Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 15.12.2010


BGH 15.12.2010 - IV ZR 24/10

Private Unfallversicherung: Ermittlung des Invaliditätsgrads bei Vereinbarung einer progressiven Invaliditätsstaffel


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
4. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
15.12.2010
Aktenzeichen:
IV ZR 24/10
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Brandenburgisches Oberlandesgericht, 16. Dezember 2009, Az: 3 U 70/09, Urteilvorgehend LG Frankfurt (Oder), 23. April 2009, Az: 14 O 238/08, Urteil
Zitierte Gesetze
§ 7 Abs 1 Nr 2 AUB 1988
§ 7 Abs 1 Nr 3 AUB 1988

Leitsätze

Bei Vereinbarung einer progressiven Invaliditätsstaffel, die § 7 I (2) und (3) AUB 88 entsprechende Bedingungen in Bezug nimmt, ist Grundlage für die Progression der um die Vorinvalidität geminderte Invaliditätsgrad .

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 16. Dezember 2009 aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 23. April 2009 wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Der Kläger unterhält seit dem Jahre 1994 bei der Beklagten eine Unfallversicherung, der neben Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen (AUB 88) Besondere Bedingungen für die Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel (U 07/88) zugrunde liegen.

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Auszugsweise lautet § 7 I AUB 88 (Invaliditätsleistung) wie folgt:

"(1) Führt der Unfall zu einer dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit (Invalidität) des Versicherten, so entsteht Anspruch auf Kapitalleistung aus der für den Invaliditätsfall versicherten Summe. …

(2) Die Höhe der Leistung richtet sich nach dem Grad der Invalidität.

a) Als feste Invaliditätsgrade gelten - unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität - bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit

eines Beines über der Mitte des Oberschenkels 70%

b) Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung eines dieser Körperteile oder Sinnesorgane wird der entsprechende Teil des Prozentsatzes nach a) angenommen.

(3) Wird durch den Unfall eine körperliche oder geistige Funktion betroffen, die schon vorher dauernd beeinträchtigt war, so wird ein Abzug in Höhe dieser Vorinvalidität vorgenommen. Diese ist nach (2) zu bemessen."

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In den Besonderen Bedingungen wird § 7 I AUB 88 wie folgt erweitert:

"Führt ein Unfall nach den Bemessungsgrundsätzen der Nummern (2) und (3) zu einer dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit, werden der Berechnung der Invaliditätsleistung folgende Versicherungssummen zugrunde gelegt:

a) für den 25% nicht übersteigenden Teil des Invaliditätsgrades die im Versicherungsschein festgelegte Invaliditätssumme,

b) für den 25%, nicht aber 50% übersteigenden Teil des Invaliditätsgrades die doppelte Invaliditätssumme,

c) für den 50% übersteigenden Teil des Invaliditätsgrades die dreifache Invaliditätssumme."

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Der Kläger erlitt zunächst am 27. Januar 2005 einen Skiunfall und am 8. Februar 2006 einen Glatteisunfall; durch beide Unfälle kam es zu Dauerschäden an seinem rechten Bein. Der von der Beklagten beauftragte Gutachter bemaß die Gesamtinvalidität des Klägers mit 6/10 von 70% und ordnete diese zu jeweils 3/10 dem ersten und dem zweiten Unfall zu. Die Beklagte zahlte an den Kläger unter Heranziehung der Gliedertaxe in § 7 I (2) a AUB 88 einen Gesamtbetrag von 55.296 €. Der Leistungsberechnung lag für den ersten Unfall eine Versicherungssumme von 122.880 € und für den zweiten Unfall von 138.240 € zugrunde, von der die Beklagte jeweils 21% (3/10 von 70%) ansetzte. Daraus errechneten sich 25.804,80 € für den ersten Unfall und 29.030,40 € für den zweiten Unfall, insgesamt 54.835,20 €. Die Überzahlung von 460,80 € verlangt die Beklagte nicht zurück.

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Der Kläger vertritt die Ansicht, es sei eine Gesamtinvalidität von 42% Berechnungsgrundlage für die Invaliditätsleistung. Von der für den zweiten Unfall festgestellten Invalidität in Höhe von 21% seien 4% auf die einfache Invaliditätssumme, 17% hingegen auf die doppelte Invaliditätssumme zu beziehen. Das ergebe für den zweiten Unfall eine Invaliditätsleistung von 38%, was einem Betrag von 52.531,20 € entspreche. Für beide Unfälle zusammengerechnet seien 78.376 € zu entschädigen abzüglich bereits geleisteter 55.296 €.

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Das Landgericht hat die auf 23.040 € zuzüglich Zinsen gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte in vollem Umfang Erfolg. Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision.

Entscheidungsgründe

7

Das Rechtsmittel ist begründet.

8

I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die von der Beklagten verwendeten Versicherungsbedingungen seien unklar. Die sich bei einer Auslegung des § 7 I AUB 88 und der Besonderen Bedingungen ergebenden Zweifel gingen gemäß § 305c Abs. 2 BGB zu Lasten der Beklagten. Die vom Kläger geltend gemachte Lesart der Bedingungen sei rechtlich vertretbar und stelle die für ihn günstigste Auslegungsmöglichkeit dar; sie sei daher der Berechnung der Invaliditätsleistung zugrunde zu legen. Erst in den AUB 99 - und nicht schon in den zwischen den Parteien vereinbarten AUB 88 - finde sich die klare Festlegung, dass zur Berücksichtigung einer Vorinvalidität "der Invaliditätsgrad" gemindert werden müsse.

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II. Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

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1. Versicherungsbedingungen sind aus sich heraus zu interpretieren ohne vergleichende Betrachtungen mit anderen Versicherungsbedingungen, die dem Versicherungsnehmer regelmäßig nicht bekannt sind und auch nicht bekannt sein müssen, so dass ihm eine bedingungsübergreifende Würdigung deshalb von vornherein verschlossen bleibt (vgl. Senatsurteile vom 30. September 2009 - IV ZR 47/09, VersR 2009, 1622 Tz. 19; vom 17. Mai 2000 - IV ZR 113/99, VersR 2000, 1090 unter 2 a). Die Entstehungsgeschichte der Bedingungen - und erst recht ihre spätere Entwicklung in nachfolgenden Fassungen - hat daher außer Betracht zu bleiben. Es geht allein darum, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer die Klausel in § 7 I (3) AUB 88 in Verbindung mit der Zusatzklausel, wie sie in den Besonderen Bedingungen enthalten ist, bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss (Senatsurteil vom 23. Juni 1993 - IV ZR 135/92, BGHZ 123, 83, 85 m.w.N.). Dabei sind die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit - auch - seine Interessen entscheidend.

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2. Ein solcher Versicherungsnehmer entnimmt zunächst § 7 I (1) AUB 88, dass die Beklagte als Versicherer ihm eine Invaliditätsleistung verspricht für den Fall, dass ein Unfall zu einer dauernden Beeinträchtigung seiner körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit (Invalidität) führt. Unter den in der Klausel weiter genannten Voraussetzungen entsteht ein Anspruch auf Kapitalleistung aus der für den Invaliditätsfall vereinbarten Versicherungssumme. Wie sich die Höhe der Leistung im Einzelnen bemisst, erfährt der Versicherungsnehmer aus § 7 I (2) AUB 88; danach richtet sich diese nach dem Grad der Invalidität. Unter Buchst. a werden feste Invaliditätsgrade genannt, wenn es - wie hier - zum Verlust oder zur Funktionsunfähigkeit von Körperteilen oder Sinnesorganen kommt. Das ist für den (völligen) Verlust oder die (völlige) Funktionsunfähigkeit eines Beines über der Mitte des Oberschenkels ein Invaliditätsgrad von 70%, wobei nach Buchst. b bei einem Teilverlust oder einer bloßen Funktionsbeeinträchtigung des betreffenden Körperteils nur ein entsprechender Teil des der Gliedertaxe zu entnehmenden Prozentsatzes in Ansatz gebracht wird. Für den ersten Unfall errechnet sich daraus - zwischen den Parteien unstreitig - ein Invaliditätsgrad von 21%, für den zweiten Unfall hingegen von insgesamt 42%.

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3. Der Versicherungsnehmer erkennt bei weiterer Durchsicht der Versicherungsbedingungen, dass für die Versicherungsleistung wegen unfallbedingter Invalidität solche Ursachen außer Betracht zu bleiben haben, die sich für das aktuell zu entschädigende Unfallereignis als unfallfremd darstellen. Dieses kommt für ihn in § 7 I (3) AUB 88 zum Ausdruck. Er erkennt daraus, dass Krankheiten und Gebrechen, wenn und soweit sie als Folge eines früheren Unfalls - oder aus anderem Grunde - schon vorher vorhanden waren, nicht dem neuen Unfall zuzurechnen sind. Das bedeutet hier: Beide Unfallereignisse sind getrennt zu betrachten; ferner ist die beim Kläger aufgrund des ersten Unfallereignisses vorhandene Vorschädigung bei der nach dem zweiten Unfallereignis bestehenden Invalidität und der daraus folgenden Versicherungsleistung mindernd zu berücksichtigen. Ein verständiger Versicherungsnehmer darf und wird nicht erwarten, dass der Versicherer ihm Versicherungsschutz auch insoweit bietet, als eine nach dem späteren Unfallereignis festgestellte Gesamtinvalidität eine Teilinvalidität einschließt, die sich auf ein früheres (Unfall-)Ereignis zurückführen lässt (Senatsurteil vom 3. Dezember 1997 - IV ZR 43/97, BGHZ 137, 247, 253). Eine daraus bedingte (Vor-)Invalidität geht zu seinen Lasten.

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4. Dem Versicherungsnehmer wird aus § 7 I (3) AUB 88 weiter deutlich, dass eine solche - hier auf einem früheren Unfallereignis beruhende - Vorinvalidität zu einem Abzug von der zuvor ermittelten Gesamtinvalidität führt. Der Versicherer verweist in § 7 I (3) AUB 88 darauf, dass sich die Höhe dieses Abzuges nach § 7 I (2) AUB 88 richtet, mithin auch hier der Invaliditätsgrad Maß gibt, der - soweit ein entsprechender Teil auf die Vorschädigung entfällt - zu einer Verminderung des vom Versicherer für den späteren Unfall zu entschädigenden Invaliditätsgrades führt.

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5. Vor diesem Hintergrund wird der Versicherungsnehmer die Besonderen Bedingungen U 07/88 interpretieren; für eine Mehrdeutigkeit oder eine sonstige Unklarheit im Sinne des § 305c Abs. 2 BGB ist in diesem Zusammenhang nichts ersichtlich.

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a) Durch die Besonderen Bedingungen wird § 7 I AUB 88 ausdrücklich "erweitert", so dass der Versicherungsnehmer die so in Bezug genommene Klausel und ihren Regelungsgehalt zum Ausgangspunkt nimmt. Bestätigt wird er in dieser Sichtweise durch den nachfolgenden Wortlaut der Besonderen Bedingungen, wonach ein Unfall "nach den Bemessungsgrundsätzen der Nummern (2) und (3)" zu einer dauernden Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit führen muss. Das bringt mit der gebotenen Deutlichkeit zum Ausdruck, dass von den Bemessungsgrundsätzen des § 7 I (2) und (3) AUB 88 nicht abgewichen werden soll, insbesondere soll es bei der Trennung zwischen dem vom Versicherer zu entschädigenden unfallbedingten Invaliditätsgrad und dem dem Versicherungsnehmer zuzurechnenden Vorinvaliditätsgrad - sei er auch seinerseits unfallbedingt - verbleiben. Dies gilt umso mehr, als die Besonderen Bedingungen keine eigenen Bemessungsgrundsätze enthalten, sondern ausdrücklich an die in § 7 I AUB 88 enthaltenen anknüpfen und diese lediglich insoweit fortschreiben, als bei Erreichen eines bestimmten Invaliditätsgrades sich die im Versicherungsschein festgelegte Invaliditätssumme verdoppelt oder sogar verdreifacht. Dies ändert indes nichts daran, dass Basis für die Progression der um die Vorinvalidität bereinigte Invaliditätsgrad ist, der sich allein nach § 7 I (2) und (3) AUB 88 bestimmt.

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b) Allein diese Auslegung der Versicherungsbedingungen der Beklagten, zu der bereits das Landgericht gelangt ist, erweist sich demnach als richtig. Sie folgt den Grundsätzen des Senatsurteils vom 24. Februar 1988 (IVa ZR 220/86, VersR 1988, 461 unter 1 zu AUB 61), an denen festzuhalten ist; für die AUB 88 ergeben sich insoweit keine Besonderheiten (vgl. auch Knappmann in Prölss/Martin, VVG 28. Aufl. § 8 AUB 94 Rdn. 3; Nr. 3 AUB 2008 Rdn. 9; Grimm, Unfallversicherung 4. Aufl. Nr. 3 AUB 99 Rdn. 6; Mangen in Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Handbuch 2. Aufl. § 47 Rdn. 197; Rüffer in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG Ziff. 2 AUB 2008 Rdn. 34). Das Senatsurteil vom 15. Dezember 1999 (IV ZR 264/98, VersR 2000, 444 unter 2 b aa), in dem auf die Rechtsprechung des OLG Saarbrücken (VersR 1998, 836) Bezug genommen wird, steht dem nicht entgegen, denn im dortigen Zusammenhang ging es um eine Klausel, die § 8 AUB 88 entspricht.

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c) Erst der nach § 7 I (2) und (3) AUB 88 ermittelte unfallbedingte Invaliditätsgrad versetzt den Versicherer nach alledem in den Stand, die ihm obliegende Berechnung der nach den Versicherungsbedingungen geschuldeten Entschädigungsleistung vorzunehmen. Die Beklagte hat in den Besonderen Bedingungen lediglich für Fälle, in denen die unfallbedingte Invalidität des Versicherten 25% übersteigt, die Anknüpfung an bewegliche, mit dem unfallbedingten Invaliditätsgrad progressiv steigende Versicherungssummen versprochen, nicht dagegen die Maßgeblichkeit anderer Invaliditätsgrade als der in den AUB vereinbarten (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 1988 aaO unter 2). Folgen zwei Unfälle aufeinander, kommt es auch für den zeitlich späteren Unfall nur auf den Invaliditätsgrad an, der letzterem zuzuordnen ist. Eine Zusammenrechnung oder eine sonstige übergreifende Betrachtung beider Unfälle, wie der Kläger sie geltend macht, scheidet für die progressive Invaliditätsstaffel aus. Einen Invaliditätsgrad, der 25% übersteigt, hat der Kläger allein mit dem zweiten Unfall nicht erreicht, so dass die Beklagte zu einer weiteren Versicherungsleistung nicht verpflichtet ist.

Dr. Kessal-Wulf                                            Felsch                                          Harsdorf-Gebhardt

                                Dr. Karczewski                                     Lehmann