Entscheidungsdatum: 15.03.2012
1. NV: Eine Kindesmutter aus dem Libanon, der die Aufenthaltsbefugnis rechtskräftig rückwirkend aberkannt wurde und die nicht in den Arbeitsmarkt integriert war, hat keinen Anspruch auf Kindergeld .
2. NV: Werden nach der Wiederaufnahme des ruhenden Revisionsverfahrens Unterlagen vorgelegt, die für eine türkische Staatsangehörigkeit der Klägerin sprechen - so dass ein Kindergeldanspruch aufgrund des Vorläufigen Europäischen Abkommens über soziale Sicherheit gegeben wäre -, so verhilft das der Revision nicht zum Erfolg, wenn das FG bindend festgestellt hat, dass die Klägerin die Tochter aus dem Libanon eingereister Kurden ist und ihre Staatsangehörigkeit von ihr selbst und in einem deutschen Reisedokument als libanesisch bezeichnet wurde .
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wurde im März 1984 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) als Tochter kurdischer Eltern geboren, die aus dem Libanon eingereist waren. Im April 2002 beantragte sie für ihre im Januar 2002 geborene Tochter Kindergeld und gab an, die libanesische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Sie war im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis und eines Reisedokuments, das ihre Staatsangehörigkeit ebenfalls als "libanesisch" bezeichnete.
Mit Bescheid vom 16. April 2002 lehnte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) den Antrag ab und wies zur Begründung darauf hin, dass ausländischen Staatsangehörigen ohne qualifizierte Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung (§§ 15, 27 des Ausländergesetzes --AuslG--) ein Kindergeldanspruch nicht zustehe. In dem sich anschließenden Einspruchsverfahren machte die Klägerin geltend, sie sei staatenlos und habe deshalb einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit deutschen Staatsangehörigen.
Die Familienkasse wies den Einspruch durch Bescheid vom 16. Mai 2002 als unbegründet zurück. Die Klägerin sei durch die Ausländerbehörde nicht als Staatenlose anerkannt. An diese Feststellung sei sie --die Familienkasse-- gebunden; eigene Feststellungen zum aufenthaltsrechtlichen Status habe sie nicht zu treffen.
Die Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, Ausländer mit Wohnsitz in Deutschland hätten --anders als deutsche Staatsbürger-- nur dann Anspruch auf Kindergeld nach den einkommensteuerrechtlichen Vorschriften, wenn sie zugleich im Besitz eines Aufenthaltstitels in Form einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung (§§ 15, 27 AuslG i.d.F. des Neuregelungsgesetzes vom 9. Juli 1990, BGBl I 1990, 1354) seien. Sonderregelungen (z.B. für Bürger der Europäischen Union und Bürger aus Ländern mit zwischenstaatlichen Abkommen) seien im Streitfall nicht einschlägig.
Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung materiellen Rechts. Soweit das FG die Frage eines Kindergeldanspruchs nach dem Internationalen Übereinkommen vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung von Staatenlosen --StlÜbk-- (BGBl II 1976, 473) habe dahinstehen lassen, sei auch ihr Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.
Der Senat beschloss in der Sitzung am 22. November 2007, nach § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu verfahren, und teilte dies dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin sowie der Familienkasse mit.
Das Verfahren wurde jedoch stattdessen durch Beschluss vom 20. Dezember 2007 gemäß § 74 FGO ausgesetzt, weil der Klägervertreter darauf hingewiesen hatte, dass der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg mit Beschluss vom 23. August 2007 die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 22. November 2006 2 K 5016/04 zugelassen habe, in welchem aufenthaltsbeendende Maßnahmen der Ausländerbehörde bestätigt wurden (u.a. Rücknahme der Aufenthaltsbefugnis).
Nachdem der VGH die Berufung wegen Versäumung der Begründungsfrist rechtskräftig verworfen hatte, wurde das Verfahren durch Senatsbeschluss vom 29. Juli 2011 fortgesetzt.
Die Klägerin hat sodann ausgeführt, dass sie "ebenso wie ihre Eltern jedenfalls von der Abstammung her türkische Staatsangehörige sein müsse". Dies sei dem Urteil des VGH Baden-Württemberg vom 2. Juli 2009 zu entnehmen, mit dem die Stadt … verpflichtet wurde, über den Antrag ihres Bruders auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes erneut zu entscheiden. Dort werde ausgeführt, dass ihr Bruder als Sohn eines türkischen Vaters und unabhängig davon auch als Sohn einer türkischen Mutter türkischer Staatsangehöriger sei.
Zur Kindergeldberechtigung führt die Klägerin nunmehr aus, dass diese sich für die Zeit bis 2010 mangels Aufenthaltsbefugnis bzw. -erlaubnis nicht aus § 62 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebe. Sie erfülle jedoch als türkische Staatsbürgerin die Voraussetzungen des § 2 des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit (VEA) vom 11. Dezember 1953 (BGBl II 1956, 507, BGBl II 1956, 563 und BGBl II 1958, 18). Insoweit sei unerheblich, dass sie für sich selbst und ihre Kinder Sozialhilfe und Asylbewerberleistungen bezogen habe; dies sei allenfalls für Erstattungsansprüche der Leistungsträger bedeutsam.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für die am 16. Januar 2002 geborene Tochter zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass eine Kindesmutter aus dem Libanon, die nicht über eine Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung im Inland verfügt, nach § 62 Abs. 2 EStG a.F. keinen Anspruch auf Kindergeld hat. Weil die Aufenthaltsbefugnis der Klägerin rechtskräftig rückwirkend aberkannt wurde, ergibt sich ein Anspruch auf Kindergeld für den streitigen Zeitraum, d.h. von Januar 2002 bis zum Zugang der Einspruchsentscheidung im Mai 2002 (Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 71/10, BFH/NV 2012, 298), auch nicht aus § 62 Abs. 2 EStG i.d.F. des Art. 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006 (BGBl I 2006, 2915), der gemäß § 52 Abs. 61a EStG im Streitfall anwendbar ist. Im Übrigen ist zwischen den Beteiligten nunmehr auch zu Recht unstreitig, dass der Klägerin nach rechtskräftigem Entzug der Aufenthaltsbefugnis kein Kindergeld nach § 62 Abs. 2 EStG n.F. zusteht, da sie jedenfalls mangels Integration in den Arbeitsmarkt die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG nicht erfüllte.
Aus Art. 24 und Art. 29 StlÜbk folgt ebenfalls kein Anspruch auf Kindergeld (Senatsurteil vom 22. November 2007 III R 60/99, BFHE 220, 39, BStBl II 2009, 910).
2. Die vom Prozessbevollmächtigten nach der Fortsetzung des Verfahrens vorgelegten Unterlagen deuten darauf hin, dass die Klägerin türkische Staatsangehörige sein dürfte; dies entspricht auch der Auffassung der Einbürgerungsbehörde, wie der VGH in seinem Beschluss vom 19. November 2008 ausgeführt hat. Dies verhilft der Revision aber nicht zum Erfolg.
a) Türkische Staatsbürger, die seit wenigstens sechs Monaten in Deutschland wohnen, haben nach dem VEA Anspruch auf Kinder-geld unter denselben Voraussetzungen (§ 62 Abs. 1 EStG) wie deutsche Staatsbürger. Obwohl sie nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer sind, gelten für sie aufgrund des VEA die Ein-schränkungen des § 62 Abs. 2 EStG nicht (Senatsurteile vom 17. Juni 2010 III R 42/09, BFHE 230, 337; vom 15. Juli 2010 III R 76/08, BFH/NV 2011, 213). Dies entspricht auch der Auffassung der Verwaltung (Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Ein-kommensteuergesetzes --DA-FamEStG-- 2010 62.4.3 Abs. 2, Abs. 3 Satz 6).
b) Der Senat ist jedoch nach § 118 Abs. 2 FGO als Revisionsgericht an den vom FG verfahrensfehlerfrei festgestellten Sachverhalt gebunden, dass die Klägerin die Tochter aus dem Libanon eingereister Kurden ist, ihre Staatsangehörigkeit von ihr selbst und in dem durch die … ausgestellten Reisedokument als libanesisch bezeichnet wurde und sie Klage auf Einbürgerung als Staatenlose aus dem Libanon erhoben hatte. Hinweise auf eine türkische Staatsangehörigkeit finden sich im FG-Urteil nicht; die Klägerin hat sich bis zum Abschluss des Klageverfahrens --und noch in den ersten Jahren des Revisionsverfahrens-- nie auf eine türkische Staatsbürgerschaft berufen.
aa) Infolge der Bindungswirkung des § 118 Abs. 2 FGO darf der BFH nur den vom FG festgestellten Sachverhalt zur Grundlage seiner Prüfung machen; denn ein Revisionsgericht hat ein angefochtenes Urteil grundsätzlich nur auf Rechtsfehler zu prüfen (Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 FGO Rz 120, m.w.N.). Das FG wiederum entscheidet nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO auf der tatsächlichen Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens; es darf sein Urteil nach § 96 Abs. 2 FGO nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse stützen, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.
bb) Die Bindungswirkung gilt indessen nicht ausnahmslos. Der BFH kann z.B. selbst Tatsachen feststellen, die für das Vorliegen der Sachentscheidungsvoraussetzungen, die Wirksamkeit von Prozesshandlungen sowie für Verfahrensmängel bedeutsam sind (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 118 Rz 43 ff.; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 118 FGO Rz 90 ff.) oder nach § 134 FGO i.V.m. §§ 578 bis 583 der Zivilprozessordnung einen Wiederaufnahmegrund ergäben (Senatsurteil vom 3. Juni 1987 III R 209/83, BFHE 150, 418, BStBl II 1988, 277). Im Streitfall liegt jedoch keine dieser Ausnahmen vor.
cc) Die Bindung an einen vom FG nur unvollständig festgestellten Sachverhalt kann nach dem BFH-Urteil vom 28. Februar 1990 I R 43/86 (BFHE 160, 180, BStBl II 1990, 615) entfallen, wenn ein Beteiligter in der mündlichen Verhandlung diesbezüglich eine zulässige Gegenrüge erhebt und die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung erklären, dass ergänzende Tatsachen zu dem vom FG nur teilweise festgestellten Sachverhalt unstreitig seien. Dies trifft vorliegend jedoch ebenfalls nicht zu.
dd) Im Streitfall kann dahinstehen, ob die türkische Staatsangehörigkeit der Klägerin unstreitig geworden ist, weil die Familienkasse dem nicht widersprochen hat. Denn neue Tatsachen können im Revisionsverfahren grundsätzlich auch dann nicht berücksichtigt werden, wenn sie unstreitig sind, weil es nicht Aufgabe des Revisionsverfahrens ist, einer nach dem vom FG festgestellten Sachverhalt zu Recht als unbegründet abgewiesenen Klage aufgrund damals weder von den Beteiligten noch vom FG bemerkter Tatsachen doch noch zum Erfolg zu verhelfen. Das gilt auch dann, wenn es dem Revisionsführer nicht möglich oder zumutbar war, die betreffenden Tatsachen in der Tatsacheninstanz geltend zu machen (BFH-Urteil vom 5. Oktober 1999 VII R 152/97, BFHE 191, 140, BStBl II 2000, 93; Lange in HHSp, § 118 FGO Rz 132).
3. Die Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör greift nicht durch; die Klägerin wendet sich insoweit lediglich gegen die materielle Richtigkeit des FG-Urteils. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 126 Abs. 6 Satz 1 FGO).
4. Die Beteiligten haben im Jahr 2003 auf mündliche Verhandlung verzichtet und diesen Verzicht nicht widerrufen. Obwohl ein "Verbrauch" derartiger Verzichtserklärungen grundsätzlich weder durch Zeitablauf noch durch die Aussetzung des Verfahrens eintritt (dazu Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 90 FGO Rz 11), hält es der Senat für sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden.