Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 25.05.2011


BGH 25.05.2011 - IV ZR 151/09

Luftfahrzeug-Kaskoversicherung: Anscheinsbeweis für Nichteinhaltung der erforderlichen Mindestflughöhe


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
4. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
25.05.2011
Aktenzeichen:
IV ZR 151/09
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, 5. Juni 2009, Az: 9 U 244/08, Urteilvorgehend LG Hamburg, 22. Oktober 2008, Az: 332 O 45/07
Zitierte Gesetze
§ 3 Nr 1.9 LuftAKB

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 9. Zivilsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 5. Juni 2009 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt eine Entschädigungsleistung aus einer Luftfahrzeug-Kaskoversicherung. Das versicherte Ultraleichtflugzeug stürzte am 30. April 2006 bei einem Überführungsflug im Hunsrück ab, nachdem es gegen einen Baum geprallt war. Dabei kam der Pilot, der damalige Geschäftsführer der Klägerin, ums Leben. Die Beklagte beruft sich auf Leistungsfreiheit gemäß § 3 Nr. 1.9. der vereinbarten Luftfahrt-Kaskoversicherungsbedingungen (AKB-LU), weil der Absturz auf grobe Fahrlässigkeit des Piloten zurückzuführen sei.

2

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, das Oberlandesgericht hat sie abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

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Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

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I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Aus dem Anprall gegen den Baum folge, dass der Pilot die erforderliche Mindestflughöhe nicht eingehalten habe. Damit spreche der Beweis des ersten Anscheins für einen objektiv schweren Verstoß gegen die geltenden Sichtflugregeln und das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit. Der Anschein eines absturzursächlichen Verschuldens des Piloten sei nicht entkräftet. Alternative Absturzursachen seien nicht gänzlich auszuschließen; jedoch lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, die eine dieser möglichen Absturzursachen besonders wahrscheinlich machten.

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II. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Berufungsgericht hat sowohl die Voraussetzungen grober Fahrlässigkeit als auch die Grundsätze des Anscheinsbeweises verkannt.

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1. Grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nach den gesamten Umständen in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Im Gegensatz zur einfachen Fahrlässigkeit muss es sich bei einem grob fahrlässigen Verhalten um ein auch in subjektiver Hinsicht unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich übersteigt (Senatsurteile vom 29. Oktober 2003 - IV ZR 16/03, VersR 2003, 1561 unter II 2 b und vom 29. Januar 2003 - IV ZR 173/01, VersR 2003, 364 unter II 2; st. Rspr.).

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a) Die Feststellung ihrer tatsächlichen Voraussetzungen und die Abgrenzung zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit obliegen im Einzelfall in erster Linie dem Tatrichter. Seine Entscheidung kann in der Revisionsinstanz nur beschränkt darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff der groben Fahrlässigkeit verkannt, bei der Beurteilung des Verschuldensgrades wesentliche Umstände außer Acht gelassen worden sind oder gegen Denkgesetze, Erfahrungssätze oder Verfahrensvorschriften verstoßen worden ist (st. Rspr.; z.B. BGH, Urteile vom 13. Dezember 1995 - VIII ZR 41/95, BGHZ 131, 288, 296; vom 17. Oktober 2000 - XI ZR 42/00, BGHZ 145, 337, 340; vom 12. Juli 2005 - VI ZR 83/04, BGHZ 163, 351, 353; vom 22. Juli 2010 - III ZR 203/09, NJW-RR 2010, 1623 Rn. 12).

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b) Ein solcher Fehler liegt hier vor. Das Berufungsurteil unterliegt bereits deshalb der Aufhebung, weil es keine Feststellungen zur subjektiven Seite der groben Fahrlässigkeit enthält. Es beschränkt sich auf die - unter Anwendung der Regeln des Anscheinsbeweises erfolgte - Feststellung eines objektiv groben Sorgfaltsverstoßes und lässt somit nicht erkennen, dass der Tatrichter sich der Notwendigkeit einer auch subjektiv schlechthin unentschuldbaren Pflichtverletzung bewusst gewesen ist. Der insoweit erforderlichen Darlegung und Abwägung ist nicht durch die Bezugnahme auf die Entscheidung des Saarländischen Oberlandesgerichts (VersR 1984, 880) in einem in den Einzelheiten anders gelagerten Sachverhalt Genüge getan.

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2. Darüber hinaus ist die Feststellung einer unfallursächlichen schweren objektiven Pflichtverletzung auf Grundlage der Regeln des Anscheinsbeweises von Rechtsfehlern beeinflusst.

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a) Es kann offen bleiben, in welchen Fällen bei Unfällen im Luftverkehr ein Anscheinsbeweis denkbar ist (vgl. dazu BGH, Urteil vom 27. November 1979 - VI ZR 267/78, VersR 1980, 234 unter II 2 b; insoweit in BGHZ 76, 32 nicht abgedruckt). Voraussetzung ist jedenfalls, dass im Einzelfall ein typischer Geschehensablauf vorliegt, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache hinweist und so sehr das Gepräge des Gewöhnlichen und Üblichen trägt, dass die besonderen individuellen Umstände in ihrer Bedeutung zurücktreten (Senatsurteil vom 18. März 1987 - IVa ZR 205/85, BGHZ 100, 214, 216).

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b) Dies ist hier nicht der Fall. Das Berufungsgericht hat den Anscheinsbeweis zu Unrecht allein darauf gestützt, dass der Pilot mit dem Flugzeug gegen einen Baum geprallt ist, woraus sich die Nichteinhaltung der erforderlichen Mindestflughöhe ergebe. Anders als im oben zitierten Fall des Saarländischen Oberlandesgerichts ist nicht unstreitig, dass sich das Flugzeug in normalem kontrollierten Flugzustand und einer Querlage von null Grad im Horizontal- oder leichten Steigflug befunden hat, als es zum Anprall und Absturz kam. Angesichts des Umstandes, dass der Anprall gegen den Baum nicht am Waldrand, sondern mitten in einem Waldgebiet geschah, deutet auch kein Erfahrungssatz hierauf hin. Die Klägerin hat dementsprechend geltend gemacht, dass sich das Flugzeug im Zeitpunkt des Aufpralls möglicherweise bereits im Sinkflug befunden habe, sei es wegen gesundheitlicher Probleme des Piloten, einer Windscherung, eines technischen Defekts und/oder einer versuchten Notlandung. Ferner habe der Zeuge S.      ungewöhnliche Flugbewegungen beobachtet.

12

Gegenteilige Feststellungen haben weder das Landgericht noch das Berufungsgericht getroffen. Insbesondere haben sie nicht geklärt, ob der Sachverständige K.     , der bei seiner mündlichen Anhörung jedenfalls eine Waldlandung ausschließen wollte, abweichend vom Vorbringen der Klägerin von einem horizontalen Anflug gegen den Baum ausgegangen ist. Ohne einen Nachweis dieser Mindesttatsache kommt die Annahme eines typischen Geschehensablaufs, der nach der Lebenserfahrung auf einen schuldhaften Verstoß gegen die Einhaltung der Mindestflughöhe als Absturzursache hinweist, nicht in Betracht.

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c) Unabhängig hiervon hat das Berufungsgericht zudem die Anforderungen an eine Erschütterung des Anscheinsbeweises - sofern dieser nach obigen Ausführungen noch in Betracht kommt - überspannt.

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Der Anscheinsbeweis greift nicht ein, wenn das Schadengeschehen Umstände aufweist, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass der Unfall anders abgelaufen ist als nach dem "Muster" der der Anscheinsregel zugrunde liegenden Erfahrungstypik. Hierfür genügt die bloße, häufig nicht auszuschließende reine Denkmöglichkeit einer Alternativursache zwar nicht. Es müssen vielmehr feststehende, d.h. gegebenenfalls zur Überzeugung des Tatrichters nachgewiesene Umstände hinzu kommen, die wegen dieser Abweichungen des Sachverhalts von den typischen Sachverhalten einen anderen Geschehensablauf als ebenfalls ernsthaft in Betracht kommende Möglichkeit nahe legen (BGH, Urteil vom 3. Juli 1990 - VI ZR 239/89, NJW 1991, 230 unter II 3). Nicht erforderlich ist jedoch, dass danach eine andere Ursache bereits "besonders wahrscheinlich" ist, wie es das Berufungsgericht angenommen hat.

15

Da der Sachverständige K.      bei seiner Anhörung vor dem Landgericht alternative Ursachen immerhin für möglich gehalten hat, hätte das Berufungsgericht - z.B. durch weitere Befragung des Sachverständigen - klären müssen, ob die von der Klägerin in das Wissen des Zeugen S.      gestellten Beobachtungen der Flugbewegungen vor dem Aufprall solche Umstände wären, die ein abweichendes Unfallgeschehen ernsthaft in Betracht kommen lassen. Bejahendenfalls wäre auch diesem Beweisantritt nachzugehen gewesen.

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3. Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass ohne Hinzutreten zusätzlicher Feststellungen eine unfallursächliche grobe Fahrlässigkeit des Piloten auch nicht im Hinblick darauf bejaht werden kann, dass er den Flug trotz ungünstiger Wetterbedingungen durchführte. Hierzu kann auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts zur nicht feststellbaren Kausalität verwiesen werden.

Dr. Kessal-Wulf                                    Wendt                                             Felsch

                                    Lehmann                               Dr. Brockmöller