Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 17.06.2010


BFH 17.06.2010 - III R 63/09

(Kein Abzug von Beiträgen zur VBL-Pflichtversicherung im Rahmen der Grenzbetragsprüfung bei gesetzlicher Rentenversicherung des Kindes - Einzelfallbezogene Prüfung der Notwendigkeit verfassungskonform einschränkender Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG)


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsdatum:
17.06.2010
Aktenzeichen:
III R 63/09
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend FG Köln, 28. August 2009, Az: 5 K 1568/07, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

NV: Beiträge des Kindes zur tarifvertraglich vorgesehenen VBL-Pflichtversicherung sind bei der Grenzbetragsprüfung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht von dessen Einkünften und/oder Bezügen abzuziehen, wenn das Kind gesetzlich rentenversichert ist .

Tatbestand

1

I. Der im Jahr 1984 geborene Sohn (S) des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) absolvierte im gesamten Streitjahr 2005 eine Ausbildung zum mathematisch-technischen Assistenten Informatik. In diesem Jahr erzielte S einen Bruttoarbeitslohn in Höhe von 11.128,33 €. Der Arbeitnehmeranteil zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag belief sich auf 2.410,70 €.

2

Der Arbeitgeber führte für S Beiträge in Höhe von 156,83 € an die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) für die Pflichtversicherung VBLklassik ab. Diese Pflichtversicherung ist für Beschäftigte von Arbeitgebern, die --wie der Arbeitgeber des S-- eine Beteiligungsvereinbarung mit der VBL abgeschlossen haben, tarifvertraglich vorgeschrieben. § 3 des Ausbildungsvertrags des S vom 22. Juli 2003 sieht vor, dass sich das Berufsausbildungsverhältnis (auch) nach den Vorschriften des Manteltarifvertrags für Auszubildende vom 6. Dezember 1974 und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen richtet.

3

Mit Bescheid vom 13. März 2007 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag des Klägers auf Kindergeld für S ab, weil nach ihren Berechnungen die Einkünfte und Bezüge des S im Jahr 2005 den maßgeblichen Grenzbetrag überstiegen. Der Einspruch war erfolglos.

4

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage durch Urteil vom 28. August 2009  5 K 1568/07 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2010, 61) statt und verpflichtete die Familienkasse, an den Kläger für das Kalenderjahr 2005 Kindergeld in Höhe von 1.848 € zu zahlen. Zur Begründung führte es aus, die Einkünfte und Bezüge des S lägen für das Jahr 2005 unter dem maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680 €. Nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005  2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) seien die Beiträge zur VBL von den Einkünften abzusetzen. Diese Beiträge seien den Beiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung vergleichbar. Für S handele es sich um eine Pflichtversicherung, auch wenn die Pflicht zur Beitragszahlung an die VBL nicht gesetzlich geregelt sei. Es bestehe eine tarifvertragliche Versicherungspflicht, da sein Arbeitgeber der VBL durch Beteiligungsvereinbarung beigetreten sei. S könne sich der Pflicht zur Beitragszahlung nicht durch eigene Willensentscheidung entziehen. Die VBL-Beiträge seien für ihn nicht verfügbar gewesen.

5

Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr 2005 geltenden Fassung (EStG).

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Sie beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

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Er trägt vor, das FG habe die Abziehbarkeit der VBL-Beiträge zu Recht bejaht. Hilfsweise bringt er vor, auch die Zweitwohnungsteuer in Höhe von 192 € und die Lohnsteuer in Höhe von 43 € seien abziehbar. Durch den Zweitwohnsitz am Ausbildungsort habe S vermieden, dass über den Arbeitnehmer-Pauschbetrag von 920 € hinaus Werbungskosten entstanden seien. Der Kläger wendet sich außerdem gegen die Ausgestaltung des Grenzbetrags als Freigrenze ("Fallbeilwirkung").

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

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Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass bei der Ermittlung der kindergeldschädlichen Einkünfte und Bezüge die Einkünfte um die VBL-Beiträge zu mindern sind.

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1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.680 € im Kalenderjahr hat.

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2. Der Begriff der Einkünfte i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Erzielt das Kind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen die Werbungskosten abzuziehen (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsurteil vom 29. Mai 2008 III R 33/06, BFH/NV 2008, 1664). Nach dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 würde eine andere Auslegung des Begriffs der Einkünfte, die von der "tradierten steuerlichen Terminologie" abwiche, dem Wortlaut und dem systematischen Zusammenhang widersprechen und damit auch dem klar geäußerten Willen des Gesetzgebers.

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3. Nach Auffassung des BVerfG verstößt jedoch die Berücksichtigung der --einkommensteuerrechtlich den Sonderausgaben zuzurechnenden-- Sozialversicherungsbeiträge als Einkünfte des Kindes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), weil Eltern mit sozialversicherungspflichtigen Kindern, deren Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag nur wegen der als Einkünfte behandelten Sozialversicherungsbeiträge überschritten, gegenüber Eltern mit nicht sozialversicherungspflichtigen Kindern benachteiligt seien, deren Einkünfte und Bezüge den Jahresgrenzbetrag nicht überstiegen. Daher seien im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Einkünfte --ebenso wie die Bezüge-- nur zu berücksichtigen, soweit sie zur Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet seien. Offen bleiben könne, "in welchen Fällen der Relativsatz im Einzelfall auf Einkünfte anzuwenden" sei. Jedenfalls seien diejenigen Beträge, die --wie die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge-- "von Gesetzes wegen" dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen Eltern nicht für den Unterhalt zur Verfügung stünden und deshalb die Eltern finanziell nicht entlasten könnten, nicht als Einkünfte anzusetzen. Es ist daher jeweils im Einzelfall zu prüfen, welche Teile der Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 2 EStG wegen eines sonst vorliegenden Grundrechtsverstoßes im Wege verfassungskonformer Einschränkung nicht angesetzt werden dürfen.

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4. Entsprechend diesen Grundsätzen hat der Senat durch Urteil vom 26. September 2007 III R 4/07 (BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738) entschieden, dass die Beiträge eines gesetzlich rentenversicherten Kindes zu privaten Rentenversicherungen bei der Ermittlung der kindergeldschädlichen Einkünfte und Bezüge nicht von den Einkünften abzuziehen seien. Bei den Beiträgen zu privaten Rentenversicherungen eines gesetzlich rentenversicherten Kindes handele es sich nicht um unvermeidbare Aufwendungen, weil sie nicht der aktuellen Existenzsicherung des Kindes, sondern einer über das staatliche Mindestmaß hinausgehenden Versorgung für künftige Zeiten dienen.

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5. Die Beiträge zur VBL-Pflichtversicherung mindern die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ebenfalls nicht, wenn das Kind --wie im Streitfall-- in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert ist. Die Einbeziehung der VBL-Pflichtversicherungsbeiträge in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) verstößt dann nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

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a) Eine gesetzliche Versicherungspflicht bei der VBL bzw. eine gesetzliche Verpflichtung zur Entrichtung von Beiträgen zur VBL-Pflichtversicherung besteht nicht. Für die Entscheidung, ob Einkünfte dem Kind von Gesetzes wegen nicht zur Verfügung stehen, ist maßgeblich, ob sich das Kind der Zahlung aufgrund einer gesetzlichen Verpflichtung nicht entziehen kann. Nicht entscheidend ist, ob die fraglichen Beträge vom Arbeitgeber einzubehalten sind (Senatsurteil vom 16. November 2006 III R 74/05, BFHE 216, 69, BStBl II 2007, 527).

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Im Streitfall beruhen der Abschluss der Versicherung und damit auch die Entrichtung der Beiträge nicht auf einer gesetzlichen Verpflichtung. Vielmehr verweist der Ausbildungsvertrag des S auf tarifvertragliche Vorschriften, aus denen sich die Versicherungspflicht ergibt. Durch die Bezugnahme in einem Ausbildungs- bzw. Arbeitsvertrag auf tarifliche Regelungen werden diese zum Inhalt des Ausbildungsvertrags (vgl. ErfK/Franzen, § 3 TVG Rz 32). Wenn danach Anteile der Einkünfte und Bezüge als Versicherungsbeiträge einbehalten und abgeführt werden, beruht dies auf Tarifvereinbarungen, die im Interesse der Beschäftigten ausgehandelt werden und die sich S zurechnen lassen muss.

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b) Das FG hat die Versicherungsbeiträge zur VBL-Pflichtversicherung zu Unrecht als unvermeidbare (zwangsläufige) Aufwendungen eingestuft. Unvermeidbar in diesem Sinne sind nur Aufwendungen für einen existenziell notwendigen Versicherungsschutz, der zur Absicherung gegen existenzgefährdende Wechselfälle des Lebens dient (vgl. Senatsurteil vom 14. Dezember 2006 III R 24/06, BFHE 216, 225, BStBl II 2007, 530).

19

Die VBL-Pflichtversicherung ist eine gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung zusätzliche Absicherung. Ihre Leistungen bestehen nach § 25 der VBL-Satzung in der Zahlung von Betriebsrenten (Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenrente). Die VBL-Pflichtversicherung deckt im Grundsatz dieselben Risiken ab wie die gesetzliche Rentenversicherung.

20

Auch nach den zivilrechtlichen Unterhaltsregelungen sind Eltern, deren Kinder sich in Ausbildung befinden, nicht verpflichtet, die Kosten für die Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenvorsorge zu zahlen. Eine solche über das gesetzliche Maß hinausgehende Vorsorge gehört nicht zum Lebensbedarf des Kindes i.S. des § 1610 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (vgl. Erman/E.Hammermann, BGB, 12. Aufl., § 1610 Rz 8 f.; MünchKommBGB/Born, 5. Aufl., § 1610 Rz 71; Staudinger/Engler/Kaiser (2000), § 1610 Rz 154).

21

c) Nur durch die Einbeziehung der VBL-Beiträge in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) wird eine mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbare Ungleichbehandlung mit den Fällen vermieden, in denen sich das Kind in Berufsausbildung befindet, in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert ist und sich --unabhängig von einer tarifvertraglichen Vorschrift-- zusätzlich privat gegen dieselben Risiken versichert, wie sie die VBL-Pflichtversicherung abdeckt. Die Beiträge zu einer solchen privaten Rentenversicherung sind bei der Prüfung, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Jahresgrenzbetrag überschreiten, nicht abziehbar (Senatsurteil in BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738). Wenn für die Abziehbarkeit von Rentenversicherungsbeiträgen im Ergebnis allein der Inhalt des betreffenden Tarifvertrags maßgeblich wäre, würden Eltern ungerechtfertigt benachteiligt, deren Kinder ohne eine entsprechende tarifvertragliche Vorschrift eine private Altersvorsorge treffen.

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6. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, war sein Urteil aufzuheben.

23

Die Sache ist nicht spruchreif. Der Senat kann nicht abschließend beurteilen, ob die Einkünfte und Bezüge des S den nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680 € überschreiten.

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Bei einem Abzug des Arbeitnehmer-Pauschbetrags nach § 9a Satz 1 Nr. 1 Buchst. a EStG in Höhe von 920 € und des Arbeitnehmeranteils zum Gesamtsozialversicherungsbeitrag in Höhe von 2.410,70 € von dem Bruttoarbeitslohn des S in Höhe von 11.128,33 € ergibt sich ein Betrag von 7.797,63 €.

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Das FG hat bisher jedoch keine ausreichenden Feststellungen zur Höhe der Werbungskosten des S getroffen. S bezog als Auszubildender Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit i.S. von § 19 Abs. 1 EStG und unterhielt eine Zweitwohnung am Ausbildungsort, für die eine Zweitwohnungsteuer in Höhe von 192 € anfiel. Dabei handelte es sich nach dem klägerischen Vortrag um 10 % der Nettokaltmiete. Bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge des Kindes hat das FG keine tatsächlichen Feststellungen dazu getroffen, ob im Streitfall die Voraussetzungen einer doppelten Haushaltsführung i.S. des § 9 Abs. 1 Nr. 5 EStG vorlagen. Diese Feststellungen sind nun nachzuholen.