Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 21.03.2018


BGH 21.03.2018 - IV ZR 248/17

Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
4. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
21.03.2018
Aktenzeichen:
IV ZR 248/17
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2018:210318BIVZR248.17.0
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend KG Berlin, 22. August 2017, Az: 6 U 78/15vorgehend LG Berlin, 13. Mai 2015, Az: 44 O 211/14
Zitierte Gesetze

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin-Schöneberg vom 22. August 2017 zugelassen.

Das vorbezeichnete Urteil wird nach § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: bis 125.000 €

Gründe

1

I. Der Kläger macht Ansprüche aus einem mit der Beklagten geschlossenen Kaskoversicherungsvertrag geltend.

2

Der Versicherungsvertrag umfasste unter anderem eine Vollkaskoversicherung für das vom Kläger am 31. Januar 2014 für brutto 103.900 € gekaufte Gebrauchtfahrzeug, Mercedes Benz Coupé AMG C 63, Erstzulassung 2012 mit einer Selbstbeteiligung von 500 € je Schadenfall. Dem Vertrag lagen die Versicherungsbedingungen der Beklagten (im Folgenden: AKB) zugrunde. Der Kläger übernahm das Fahrzeug mit einem Kilometerstand von 8.211 km am 6. März 2014. Der Kaufpreis sollte finanziert werden.

3

Am 14. April 2014 brannte das Fahrzeug vollständig aus, nachdem der Kläger mit dem PKW bei nächtlicher Fahrt von B.    nach Br.    in einem Waldstück gegen 3.30 Uhr morgens von der Straße abgekommen war.

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Die Parteien streiten um die Leistungspflicht der Beklagten und - soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse - insbesondere darüber, ob die Beklagte leistungsfrei ist, weil der Kläger arglistig seine Aufklärungsobliegenheiten verletzt hat.

5

Nach der Verkehrsunfallanzeige, die ein Polizeibeamter vor Ort aufgenommen hatte, schilderte der Kläger den Unfallhergang dahingehend, dass die Temperaturanzeige seines PKWs plötzlich eine Überhitzung angezeigt habe und es in der Folge zum Brandausbruch im Bereich des Motorraumes gekommen sei. Dadurch sei er von der Straße abgekommen und erst ca. 30 m im Wald an einer Baumgruppe zum Stehen gekommen. Der die Unfallanzeige aufnehmende Polizeibeamte hat als Zeuge vor dem Landgericht bestätigt, dass ihm diese Erklärung von dem vor Ort anwesenden Feuerwehrmann, der dort auch als Dolmetscher fungiert habe, aus dem Englischen so übersetzt worden sei. In seiner Schadenanzeige vom 20. April 2014 hat der Kläger den Unfallhergang abweichend davon auszugsweise wie folgt geschildert:

Ich fuhr am 14.04.2014 mit meinem Fahrzeug [...] mit hoher Geschwindigkeit, als [...] ein Reh von rechts auf die Fahrbahn lief. Ich habe versucht dem Reh nach links auszuweichen und geriet dabei ins Schleudern, kam von der Fahrbahn ab und stieß frontal mit einem Baum zusammen.

6

II. Das Landgericht hat die in der Hauptsache auf Zahlung von 111.092,44 € zuzüglich Zug um Zug gegen Nachweis der Entrichtung der Mehrwertsteuer in mindestens diesem Umfang bei Erwerb eines Ersatzfahrzeugs zu zahlender weiterer 15.629,50 € gerichtete Klage nach informatorischer Anhörung des Klägers sowie Vernehmung von drei Zeugen abgewiesen, weil der Kläger arglistig seine Aufklärungsobliegenheit verletzt habe (§ 28 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 VVG i.V.m. E.1.3, E.6.1 AKB). Der Kläger habe zur vollen Überzeugung des Gerichts gegenüber der Beklagten mit Schadenanzeige vom 20. April 2014 das Schadenereignis vorsätzlich falsch geschildert. Er habe diese Unfallversion zwar auch bei seiner Anhörung gegenüber dem Gericht geschildert. Der Kläger sei aber nicht glaubwürdig. Das Gericht gehe davon aus, von dem Kläger belogen worden zu sein. Der Kläger habe seine Schadenanzeige arglistig falsch abgefasst, um den tatsächlichen Unfallhergang zu verschleiern und die Entschädigungsregelung in seinem Sinn zu vereinfachen.

7

Das Oberlandesgericht hat auf die Berufung des Klägers das Urteil geändert und die Beklagte zur Zahlung von 110.592,44 € sowie Erstattung von Sachverständigenkosten zuzüglich Zinsen Zug um Zug gegen Vorlage der Zahlungsnachweise verurteilt; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Der Beklagten sei der ihr obliegende Nachweis nicht gelungen, dass die Voraussetzungen des subjektiven Risikoausschlusses in A.2.16 Nr. 1 AKB vorliegen, der Kläger die Schäden vorsätzlich herbeigeführt habe. Die Beklagte sei auch nicht wegen einer arglistigen Obliegenheitsverletzung des Klägers leistungsfrei. Soweit es um das Auftauchen eines Rehs auf der Straße gehe, dem der Kläger nach seinem Vortrag ausgewichen sei, sei der Beklagten schon nicht der Nachweis gelungen, dass diese Einlassung des Klägers im Schadenformular falsch sei. Auch wenn das Landgericht den Kläger nach dem persönlichen Eindruck nicht für glaubwürdig gehalten habe, rechtfertige dies nicht zwingend die Feststellung, dass seine Angaben unwahr seien. Die Feststellung von Arglist sei nach Aktenlage auch deswegen nicht möglich, weil nicht ersichtlich sei, dass der Kläger bei der Angabe einen gegen die Interessen des Versicherers gerichteten Zweck verfolgt habe.

8

III. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

9

1. Dieses hat den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, weil es den vom Landgericht zum Unfallhergang angehörten Kläger nicht erneut zum Unfallgeschehen angehört hat, obwohl es seine Aussage anders als das Landgericht gewürdigt, sie insbesondere nicht "zwingend" für unwahr gehalten hat.

10

a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen sind allerdings erneute Feststellungen geboten. Auch wenn die erneute Vernehmung von Zeugen grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts steht, ist es verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es seine Glaubwürdigkeit anders als der Erstrichter beurteilen oder die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (Senatsbeschluss vom 21. April 2010 - IV ZR 172/09, juris Rn. 5; BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn. 5; BGH, Urteile vom 8. Dezember 1999 - VIII ZR 340/98, NJW 2000, 1199 unter II 2 a [juris Rn. 22]; vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222 unter II A 1 b [juris Rn. 12]; vom 30. September 1992 - VIII ZR 196/91, BGHZ 119, 283, 292 unter II 2 [juris Rn. 35]; jeweils m.w.N.). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen (BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 aaO Rn. 5; Urteil vom 10. März 1998 aaO; jeweils m.w.N.).

11

Nichts anderes gilt, wenn das Erstgericht die Partei lediglich nach § 141 ZPO informatorisch angehört hat. Jedenfalls soweit die Angaben der Parteien in die Beweiswürdigung des Erstgerichts nach § 286 Abs. 1 ZPO Eingang gefunden haben (vgl. BGH, Urteil vom 16. Juli 1998 - I ZR 32/96, NJW 1999, 363 unter II 2 a [juris Rn. 14]) und dort in ihrer Glaubhaftigkeit bewertet wurden, kann das Berufungsgericht nicht ohne eigene Anhörung von dieser Würdigung abweichen (BGH, Beschluss vom 25. Juli 2017 - VI ZR 103/17, VersR 2018, 249 Rn. 10; Urteil vom 16. Juli 1998 aaO; BVerfG, NJW 2017, 3218 Rn. 58; jeweils m.w.N.).

12

b) Das Berufungsgericht hat gegen diese Pflicht zur neuerlichen Anhörung der Partei verstoßen, denn es hat die protokollierte Aussage des Klägers anders gewertet als das Landgericht.

13

Dieses hat aufgrund seines persönlichen Eindrucks anlässlich der Anhörung des Klägers und der drei von ihm vernommenen Zeugen sowie der weiteren im Einzelnen gewürdigten Umstände die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger gegenüber der Beklagten mit Schadenanzeige vom 20. April 2014 das Schadenereignis vorsätzlich falsch geschildert habe. Es hat nach Anhörung des Klägers diesen für nicht glaubwürdig gehalten und war davon überzeugt, vom Kläger belogen worden zu sein. Der Kläger habe sowohl bei seiner Anhörung als auch durch die schriftlichen Einlassungen seines Prozessbevollmächtigten nicht den Eindruck vermittelt, zur Aufklärung des Sachverhalts beitragen zu wollen. Seine Erklärungen seien teils unklar, teils ausweichend, teils widersprüchlich gewesen. So habe er etwa die Diskrepanz seiner Unfallschilderung zur Darstellung des Unfallsachverhalts in der Verkehrsunfallanzeige nicht befriedigend erläutern können. Die gegenüber der Polizei abgegebene Hergangsschilderung habe er jeweils variierend vorgetragen. Zunächst habe er es als möglich dargestellt, nicht verstanden worden zu sein, eventuell über das "Thema Reh" auch nicht gesprochen zu haben. Dann habe er es in Abrede gestellt, das in der Unfallanzeige Protokollierte geäußert zu haben. Schließlich habe er angegeben, der Polizei gegenüber von seinem Ausweichmanöver vor einem Reh berichtet zu haben.

14

Das Berufungsgericht meint demgegenüber, der Beklagten sei der Nachweis nicht gelungen, dass die Einlassung des Klägers im Schadenformular zum Auftauchen eines Rehs auf der Straße falsch sei. Auch wenn das Landgericht den Kläger nach dem persönlichen Eindruck nicht für glaubwürdig gehalten habe, rechtfertige dies "nicht zwingend" die Feststellung, dass seine Angaben unwahr seien. Diese Folgerung durfte das Berufungsgericht nicht ohne nochmalige Anhörung des Klägers zum Unfallhergang treffen. Es durfte keine Beweislastentscheidung zum Nachteil der Beklagten treffen, ohne den Kläger selbst nochmals zum Unfallgeschehen im Einzelnen zu befragen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 20. November 2014 - IX ZR 31/13, juris Rn. 6).

15

Soweit das Berufungsgericht den Kläger zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen angehört hat, genügte dies entgegen der Ansicht der Beschwerdeerwiderung nicht. Es ist schon nicht ersichtlich, dass sich das Berufungsgericht aufgrund dieser Anhörung eine eigene Überzeugung von der Glaubwürdigkeit des Klägers gebildet hat. Insbesondere kann diese Anhörung aber eine Anhörung zum Unfallgeschehen nicht ersetzen.

16

2. Die Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht anders entschieden hätte, wenn es den Kläger selbst zum Unfallhergang befragt hätte.

Mayen     

        

Harsdorf-Gebhardt     

        

Lehmann

        

Dr. Brockmöller     

        

Dr. Bußmann     

        

Berichtigungsbeschluss vom 24. April 2018

Der Beschluss des Senats vom 21. März 2018 wird gemäß § 319 Abs. 1 ZPO wegen einer offenbaren Unrichtigkeit dahingehend berichtigt, dass es im Tenor heißen muss:

"Auf die Beschwerde der Beklagten wird die Revision gegen das Urteil des 6. Zivilsenats des Kammergerichts in Berlin-Schöneberg vom 22. August 2017 zugelassen."

Felsch     

        

Harsdorf-Gebhardt     

        

Lehmann

        

Dr. Brockmöller     

        

Dr. Bußmann