Entscheidungsdatum: 15.03.2012
1. Ergibt sich aus einer Arbeitgeberbescheinigung, die von einem im Inland als Arbeitnehmer tätigen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats vorgelegt wird, dass die Entsendung unter Beibehaltung der Sozialversicherung im Heimatland über zwei Jahre gedauert hat, kann daraus nicht geschlossen werden, dass die Entsendungsvoraussetzungen nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71 bereits von Beginn des Entsendungszeitraums an nicht vorgelegen haben können .
2. Ergeben sich aus der von dem Anspruchsteller vorgelegten Arbeitgeberbescheinigung Zweifel an dem Vorliegen der Entsendungsvoraussetzungen, ist bei den Trägern und Stellen, die über das auf den Anspruchsteller anzuwendende Recht zu befinden haben, zu ermitteln, welche Rechtsvorschriften im Anspruchszeitraum auf den Anspruchsteller Anwendung fanden .
3. Bestätigt der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats, insbesondere durch Erteilung einer Entsendebescheinigung nach dem Formular E 101, dass für einen bestimmten Zeitraum ein Fall des Art. 14 Nr. 1 Buchst. a oder b der VO Nr. 1408/71 gegeben war, ist diese Bescheinigung für die Familienkasse und das Finanzgericht bindend, solange sie nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird .
I. Mit Schreiben vom 31. Juli 2007 beantragte der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), der polnischer Staatsangehöriger ist, rückwirkend ab Mai 2004 Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder P (geb. im Juni 1989), M (geb. im August 1990) und O (geb. im Juli 1998).
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 17. August 2007 unter Hinweis darauf ab, dass der Kläger in Polen sozialversichert sei und dieser Tatbestand einen Anspruch auf deutsches Kindergeld ausschließe. Den hiergegen gerichteten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2007 als unbegründet zurück.
Mit dem am 1. November 2007 bei dem Finanzgericht (FG) eingegangenen Schreiben erhob der Kläger hiergegen Klage und legte im Klageverfahren u.a. eine Bescheinigung seines polnischen Arbeitgebers vor, wonach der Kläger ab dem 1. Januar 2005 für unbestimmte Zeit beschäftigt und ab dem 1. April 2005 an einen ausländischen Betrieb in Deutschland entsandt worden sei. Eine Versicherungspflicht zur Bundesanstalt für Arbeit bestehe nicht, da Versicherungspflicht in Polen vorliege.
In der mündlichen Verhandlung trennte das FG zunächst nach teilweiser Klagerücknahme für den Zeitraum Mai 2004 bis März 2005 (Kindergeldanspruch für alle drei Kinder) das Verfahren ab und stellte es insoweit ein. Ferner trennte das FG das Verfahren hinsichtlich des Kindergelds für P ab Juni 2007 unter dem Az. 2 K 1166/08 ab.
Hinsichtlich des danach verbleibenden Streitgegenstands verpflichtete das FG die Familienkasse mit Urteil vom 16. April 2008 unter Aufhebung des Bescheids vom 17. August 2007 und der Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2007, dem Kläger für seine Kinder M und O Kindergeld für die Zeit ab April 2005 und für das Kind P von April 2005 bis Mai 2007 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Zur Begründung ihrer Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung der Art. 13 und 14 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --VO Nr. 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 --VO Nr. 647/2005-- (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2005 Nr. L 117, S. 1).
Zu Recht gehe das FG zwar davon aus, dass für den Kläger die VO Nr. 1408/71 gelte, da er sowohl vom sachlichen als auch vom persönlichen Geltungsbereich erfasst werde. Inkonsequenterweise prüfe das FG trotz dieser Feststellung noch § 65 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG), der bei Anwendbarkeit der Verordnung von dieser verdrängt werde.
Da der Kläger dem Geltungsbereich der Verordnung unterliege, sei die Frage zu klären, ob ein polnischer Staatsangehöriger, der nach seinen eigenen Angaben im Kindergeldantrag in Polen einer Sozialversicherungspflicht unterliege, deshalb gemäß Art. 13 i.V.m. Art. 1 der VO Nr. 1408/71 als in Polen beschäftigt gelte, und ob deshalb auf ihn die polnischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien, auch wenn er (ohne deutsche Sozialversicherungspflicht) tatsächlich einer unselbständigen Beschäftigung in Deutschland nachgehe.
Da der Kläger nach Art. 13 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 nur den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegen solle, stelle sich die Frage, in welchem Mitgliedstaat er als beschäftigt anzusehen sei. Über diesen "Ortsbezug" sei im Lichte der Definition des Art. 1 der VO Nr. 1408/71 zu entscheiden. Da die Beschäftigteneigenschaft in Art. 1 der VO Nr. 1408/71 anhand des Versichertenstatus bestimmt worden sei, erscheine es naheliegend, dass auch der Ortsbezug, also die Frage, auf welches Land sich diese Beschäftigteneigenschaft beziehe, am Versichertenstatus festzumachen sei. Schon Art. 13 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 gehe davon aus, dass jede Person nur einem Rechtssystem, also auch nur einem nationalen Sozialversicherungssystem unterliegen könne. Im Einklang damit definiere Art. 1 der VO Nr. 1408/71 den Beschäftigtenstatus anhand des Versichertenstatus. Dieser normativen Grundentscheidung würde es widersprechen, wenn eine Person zwar der Sozialversicherung in Polen unterliegen könnte, dennoch aber (im Sinne der VO Nr. 1408/71) als beschäftigt in Deutschland gelten würde. Entscheidend sei also, in welchem Land eine Versicherung bestehe. Das Versicherungsland habe dann konsequenterweise auch als Beschäftigungsland i.S. der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zu gelten. Danach unterliege der Kläger allein den polnischen Rechtsvorschriften, so dass ein Anspruch auf deutsches Kindergeld ausgeschlossen sei.
Selbst wenn man dieser Rechtsauffassung nicht folgte, müsse man wegen der Ausnahmeregelung des Art. 14 Nr. 1 der VO Nr. 1408/71 zu dem Ergebnis kommen, dass die Entscheidung des FG unzutreffend sei. Der Kläger sei unstreitig entsandt worden. Typischerweise solle mit einer (zeitlich befristeten) Entsendung erreicht werden, dass der entsandte Arbeitnehmer weiterhin in das Sozialversicherungssystem des Entsendestaats eingegliedert bleibe und kurzfristige Wechsel des Sozialversicherungssystems und damit unnötige Verkomplizierungen des Versicherungsverlaufs vermieden würden. Nach den Regelungen in Art. 14 Nr. 1 der VO Nr. 1408/71 unterliege der entsandte Arbeitnehmer weiterhin den Rechtsvorschriften des Entsendestaats, wenn die voraussichtliche Dauer seiner Tätigkeit zwölf Monate nicht überschreite. Dauere die Tätigkeit länger als ursprünglich angenommen, könne diese Überschreitung durch die zuständige Behörde genehmigt werden. Auch eine Verlängerung um weitere zwölf Monate durch die zuständige Behörde sei möglich. Schließlich könnten die zuständigen Behörden der beteiligten Staaten nach Art. 17 der VO Nr. 1408/71 auch Ausnahmen (von den Regelungen der Art. 13 bis 16 der VO Nr. 1408/71) abstrakter Art für bestimmte Personengruppen oder auch im Einzelfall für bestimmte Personen vereinbaren. Über diese Genehmigungs- bzw. Ausnahmeregelungen würden gemäß Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 in ihrer durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die VO Nr. 647/2005 (VO Nr. 574/72) Bescheinigungen erstellt (sog. Formulare E 101).
Vorliegend habe das FG nicht aufgeklärt, wie lange die Entsendung voraussichtlich habe dauern sollen oder ob entsprechende Genehmigungen, Ausnahmeregelungen oder Bescheinigungen E 101 vorlägen, und damit seine Amtsermittlungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) verletzt. Das FG hätte insbesondere auch den Kläger auffordern müssen, zu erklären, ob ihm entsprechende Genehmigungen, Ausnahmeregelungen oder Bescheinigungen E 101 bekannt seien. Zumindest die Darlegungslast im Hinblick auf solche Vorgänge sei dem Kläger, als unstreitig von seinem Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer, aufzuerlegen. Es würde im Ergebnis der grundlegenden Systematik der VO Nr. 1408/71 widersprechen, wenn eine Person, die in das polnische Sozialversicherungssystem integriert sei, dennoch einen Anspruch auf eine Leistung aus einem Zweig der sozialen Sicherheit in Deutschland hätte.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat keinen Antrag gestellt.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der nicht spruchreifen Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.
1. Die von dem FG getroffenen Feststellungen tragen nicht die ausgesprochene Rechtsfolge, dass weder durch Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71 noch durch Art. 17 der VO Nr. 1408/71 die durch Art. 13 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 bewirkte Anwendbarkeit des Rechts des Beschäftigungsstaats Deutschland verdrängt werde. Die bisherigen Feststellungen des FG ermöglichen keine abschließende Entscheidung dazu, ob deutsches oder polnisches Recht auf den Kläger anzuwenden ist.
2. Ein Anspruch des Klägers auf Kindergeld nach den §§ 62 f. EStG könnte durch die VO Nr. 1408/71 und die VO Nr. 574/72 ausgeschlossen sein.
a) Auf den Streitfall sind noch diese Verordnungen anzuwenden, da die streitigen Kindergeldansprüche sich noch auf Zeiträume vor dem am 1. Mai 2010 erfolgten Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit --VO Nr. 883/2004-- (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1) beziehen (s. hierzu Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, BFHE 234, 316). Nachdem im Rahmen der Einspruchsentscheidung vom 2. Oktober 2007 eine sachliche Prüfung des Kindergeldanspruchs stattgefunden hat, beschränkt sich der Streitgegenstand der Klage hinsichtlich der Kinder M und O auf das Kindergeld für den Zeitraum von April 2005 bis Oktober 2007 und hinsichtlich des Kindes P auf das Kindergeld für den Zeitraum von April 2005 bis Mai 2007 (vgl. Senatsurteil vom 22. Dezember 2012 III R 41/07, BFHE 236, 144, unter II.2. der Gründe).
b) Als Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. u Ziff. i der VO Nr. 1408/71 unterfällt das Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung ihrem sachlichen Geltungsbereich (z.B. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht 2011, 86 Rdnr. 33).
c) Nach den Feststellungen des FG wird der Kläger von dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst, da er entsprechend Art. 2 i.V.m. Art. 1 Buchst. a Ziff. i der VO Nr. 1408/71 in Polen gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken, die von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige erfasst werden, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist.
3. Zu Recht hat das FG daher das auf den Kläger anzuwendende Recht nach den Vorschriften des Titels II der VO Nr. 1408/71 (Art. 13 ff.) bestimmt.
a) Wie der Senat in dem Urteil in BFHE 234, 316 ausgeführt hat, ist für die im Rahmen der Anwendung der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zu klärenden Frage, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird, entgegen der Auffassung der Familienkasse grundsätzlich nicht darauf abzustellen, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern darauf, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbständige Tätigkeit ausübt. Dabei ist grundsätzlich von dem bescheinigten Versichertenstatus des Versicherten auszugehen und nur an diejenige(n) Tätigkeit(en) anzuknüpfen, hinsichtlich derer die betreffende Person als Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt. Es ist daher zunächst noch festzustellen, ob der Kläger nach seinem bescheinigten Versichertenstatus in Polen als Arbeitnehmer oder als Selbständiger versichert ist.
b) Nach der Grundregel des Art. 13 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 gilt, dass vorbehaltlich der Art. 14c und Art. 14f der VO Nr. 1408/71 Personen, für die die VO Nr. 1408/71 gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach Titel II der VO Nr. 1408/71. Der Rückgriff auf die allgemeine Regelung des Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 (Vorrang des Rechts des Staats, in dessen Gebiet die Person im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist) gilt nach dem einleitenden Satz des Art. 13 Abs. 2 der VO Nr. 1408/71 aber nur, soweit die Art. 14 bis 17 der VO Nr. 1408/71 nichts anderes bestimmen.
c) Soweit es um die Anwendbarkeit der Regelung des Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71 für entsandte Arbeitnehmer geht, durfte das FG jedoch aus der Tatsache, dass der Kläger ab dem 1. April 2005 bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als entsandter Arbeitnehmer tätig war, nicht darauf schließen, dass Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71 bereits vom Beginn des Entsendungszeitraums (1. April 2005) nicht eingreifen könne.
Art. 14 Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 sieht vor, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, abhängig beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats (Entsendestaat) unterliegt, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist. Geht eine solche Arbeit, deren Ausführung aus nicht vorhersehbaren Gründen die ursprünglich vorgesehene Dauer überschreitet, über zwölf Monate hinaus, so gelten nach Art. 14 Nr. 1 Buchst. b der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats (Entsendestaat) bis zur Beendigung dieser Arbeit weiter, sofern die zuständige Behörde des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet der Betreffende entsandt wurde, oder die von dieser Behörde bezeichnete Stelle dazu ihre Genehmigung erteilt. Diese Genehmigung ist vor Ablauf der ersten zwölf Monate zu beantragen und darf nicht für länger als zwölf Monate erteilt werden.
d) Hieraus ergibt sich, dass die Voraussetzungen einer Entsendung unter Beibehaltung der Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften des Entsendestaats Polen beginnend ab 1. April 2005 jedenfalls für zwei Jahre vorgelegen haben könnten, sofern die Voraussetzungen des Art. 14 Nr. 1 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71 gegeben waren.
aa) Ob dies tatsächlich der Fall war, hat das FG zur Erfüllung seiner sich aus § 76 Abs. 1 und Abs. 2 FGO ergebenden Sachaufklärungspflicht zu ermitteln. Da der entscheidungserhebliche Sachverhalt so vollständig wie möglich und unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel aufzuklären ist (vgl. etwa Urteil des Bundesfinanzhofs vom 15. Dezember 1999 X R 151/97, BFH/NV 2000, 1097), darf sich das FG nicht allein auf die Würdigung der Bescheinigung des polnischen Arbeitgebers beschränken, insbesondere wenn das FG --wie offensichtlich im Streitfall-- Zweifel an der Richtigkeit der Angaben hat und deshalb entgegen dem Wortlaut der Bescheinigung von dem Fehlen der Eigenschaft "entsendeter Arbeitnehmer" mit "Versicherungspflicht in Polen" ausgeht. Vielmehr ist bei den Trägern und Stellen, die über das auf den Anspruchsteller anzuwendende Recht zu befinden haben, zu ermitteln, welche Rechtsvorschriften im Anspruchszeitraum auf den Anspruchsteller Anwendung fanden. Hierzu kann das FG gegebenenfalls auch die Beteiligten heranziehen (§ 76 Abs. 1 Satz 2 FGO). Nach Art. 4 Abs. 10 der VO Nr. 574/72 sind im Anhang 10 der VO Nr. 574/72 u.a. die Träger oder Stellen aufgeführt, die von den zuständigen Behörden aufgrund von Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 574/72 bestimmt worden sind. Insoweit kann unmittelbar durch Übersendung des Formulars E 101 (Bescheinigung über die anzuwendenden Rechtsvorschriften) bei den danach zuständigen deutschen und ausländischen Trägern und Stellen ermittelt werden, welche Rechtsvorschriften auf den Anspruchsteller Anwendung fanden, da auch diese Träger nach Art. 84a der VO Nr. 1408/71 zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet sind, um die ordnungsgemäße Anwendung der VO Nr. 1408/71 zu gewährleisten. Anfragen können nach Art. 3 der VO Nr. 574/72 aber auch durch Vermittlung über die im Anhang 3 der VO Nr. 574/72 bezeichneten deutschen Verbindungsstellen an die zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats gestellt werden.
bb) Bestätigt der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats, insbesondere durch Erteilung einer Entsendebescheinigung nach dem Formular E 101, dass für einen bestimmten Zeitraum ein Fall des Art. 14 Nr. 1 Buchst. a oder b der VO Nr. 1408/71 gegeben war, ist diese Bescheinigung für das FG bindend. In der Entsendebescheinigung E 101 erklärt der zuständige Träger des Mitgliedstaats, in dem das entsendende Unternehmen seine Betriebsstätte hat, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit auf die entsandten Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung anwendbar bleibt. Wegen des Grundsatzes, dass die Arbeitnehmer einem einzigen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein sollen, hat diese Bescheinigung damit notwendig zur Folge, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaats nicht angewandt werden kann (vgl. EuGH-Urteil vom 26. Januar 2006 C-2/05, Herbosch Kiere, Slg. 2006, I-1079 Rdnr. 21, m.w.N.). Da die Bescheinigung E 101 eine Vermutung dafür begründet, dass die entsandten Arbeitnehmer dem System der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem das diese Arbeitnehmer entsendende Unternehmen seine Betriebsstätte hat, ordnungsgemäß angeschlossen sind, bindet sie folglich den zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in den diese Arbeitnehmer entsandt sind. Diese Bindungswirkung besteht, solange die Entsendebescheinigung nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird. Insoweit ist auch ein nationales Gericht des Gaststaats nicht befugt, die Gültigkeit einer vom zuständigen Träger des Entsendestaats erteilten Bescheinigung E 101 im Hinblick auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, zu überprüfen (vgl. EuGH-Urteil Herbosch Kiere in Slg. 2006, I-1079 Rdnrn. 24 ff., m.w.N.). Können die betroffenen Träger im Einzelfall zu keiner Übereinstimmung über das anwendbare Recht gelangen, haben diese über die Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer oder über ein von einem Mitgliedstaat eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren die Möglichkeit, die Richtigkeit der bescheinigten Angaben überprüfen zu lassen (vgl. EuGH-Urteil Herbosch Kiere in Slg. 2006, I-1079 Rdnrn. 28 f., m.w.N.). Die Beteiligten können sich nicht auf eine Unrichtigkeit der von der zuständigen Behörde ausgestellten Bescheinigung E 101 berufen, sondern nur eines der vorgenannten Verfahren zur Aufhebung der Bescheinigung E 101 anstrengen.
cc) Werden etwaige Bescheinigungen dabei nicht in deutscher Sprache bzw. deutscher Übersetzung vorgelegt, dürfen die deutschen Behörden, Träger und Gerichte gemäß Art. 84 Abs. 4 der VO Nr. 1408/71 die bei ihnen eingereichten Anträge und sonstigen Schriftstücke nicht deshalb zurückweisen, weil sie in einer Amtssprache eines anderen Mitgliedstaats abgefasst sind. Sofern den deutschen Behörden, Trägern und Gerichten --erforderlichenfalls auch im Wege der Amtshilfe-- keine eigenen Übersetzungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, können sie nach Art. 81 Buchst. b der VO Nr. 1408/71 von der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer Übersetzungen fertigen lassen.
e) Soweit es um die Anwendbarkeit der Regelung des Art. 17 der VO Nr. 1408/71 geht, hat das FG zwar festgestellt, dass ihm keine Erkenntnisse über eine zwischen Deutschland und Polen nach Art. 17 der VO Nr. 1408/71 getroffene Vereinbarung vorlägen. Es ist jedoch nicht erkennbar, aufgrund welcher Ermittlungsmaßnahmen und welcher tatsächlichen Feststellungen das FG zu diesem Schluss gekommen ist. Gerade die von dem FG festgestellte Überschreitung der maximalen Entsendedauer bei --laut Arbeitgeberbescheinigung-- fortbestehender Sozialversicherung in Polen legt nahe, dass eine solche Vereinbarung geschlossen worden sein könnte. Auch insoweit wird das FG über die in Anhang 10 der VO Nr. 574/72 bestimmten Träger oder Stellen daher zu ermitteln haben, ob eine auf den Kläger anwendbare Vereinbarung nach Art. 17 der VO Nr. 1408/71 (ggf. auch erst nachträglich rückwirkend) geschlossen wurde und ggf. für welchen Zeitraum sich hieraus eine weitere Anwendbarkeit polnischen Rechts ergibt. Für die Bindungswirkung einer danach erteilten Bescheinigung E 101, die unter Ziff. 5.1 u.a. auch eine aufgrund Art. 17 der VO Nr. 1408/71 geschlossene Vereinbarung bestätigt, gelten die Ausführungen unter II.3.d bb entsprechend.
f) Sollte die Prüfung der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 gleichwohl ergeben, dass auf den Kläger deutsche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, müsste noch ermittelt werden, ob und ggf. für welche Monate des Streitzeitraums für die Kinder des Klägers in Polen ein Anspruch (z.B. der Mutter der Kinder) auf Familienleistungen bestand. Hierzu hat, da es sich bei dem Bestehen konkurrierender Ansprüche auf ausländische Leistungen um eine den deutschen Kindergeldanspruch potentiell mindernde Tatsache handelt, die Familienkasse die notwendigen Angaben über ein Bescheinigungsersuchen (Vordruck E 411) an die im Wohnsitzmitgliedstaat zuständige Behörde oder Stelle beizubringen. Von vorliegenden Bescheinigungen in polnischer Sprache ist eine Übersetzung anzufertigen.
Soweit ein solcher Anspruch bestand, wäre die dann gegebene Anspruchskumulierung nach den Antikumulierungsvorschriften des Art. 10 der VO Nr. 574/72 aufzulösen, soweit dessen Anwendbarkeit nicht aufgrund der für Deutschland geltenden Einschränkungen des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 ausgeschlossen ist (s. hierzu Senatsurteil in BFHE 234, 316). Da die Gewährung von Familienleistungen im Wohnsitzstaat der Kinder (Polen) nicht von der Ausübung einer Erwerbstätigkeit abhängig ist (vgl. hierzu die Übersicht über die vergleichbaren Leistungen i.S. des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG in dem für den Streitzeitraum geltenden Schreiben des Bundesamts für Finanzen vom 14. Februar 2002 St I 4 -S 2473- 9/2001, BStBl I 2002, 241), greift --entgegen der Hilfsbegründung des FG-- in diesem Fall die Antikumulierungsvorschrift des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 nicht ein. Ferner wäre bei Eingreifen des Art. 10 der VO Nr. 574/72 im Hinblick auf die dort in Abs. 1 Buchst. a und b geregelte Anspruchsreihenfolge zu klären, ob der andere Elternteil (hier die Mutter) im Wohnsitzmitgliedstaat der Kinder eine Erwerbstätigkeit ausübte (vgl. hierzu EuGH-Urteile vom 7. Juni 2005 C-543/03, Dodl und Oberhollenzer, Slg. 2005, I-5049 Rdnrn. 54 ff., und vom 7. Juli 2005 C-153/03, Weide, Slg. 2005, I-6017 Rdnrn. 32 ff.). Dies lässt sich aus den Eintragungen unter Nr. 2.5 des Formulars E 401 entnehmen.
g) Sollten die noch erforderlichen Ermittlungen des FG ergeben, dass für einen Teil oder für den gesamten streitigen Zeitraum auf den Kläger polnische Rechtsvorschriften Anwendung finden, stellte sich die Frage, ob Deutschland als der nach der VO Nr. 1408/71 dann nicht zuständige Mitgliedstaat gleichwohl befugt wäre, Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG zu zahlen, und ob in einem solchen Fall der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unionsrechtliche Vorschriften entgegenstünden. Insoweit handelte es sich um die gleichen Fragestellungen, die bereits Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens des Senats vom 21. Oktober 2010 III R 5/09 (BFHE 231, 183) sind, so dass eine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH in dem bei diesem anhängigen Verfahren C-612/10 in Betracht kommen könnte.
4. Die Sache ist im Rahmen des Revisionsbegehrens danach nicht spruchreif und war deshalb nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO an das FG zurückzuverweisen.