Entscheidungsdatum: 10.11.2010
Auf die Beschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 26. Mai 2009 zugelassen.
Das vorbezeichnete Urteil wird gemäß § 544 Abs. 7 ZPO aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Streitwert: 33.000 €
I. Der Kläger nimmt die Beklagte aus einer Kraftfahrzeug-Teilversicherung wegen Entwendung eines Motorrades in Anspruch.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger Eigentümer des versicherten Motorrades ist und ob es entwendet wurde. Das Landgericht hat zu beiden Punkten Beweis durch Vernehmung von zwei Zeugen erhoben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger eine Entschädigung von 33.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten zu zahlen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht nach Anhörung des Klägers ohne erneute Vernehmung der Zeugen die Klage abgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
II. Die Beschwerde hat Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
1. Das Berufungsgericht hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt, indem es die erstinstanzlich vernommenen Zeugen nicht erneut gehört hat, obwohl es deren Aussagen anders als das Landgericht gewürdigt hat.
a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Bei Zweifeln an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen ist eine erneute Beweisaufnahme zwingend geboten. Das gilt insbesondere für die erneute Vernehmung von Zeugen, die grundsätzlich gemäß § 398 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Berufungsgerichts steht. Es ist aber verpflichtet, einen in erster Instanz vernommenen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es seine Glaubwürdigkeit anders als der Erstrichter beurteilen oder die protokollierte Aussage anders als die Vorinstanz verstehen oder würdigen will (Senatsbeschluss vom 21. April 2010 - IV ZR 172/09, juris Rn. 5; BGH, Beschlüsse vom 14. Juli 2009 - VIII ZR 3/09, NJW-RR 2009, 1291 Rn. 5; vom 15. September 2005 - I ZR 58/03, NJW-RR 2006, 267 unter II 1 a aa; vom 12. März 2004 - V ZR 257/03, BGHZ 158, 269, 272 ff.; vom 8. Dezember 1999 - VIII ZR 340/98, NJW 2000, 1199 unter II 2 a; vom 10. März 1998 - VI ZR 30/97, NJW 1998, 2222 unter II A 1 b; vom 30. September 1992 - VIII ZR 196/91, NJW 1993, 64 unter II 2 a; jeweils m.w.N.). Würdigt das Berufungsgericht eine Zeugenaussage anders als das erstinstanzliche Gericht, ohne den Zeugen erneut selbst zu vernehmen, so verletzt es das rechtliche Gehör der benachteiligten Partei (Senatsbeschluss vom 21. April 2010 aaO Rn. 4; BGH, Urteil vom 14. Juli 2009 aaO Rn. 4 m.w.N.). Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen (d.h. seine Glaubwürdigkeit) noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit (d.h. die Glaubhaftigkeit) seiner Aussage betreffen (BGH, Beschluss vom 14. Juli 2009 aaO Rn. 5; Urteil vom 10. März 1998 aaO; jeweils m.w.N.).
b) Das Berufungsgericht ist seiner Pflicht zur Wiederholung der Beweisaufnahme in zweifacher Hinsicht nicht nachgekommen.
aa) Zum einen hat es den Zeugen R. nicht nochmals dazu vernommen, ob der Kläger Eigentum an dem Motorrad erworben hatte. Das Landgericht hat den Eigentumsnachweis durch die Aussage dieses Zeugen als erbracht angesehen. Hingegen hat das Berufungsgericht die Angaben des Zeugen R. zum Ankauf der Maschine für "nebulös" und nicht geeignet gehalten, um nachzuweisen, dass er selbst einmal Eigentümer des Motorrades gewesen war. Die Glaubhaftigkeit der Bekundungen des Zeugen R. hat das Berufungsgericht deshalb verneint, weil deutliche Anhaltspunkte für unrichtige Angaben vorlägen. Damit hat es zugleich die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Zweifel gezogen. Zu dieser von der Würdigung des Landgerichts abweichenden Beurteilung durfte das Berufungsgericht nicht kommen, ohne den Zeugen R. selbst vernommen zu haben.
bb) Zum anderen hat das Berufungsgericht eine erneute Vernehmung des Zeugen H. unterlassen. Aufgrund der Bekundungen dieses Zeugen hat das Landgericht das äußere Bild eines Diebstahls des Motorrades für bewiesen gehalten. Es hat die Aussage des Zeugen als stimmig und widerspruchsfrei und somit glaubhaft bezeichnet und an seiner Glaubwürdigkeit keine Zweifel gehabt. Dagegen vermochte das Berufungsgericht eine ausreichend sichere Überzeugung von der Entwendung des Motorrades auf die Aussage des Zeugen H. nicht zu stützen. Es hat seine Angaben zu der behaupteten Entwendung als "dürftig und farblos" bezeichnet. Es hätte aber die Aussage des Zeugen H. nur dann anders als das Landgericht verstehen dürfen, wenn es ihn selbst gehört hätte.
Von einer erneuten Vernehmung des Zeugen H. konnte das Berufungsgericht nicht deshalb absehen, weil es den Kläger persönlich angehört hat. Durch Anhörung des Versicherungsnehmers nach § 141 ZPO darf die Überzeugung vom Vorliegen des äußeren Bildes einer bedingungsgemäßen Entwendung nur dann gewonnen werden, wenn dem Versicherungsnehmer ein Zeuge nicht zur Verfügung steht. Ist - wie hier - ein Zeuge für das Abstellen und spätere Nichtwiederauffinden des Fahrzeugs angeboten worden, so kann sich der Tatrichter nicht auf eine Anhörung des Versicherungsnehmers beschränken. Vielmehr muss er dem Beweisangebot durch Vernehmung des benannten Zeugen nachgehen. Eine Anhörung des Versicherungsnehmers kommt erst dann in Betracht, wenn sich der Kläger tatsächlich in Beweisnot befindet, d.h. wenn ihm keine Beweismittel zur Verfügung stehen, um den erforderlichen Beweis des äußeren Bildes einer Entwendung zu erbringen (Senatsurteile vom 30. Januar 2002 - IV ZR 263/00, VersR 2002, 431 unter 2 b; vom 22. September 1999 - IV ZR 172/98, VersR 1999, 1535 unter I 2; vom 19. Februar 1997 - IV ZR 12/96, VersR 1997, 691 unter 1 b; vom 21. Februar 1996 - IV ZR 300/94, BGHZ 132, 79, 82; vom 24. April 1991 - IV ZR 172/90, VersR 1991, 917 unter 2; jeweils m.w.N.).
cc) Die Gehörsverletzungen sind entscheidungserheblich. Es ist nicht auszuschließen, dass das Berufungsgericht nach erneuter Vernehmung der Zeugen R. und H. zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre.
2. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Eine von der Beklagten geltend gemachte vorsätzliche Verletzung der Aufklärungsobliegenheit nach § 7 I (2) Satz 3 AKB a.F. setzt zunächst voraus, dass die Angaben des Klägers zum Kilometerstand des Motorrades objektiv unrichtig waren. Dies ergibt sich nicht daraus, dass der Kläger in seiner E-Mail vom 7. Oktober 2006 und in der ausführlichen Schadenanzeige vom 22. November 2006 eine Gesamtlaufleistung von 1.600 km angab, ohne hinzuzufügen, dass der von dem gebrauchten Tacho angezeigte Kilometerstand um 17.300 km höher lag. In der Schadenanzeige verneinte der Kläger die Frage, ob die Gesamtlaufleistung mit dem Tachostand identisch sei. Zudem teilte er mit E-Mail vom selben Tag der Beklagten mit, dass der Tacho bei Erwerb 17.300 km angezeigt habe. Dass das Motorrad tatsächlich eine um 17.300 km höhere oder sonst abweichende Laufleistung aufwies, hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Dazu genügt es nicht, dass der Kläger anlässlich seiner persönlichen Anhörung nicht ausschließen konnte, dass das Motorrad nicht schon im Straßenverkehr bewegt worden war, bevor er es von dem Zeugen R. erwarb.
b) Außerdem müsste dem Kläger ein höherer Kilometerstand bekannt gewesen sein. Die Kenntnis der mitzuteilenden Umstände gehört zum objektiven und vom Versicherer zu beweisenden Tatbestand der Aufklärungsobliegenheit. Für deren Verletzung kommt es darauf an, ob der Versicherungsnehmer bei der Beantwortung von Fragen Kenntnis von Umständen oder Tatsachen hatte, die er dem Versicherer in Erfüllung der Obliegenheit mitzuteilen hatte. Fehlt ihm diese Kenntnis, so kann er die Obliegenheit schon objektiv nicht verletzen, denn es gibt nichts, worüber er nach seinem Kenntnisstand den Versicherer aufklären könnte (Senatsbeschluss vom 12. Dezember 2007 - IV ZR 40/06, VersR 2008, 484 Rn. 4; Senatsurteil vom 13. Dezember 2006 - IV ZR 252/05, VersR 2007, 389 Rn. 10, 13 ff. m.w.N., Anm. Prölss, VersR 2008, 674).
c) Erst wenn eine objektive Obliegenheitsverletzung festgestellt werden kann, hat der Kläger die Vorsatzvermutung des § 6 Abs. 3 Satz 1 VVG a.F. zu widerlegen und zu beweisen, dass ihn ein geringeres Verschulden als Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit trifft (vgl. Senatsurteile vom 12. Dezember 2007 aaO Rn. 7; vom 2. Juni 1993 - IV ZR 79/92, VersR 1993, 960 unter I 2; vom 21. April 1993 - IV ZR 34/92, VersR 1993, 828 unter 2 c m.w.N.).
d) Schließlich wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass sich der Versicherer nach der Relevanzrechtsprechung auf völlige Leistungsfreiheit nur dann berufen kann, wenn die vorsätzliche Verletzung der Aufklärungspflicht zwar folgenlos geblieben, aber generell geeignet ist, die berechtigten Interessen des Versicherers ernsthaft zu gefährden und dem Versicherungsnehmer ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, für dessen Fehlen er beweispflichtig ist (Senatsurteile vom 7. Juli 2004 - IV ZR 265/03, VersR 2004, 1117 unter 3; vom 21. Januar 1998 - IV ZR 10/97, VersR 1998, 447 unter 2 b; vom 21. April 1982 - IVa ZR 267/80, BGHZ 84, 84, 87; jeweils m.w.N.).
Terno Wendt Felsch
Harsdorf-Gebhardt Dr. Karczewski