Entscheidungsdatum: 18.07.2013
1. Behandelt das FA einen vorübergehend im Inland tätigen Saisonarbeiter, der seinen Familienwohnsitz im EU-Ausland hat, als unbeschränkt steuerpflichtig, hängt die von der Familienkasse und dem FG vorzunehmende Prüfung der kindergeldrechtlichen Anspruchsberechtigung von der Art der persönlichen Steuerpflicht ab.
2. Das durch § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG geforderte Vorliegen eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts des Anspruchstellers im Inland haben Familienkasse und FG ohne Bindung an die Feststellungen des FA im Besteuerungsverfahren zu prüfen.
3. Die Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG setzt voraus, dass das FA den Anspruchsteller aufgrund einer entsprechenden Ausübung seines Antragswahlrechts nach § 1 Abs. 3 EStG als fiktiv unbeschränkt steuerpflichtig behandelt hat. Ergibt sich eine vom FA vorgenommene Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Steuerbescheids selbst, kommt es darauf an, ob der Anspruchsteller nach den ihm im Laufe des Veranlagungsverfahrens bekannt gewordenen Umständen unter Berücksichtigung von Treu und Glauben und mit Rücksicht auf die Verkehrssitte den objektiven Inhalt des Bescheids so verstehen konnte, dass seinem Antrag entsprochen wurde.
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist polnischer Staatsbürger. Er hat zusammen mit seiner Ehefrau und den beiden im Januar 2000 und im August 2004 geborenen gemeinsamen Kindern seinen (Familien-)Wohnsitz in Polen. Dort ist er als (selbständiger) Landwirt tätig. Nach einer Bestätigung der polnischen landwirtschaftlichen Sozialversicherung vom 17. Mai 2007 unterlag er in Polen vom 1. April 1991 bis 9. Januar 2006 sowie vom 5. März 2006 bis auf Weiteres kraft Gesetzes der Renten-, Unfall- und Krankenversicherung.
In der Zeit vom 11. Januar 2005 bis 1. April 2005 sowie vom 9. Januar 2006 bis 4. März 2006 war der Kläger vorübergehend in Deutschland nichtselbständig als Saisonarbeitskraft in einem Gemüsebaubetrieb tätig. Das zuständige Finanzamt (FA) behandelte den Kläger als unbeschränkt steuerpflichtig, und setzte die Einkommensteuer für die Jahre 2005 und 2006 auf jeweils 0 € fest.
Ausweislich der Bescheinigungen des Arbeitgebers war der Kläger in Deutschland aufgrund seiner in Polen ausgeübten selbständigen Tätigkeit nicht sozialversicherungspflichtig.
In Polen erhielten der Kläger und seine Ehefrau ab Januar 2005 für ihre beiden Kinder keine Familienbeihilfe.
Den Antrag des Klägers auf deutsches Kindergeld lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 19. September 2007 und Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 2007 mit der Begründung ab, der Anspruch auf Kindergeld sei nach Art. 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --VO Nr. 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 --VO Nr. 647/2005-- (Amtsblatt der Europäischen Union 2005 Nr. L 117, S. 1) ausgeschlossen, weil der Kläger weiterhin in Polen sozialversicherungspflichtig gewesen sei.
Der hiergegen erhobenen Klage gab das Finanzgericht (FG) statt und verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung von Kindergeld für die Monate Januar bis April 2005 sowie Januar bis März 2006 in Höhe von jeweils 154 € pro Kind und Monat.
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Im Laufe des Revisionsverfahrens erließ die Familienkasse zwei Teilabhilfebescheide vom 10. Februar 2010 und vom 6. Februar 2013, durch die unter Anrechnung eines Anspruchs auf polnische Familienleistungen (2005: 10,20 € je Kind und Monat; 2006: 11,41 € je Kind und Monat) je Kind Differenzkindergeld für die Monate Januar 2005 bis April 2005 in Höhe von 142,59 € und für die Monate Januar 2006 bis März 2006 in Höhe von 143,80 € festgesetzt wurde.
Die Familienkasse beantragt sinngemäß, das Urteil des FG insoweit aufzuheben, als sie verpflichtet wurde, für die Monate Januar 2005 bis April 2005 Kindergeld in Höhe von mehr als 142,59 € und für die Monate Januar 2006 bis März 2006 in Höhe von mehr als 143,80 € je Kind und Monat festzusetzen, und die Klage insoweit abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. 1. Die Familienkasse ... der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit ... (Familienkasse) eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105, unter II.A.).
2. Das Urteil des FG ist bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben. Da während des Revisionsverfahrens Änderungsbescheide ergangen sind, ist das Urteil gegenstandslos geworden (z.B. BFH-Urteil vom 10. November 2004 XI R 30/04, BFHE 208, 194, BStBl II 2005, 274, m.w.N.). Einer Zurückverweisung an das FG nach § 127 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bedarf es nicht, weil sich durch die Änderung der bisherige Streitstoff lediglich reduziert hat. Der Senat entscheidet über den Ablehnungsbescheid vom 19. September 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16. Oktober 2007 und der gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Revisionsverfahrens gewordenen Teilabhilfebescheide vom 10. Februar 2010 und vom 6. Februar 2013.
3. Ein Ruhen oder Aussetzen des Verfahrens kommt nicht in Betracht.
a) Für das vom Kläger beantragte Ruhen des Verfahrens gilt dies schon deshalb, weil hierfür gemäß § 251 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 FGO ein übereinstimmender Antrag beider Beteiligten erforderlich wäre, an dem es jedoch fehlt.
b) Eine Aussetzung des Verfahrens in analoger Anwendung des § 74 FGO (Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 74 Rz 14) im Hinblick auf das vom Kläger angeführte, vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Verfahren mit dem Az. C-4/13 ist ebenfalls nicht angebracht. Dieses Verfahren betrifft die Auslegung des Art. 76 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71, der nur dann Anwendung findet, wenn in dem Wohnsitzland der Kinder der Anspruch auf die Familienleistungen von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig ist. Diese Voraussetzung ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erfüllt, da die Kinder im Streitzeitraum in Polen gelebt haben und der Anspruch auf Familienleistungen dort nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängt.
III.
Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG.
1. Die vom FG getroffenen Feststellungen tragen nicht die Schlussfolgerung, dass der Kläger im Anspruchszeitraum Januar 2005 bis April 2005 sowie Januar 2006 bis März 2006 die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erfüllt hat.
Nach § 62 Abs. 1 EStG hat für Kinder i.S. des § 63 EStG Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt (Nr. 1) hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (Nr. 2 Buchst. a) oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Nr. 2 Buchst. b).
a) aa) Ob der Anspruchsteller i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, müssen die Familienkasse und das FG ohne Bindung an die im Einkommensteuerfestsetzungsverfahren vom zuständigen FA getroffenen Feststellungen selbständig entscheiden (Senatsurteil vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564).
bb) In der angegriffenen Entscheidung hat das FG hingegen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG bejaht, ohne Feststellungen zu einem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland getroffen zu haben. Vielmehr wurde im Tatbestand des Urteils nur ein (Familien-)Wohnsitz in Polen festgestellt. Soweit das FG in den Entscheidungsgründen darüber hinaus festgestellt hat, dass der Kläger vom zuständigen FA als unbeschränkt Steuerpflichtiger behandelt wurde und dass das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht von den Beteiligten nicht in Zweifel gezogen wurde, ist dies für die vom FG zu prüfende Frage, ob ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland vorlag, nicht von Bedeutung.
b) Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG i.V.m. § 1 Abs. 2 EStG ergaben sich für das FG nach dem festgestellten Sachverhalt ebenfalls keine Anhaltspunkte.
c) aa) Eine Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG hängt nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats davon ab, dass der Anspruchsteller aufgrund eines entsprechenden Antrags vom zuständigen FA nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Senatsurteil vom 24. Mai 2012 III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897). Die Tatsache allein, dass beispielsweise bei einem ausländischen Saisonarbeitnehmer im Einkommensteuerbescheid von einer unbeschränkten Steuerpflicht ausgegangen wurde, besagt nicht notwendigerweise, dass es sich um eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG gehandelt hat. Vielmehr kann einem solchen Bescheid z.B. auch eine --für die Familienkasse und das FG nicht bindende-- unzutreffende Bejahung der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 EStG zugrunde liegen. Soweit sich daher eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG nicht unmittelbar aus dem Wortlaut des Steuerbescheids selbst ergibt, ist zu prüfen, ob der Anspruchsteller sein Antragswahlrecht gegenüber dem FA entsprechend ausgeübt hat (insbesondere durch entsprechende Erklärung im Antragsformular). Da § 124 Abs. 1 Satz 2 der Abgabenordnung die Auslegung des Verwaltungsakts nach dem "objektiven Verständnis- bzw. Empfängerhorizont” für maßgebend erklärt, ist ein entsprechender Einkommensteuerbescheid so auszulegen, wie der Empfänger ihn verstehen konnte und musste (Müller-Franken in Hübschmann/Hepp/Spitaler --HHSp--, § 124 AO Rz 183). Für die mit der Wirksamkeit des Einkommensteuerbescheids verbundenen Rechtsfolgen kommt es damit nicht auf das von der Behörde Gewollte an, sondern darauf, wie der Empfänger nach den ihm im Laufe des Veranlagungsverfahrens bekannt gewordenen Umständen den materiellen Gehalt (objektiven Inhalt) der Erklärung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte verstehen konnte. Das Erklärte gilt damit auch dann, wenn der Steuerbescheid nach dem Willen der Finanzbehörde einen anderen Inhalt haben sollte (Müller-Franken in HHSp, § 124 AO Rz 183 f.). Es ist daher gegebenenfalls unter Rückgriff auf die Veranlagungsakten zu klären, wie der Anspruchsteller den Einkommensteuerbescheid verstehen konnte.
bb) Im Streitfall hat das FG zwar festgestellt, dass das FA den Kläger als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt hat, nicht hingegen, dass der Kläger einen Antrag auf Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG gestellt hat und die ergangenen Einkommensteuerbescheide nach den Gesamtumständen auch so verstehen durfte, dass das FA diesem Antrag entsprochen hat. Auch lässt sich aus dem Wortlaut der in der Kindergeldakte befindlichen Einkommensteuerbescheide 2005 und 2006 nicht entnehmen, dass der Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wurde.
Unbeachtlich ist in diesem Zusammenhang, ob das FA im Laufe des Revisionsverfahrens bestätigt hat, dass es den Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG behandelt hat. Zum einen handelt es sich insoweit um neues tatsächliches Vorbringen, das im Revisionsverfahren keine Berücksichtigung finden kann. Zum anderen kommt es nach den dargelegten Grundsätzen nicht auf die Sichtweise der Behörde an, sondern auf die Auslegung des Bescheids aus der Sicht eines objektiven Empfängers.
cc) Sollte das FG im zweiten Rechtsgang feststellen, dass das FA einem Antrag des Klägers, ihn nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig zu behandeln, entsprochen hat, wäre überdies festzustellen, ob der Kläger in den streitigen Monaten Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt hat (vgl. insofern BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491; Senatsurteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt).
2. Soweit die nachzuholende Prüfung des FG das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 EStG ergeben sollte, wäre weiter zu prüfen, wie eine Konkurrenz zu etwaigen Ansprüchen des Klägers oder seiner Ehefrau auf in Polen zu gewährende Familienleistungen aufzulösen ist. Insoweit verweist der Senat wegen der weiteren Einzelheiten zum einen auf das Senatsurteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11 (zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt). Zum anderen wird hinsichtlich der Frage, unter welchen Voraussetzungen bei einer etwaigen Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ein Anspruch auf Familienleistungen in Polen zu berücksichtigen ist, auf das Senatsurteil vom 13. Juni 2013 III R 10/11 (zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt) Bezug genommen.