Entscheidungsdatum: 07.04.2011
1. NV: Ein in Deutschland tätiger Arbeitnehmer mit Wohnsitz im EU-Ausland unterliegt hinsichtlich des Kindergeldes den deutschen Rechtsvorschriften .
2. NV: Wer mehr als sechs Monate zusammenhängend im Inland arbeitet und seinen Inlandsaufenthalt jeweils nur kurzfristig für Heimfahrten nach Polen unterbricht, hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach § 9 Satz 2 AO im Inland. Insoweit ist unerheblich, ob festgestellt werden kann, wann er sich wo im Inland aufgehalten und in welchen Wohnungen oder Wohncontainern er übernachtet hat .
I. Der … Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Oberschlesier und besitzt sowohl die deutsche als auch die polnische Staatsangehörigkeit. Er war seit dem 16. Februar 2006 unbefristet und sozialversicherungspflichtig bei einem deutschen Bauunternehmen vollzeitbeschäftigt.
Den Antrag auf Gewährung von Kindergeld für seinen im November 2005 geborenen Sohn, der mit seiner Mutter --der Ehefrau des Klägers-- in der Familienwohnung in Polen lebt, lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) wegen fehlender Mitwirkung des Klägers ab. Den Einspruch wies die Familienkasse im Januar 2007 als unbegründet zurück, weil der Kläger keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt habe und auch nicht nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt worden sei.
Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, es könne nicht festgestellt werden, ob und ggf. wo der Kläger im Inland einen Wohnsitz gehabt habe. Aus der Bestätigung seines Arbeitgebers gehe hervor, dass er im Süden von Rheinland-Pfalz in B eine firmeneigene Wohnung nutze, für die er keine Miete oder Nebenkosten zahle, auf dem Fragebogen habe der Kläger dagegen erklärt, er habe die Wohnung von seinem Vater gemietet und sei dort nur für postalische Zwecke angemeldet. Aus einem weiteren Fragebogen gehe hervor, dass sich der Kläger an den Wochentagen in Süddeutschland und am Wochenende in B aufgehalten habe. In der Klagebegründung habe er dagegen ausgeführt, sein Wohnsitz sei in der Pfalz, er arbeite jedoch regelmäßig in der Umgebung von U im Norden von Rheinland-Pfalz. Sein Postsparbuch nenne eine Adresse in A, für 2000 bis 2002 sei eine Steuernummer in A und für 2002 bis 2004 eine Steuernummer in Y angegeben worden; 2005 habe er sich im Ausland aufgehalten. Daher habe der Kläger nicht dargelegt, ob er über einen inländischen Wohnsitz verfügt und ob sich dieser in U, in B, in A oder in einem Bauwagen seines Arbeitgebers an der jeweiligen Baustelle befunden habe. Der Einkommensteuerbescheid für 2006, in dem der Kläger einzeln veranlagt worden sei, entfalte insofern keine Bindungswirkung, da das Finanzamt das Innehaben eines Wohnsitzes in B nicht geprüft habe.
Zur Begründung der Revision trägt der Kläger vor, ihm stehe Kindergeld auch ohne inländischen Wohnsitz zu, da er in Deutschland Sozialversicherungsbeiträge leiste. Zudem habe er aufgrund seiner Beschäftigung bei dem deutschen Bauunternehmen bis zum 31. Dezember 2006 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt; das FG habe eine Beweisaufnahme dazu verfahrensfehlerhaft unterlassen. Bereits nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises sei es ausgeschlossen, dass er täglich zwischen Oberschlesien und dem Arbeitsort in Deutschland gependelt sei.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das FG-Urteil sowie den Ablehnungsbescheid vom 2. November 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 9. Januar 2007 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, für seinen Sohn Kindergeld ab Juni 2006 festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise, das FG-Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG.
Beim Kindergeld handelt es sich um eine Familienleistung im Sinne der für den Streitzeitraum --noch (Blümich/Treiber, § 62 EStG Rz 20)-- maßgebenden Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71). Deren Art. 13 ff. bestimmen, welche Rechtsvorschriften auf innerhalb der Europäischen Gemeinschaft (jetzt: Europäische Union) zu- und abwandernde Erwerbstätige anzuwenden sind. Die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 bezwecken damit, dass die Betroffenen grundsätzlich nur dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, um eine Kumulierung anwendbarer Rechtsvorschriften und der sich daraus möglicherweise ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden (Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 20. Mai 2008 C-352/06, Bosmann, Slg. 2008, I-3827 Rz 16; vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Amtsblatt der Europäischen Union 2010, Nr. C 346, 8 Rz 40).
Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt. Da der Kläger im Streitzeitraum in Deutschland als Arbeitnehmer tätig war und für das Vorliegen eines Ausnahmetatbestands nach Art. 14 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 nichts ersichtlich ist, unterliegt er für diesen Zeitraum hinsichtlich des Kindergeldes den deutschen Rechtsvorschriften.
2. Ein Anspruch auf Kindergeld setzt nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG voraus, dass der Anspruchsberechtigte einen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung --AO--) oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland hat.
Das FG hat zwar einen inländischen Wohnsitz des Klägers abgelehnt, aber nicht geprüft, ob er seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte.
Der Kläger hat behauptet, seit Februar 2006 bis zum Jahresende und damit mehr als sechs Monate zeitlich zusammenhängend im Inland gearbeitet und seinen Inlandsaufenthalt jeweils nur kurzfristig für Heimfahrten nach Polen unterbrochen zu haben. Wenn dies zutrifft und er an seinen Arbeitstagen im Inland übernachtet hat, wären die Voraussetzungen eines gewöhnlichen Aufenthaltes im Inland nach § 9 Satz 2 AO erfüllt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 25. Mai 1988 I R 225/82, BFHE 154, 7, BStBl II 1988, 944; Musil in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 9 AO Rz 36; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 9 AO Rz 11).
Insoweit käme es nicht darauf an, ob festgestellt werden kann, an welchen Orten sich der Kläger im Inland zu welchen Zeitpunkten aufgehalten hat, denn § 9 Satz 2 AO lässt --im Gegensatz zu § 9 Satz 1 AO-- einen zeitlich zusammenhängenden Aufenthalt von mehr als sechs Monaten im Geltungsbereich der AO genügen. Wechselnde Unterkünfte in verschiedenen Wohnungen oder in Wohncontainern auf unterschiedlichen Baustellen würden auch dann ausreichen, wenn der Kläger dabei zwischen mehreren Bundesländern gewechselt haben sollte (vgl. Kruse in Tipke/ Kruse, a.a.O., § 9 AO Rz 5).
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat bislang weder geprüft, ob der Kläger im Streitzeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, noch ob die übrigen Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch gegeben sind. Dies ist im zweiten Rechtsgang nachzuholen.