § 5 Rn. 54). Mit ihr soll sichergestellt werden, dass alle Bedingungen eines Versicherungsvertrages in einer einheitlichen Urkunde niedergelegt werden und damit im Streitfall leicht beweisbar sind (Senatsurteil vom 21. Januar 1976 - IV ZR 123/74, VersR 1976, 477 unter II 1, juris Rn. 41).
c) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung liegt nach den bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts kein Fall eines übereinstimmenden abweichenden Verständnisses im Sinne des Senatsurteils vom 22. Februar 1995 (IV ZR 58/94, VersR 1995, 648 unter 2) vor. Dies setzte voraus, dass der Versicherungsnehmer tatsächlich erkannt hat, dass der Versicherer in Wahrheit etwas anderes erklären wollte. Dies hat das Berufungsgericht jedoch nicht festgestellt, sondern lediglich ausgeführt, die Klägerin habe nicht erwarten können und dürfen, dass die Beklagte ihren Antrag ohne die Ausbildungsklausel annehme. Positives Wissen um einen vom Inhalt des Versicherungsscheins abweichenden Willen des Versicherers bei Erhalt des Versicherungsscheins folgt daraus nicht.
III. Die Sache ist nicht entscheidungsreif, weil auch Feststellungen zu einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit und zu einer konkreten Verweisungsmöglichkeit nach Maßgabe des § 1 Abs. 1 BUZVB 03.09 bislang nicht getroffen sind. Das Berufungsgericht wird die genannten Feststellungen deshalb nunmehr nachzuholen haben.
Mayen Felsch Lehmann
Dr. Brockmöller Dr. Bußmann