Entscheidungsdatum: 04.08.2011
1. NV: Der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 wird im Rahmen der allgemeinen Vorschriften des Titels I in Art. 2 der VO Nr. 1408/71 festgelegt. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Verordnung insbesondere für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene .
2. NV: Für die Frage, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist, kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer bzw. Selbständige auch die Voraussetzungen erfüllt, die in ihrem Anhang I Teil I Buchst. D aufgeführt sind .
3. NV: Erforderlich, aber auch ausreichend für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 ist, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der EU versichert ist .
4. NV: Lediglich private Versicherungen erfüllen die Voraussetzungen des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 nicht .
5. NV: Auf einen Familienangehörigen sind, sofern er nicht selbst Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ist, die Art. 13 ff. dieser Verordnung nicht anwendbar .
6. NV: Soweit es nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird, bestimmt sich dies grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbständige Tätigkeit ausübt. Anzuknüpfen ist dabei nur an diejenige(n) Tätigkeit(en), hinsichtlich derer die betreffende Person als Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt .
7. NV: An die Feststellungen des FG zu Bestand und Inhalt ausländischen Rechts ist der BFH nicht gebunden, wenn diese auf einem nur kursorischen Überblick über die zu behandelnde Materie beruhen .
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger und wohnt seit September 2005 in Deutschland. Er ist einer von zwei Gesellschaftern einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), deren Zweck nach § 1 des Gesellschaftsvertrags in der Erbringung von Leistungen im Bereich des Baunebengewerbes besteht. An Gewinn und Verlust der GbR ist der Kläger in Höhe seines Gesellschafteranteils mit 50 % beteiligt. Das Gewerbe wurde zum … September 2005 angemeldet. Ausweislich einer vorläufigen Gewinnermittlung erzielte die GbR im Jahr 2005 einen Überschuss in Höhe von … € und bis Juni 2006 einen Überschuss von … €.
Der Kläger ist privat rentenversichert und in der deutschen Sozialversicherung nicht versicherungspflichtig.
Im Februar 2006 beantragte der Kläger u.a. für die vier Kinder, die bei seiner Ehefrau in Polen leben, Kindergeld. In dem Antrag gab er u.a. an, dass seine Ehefrau in Deutschland nicht sozialversichert sei, weil sie in Polen versichert sei. Sie erhielt in Polen keine dem deutschen Kindergeld vergleichbaren Leistungen. Aus dem später vorgelegten Formular E 411 ergibt sich u.a., dass sie in Polen keinen Kindergeldantrag gestellt hatte.
Mit Bescheid vom 13. Februar 2007 setzte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) ab September 2005 für die vier Kinder Kindergeld nur in Höhe der Hälfte der gesetzlichen Kindergeldbeträge fest. Den hiergegen gerichteten Einspruch des Klägers wies sie durch Einspruchsentscheidung vom 28. März 2007 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage des Klägers, mit der er weiterhin geltend machte, ihm stehe für die vier Kinder ab September 2005 Kindergeld in voller Höhe zu, mit Urteil vom 16. April 2008 9 K 1664/07 Kg statt.
Mit ihrer Revision rügt die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung der Art. 2 i.V.m. Art. 1 und des Art. 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 --VO Nr. 118/97-- (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften --ABlEG-- 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 --VO Nr. 647/2005-- (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2005 Nr. L 117, S. 1).
Zu Unrecht gehe das FG davon aus, dass der Kläger als Selbständiger nicht dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterliege, weil er nicht der Solidargemeinschaft des deutschen Versicherungssystems angehöre und deshalb nicht die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Anhang I Teil I Buchst. D Ziff. b der VO Nr. 1408/71 erfülle. Entgegen der Auffassung des FG sei der Begriff des "Selbständigen" nicht in Anhang I Teil I Buchst. D Ziff. b der VO Nr. 1408/71 definiert --die dort enthaltenen Definitionen hätten Bedeutung nur für die Artikel des Titels III Kapitel 7 der VO Nr. 1408/71--, sondern ausschließlich in Art. 1 Buchst. a Ziff. i der VO Nr. 1408/71. Danach gelte als Selbständiger, wer gegen ein Risiko, das von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit erfasst werde, pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert sei. Unter "System der sozialen Sicherheit" seien nur die gesetzlichen Versicherungssysteme zu verstehen. Da der Kläger nicht in einem solchen Versicherungssystem versichert sei, sei für ihn aufgrund seines Versichertenstatus in Deutschland --zu seinem Versichertenstatus in Polen habe das FG keine Feststellungen getroffen-- der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht eröffnet.
Der Kläger gebe in seinem Kindergeldantrag allerdings an, dass seine Ehefrau in Polen sozialversichert sei. Es könne, so die Familienkasse, unterstellt werden, dass die Ehefrau des Klägers in das dortige Sozialversicherungssystem integriert sei; damit sei für sie der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet. Da gemäß Art. 2 der VO Nr. 1408/71 diese Eröffnung auch für Familienangehörige gelte, sei der Kläger jedenfalls über seine Ehefrau von dem Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst.
Sei der persönliche Geltungsbereich für den Kläger eröffnet, sei nach den Vorschriften des Titels II der VO Nr. 1408/71 festzustellen, welche nationalen Rechtsvorschriften für den Kläger anzuwenden seien. Der Kläger übe unstreitig tatsächlich eine selbständige Beschäftigung in Deutschland aus. Diese gelte aber wegen der fehlenden Versicherung in einem System der sozialen Sicherheit nicht als selbständige Tätigkeit i.S. des Art. 1 der VO Nr. 1408/71, so dass ihr Art. 13 Abs. 2 Buchst. b nicht anwendbar sei. Die deutschen Regelungen könnten nur aufgrund des Auffangtatbestands des Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der VO Nr. 1408/71 Geltung erlangen, der verlange, dass für eine Person, auf die keine nationalen gesetzlichen Regelungen nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a bis e der VO Nr. 1408/71 anwendbar seien, die Rechtsvorschriften des Staates gelten, in dem sie wohne. In diesem Zusammenhang sei sehr wohl die Prüfung ausschlaggebend, ob für den Kläger in Polen eine Sozialversicherung bestehe oder nicht. Denn sofern diese Versicherung bestehe, gelte der Kläger als in Polen beschäftigt. Da die Beschäftigteneigenschaft in Art. 1 der VO Nr. 1408/71 anhand des Versichertenstatus bestimmt worden sei, erscheine es zumindest naheliegend, dass auch der Ortsbezug, also die Frage, auf welches Land sich diese Beschäftigteneigenschaft beziehe, am Versichertenstatus festzumachen sei. Entscheidend sei danach die Frage, ob in Polen eine Versicherung bestehe, da Polen dann als Beschäftigungsland i.S. der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 gelte. Nur wenn auch in Polen keine Versicherung bestehe, greife der Auffangtatbestand des Art. 13 Abs. 2 Buchst. f der VO Nr. 1408/71, und Deutschland sei für die Zahlung des Kindergeldes zuständig.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, dass sich eine Beschränkung des Geltungsbereichs des § 62 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG) weder dem Gesetz noch der VO Nr. 1408/71 entnehmen lasse. Der Geltungsbereich dieser Verordnung beziehe sich ausdrücklich auf Arbeitnehmer und ihnen gleichgestellte Selbständige. Damit seien "gewöhnliche Selbständige in Deutschland" gerade nicht gemeint, da diese nicht pflichtversichert seien. Die VO Nr. 1408/71 diene der Freizügigkeit und solle die Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern, das nationale Recht also ausweiten und nicht beschränken.
Deutsche Selbständige seien in der Regel nicht in einer Sozialversicherung pflichtversichert. Verstehe man die VO Nr. 1408/71 nach Lesart der Familienkasse, würden in Deutschland auch andere nicht in der gesetzlichen Sozialversicherung pflichtversicherte Selbständige, für die heute selbstverständlich Kindergeld gezahlt werde, keinen Anspruch auf diese Steuervergütung mehr haben. Selbständige würden dann gegenüber den Nichtselbständigen ungleich behandelt, was nicht nur der VO Nr. 1408/71, sondern auch dem Grundgesetz widerspräche. Die Familienkasse versuche, aus dem europäischen Ausland stammende Selbständige anders zu behandeln als deutsche Selbständige, was die VO Nr. 1408/71 gerade verhindern wolle.
Die Ehefrau des Klägers sei weder selbständig noch unselbständig tätig. Da sie daher vom Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 nicht erfasst werde, könne auch der Kläger über sie davon nicht erfasst werden.
Da der Kläger, der in Polen nicht sozialversichert, sondern in Deutschland privat renten- und krankenversichert sei, mithin weder unmittelbar noch mittelbar dem Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterfalle, richte sich sein Kindergeldanspruch allein nach deutschem Recht. Einer Zurückverweisung der Sache an das FG bedürfe es nicht.
II. Die Revision der Familienkasse ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
Die Familienkasse hat dem Kläger Kindergeld in Höhe der Hälfte des jeweiligen gesetzlichen Kindergeldsatzes (vgl. § 66 Abs. 1 EStG) bewilligt. Danach ist Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens allein, ob dem Kläger darüber hinaus ein Anspruch auf Kindergeld in voller gesetzlicher Höhe zusteht. Die bisherigen Feststellungen des FG ermöglichen hierzu jedoch keine abschließende Entscheidung.
1. Der Kläger erfüllt zwar die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Denn er hatte nach den den Senat bindenden (§ 118 Abs. 2 FGO) Feststellungen des FG einen Wohnsitz in Deutschland, und die vier Kinder, für die er Kindergeld beantragt hat, waren i.S. des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG bei der Festsetzung von Kindergeld zu berücksichtigen.
Der dem Kläger nach den §§ 62 f. EStG grundsätzlich zustehende Anspruch auf Kindergeld in der in § 66 Abs. 1 EStG vorgesehenen Höhe könnte jedoch nach vorrangigen unionsrechtlichen Vorschriften (dazu unten 2. und 3.) oder nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen sein (dazu unten 4.).
2. Der geltend gemachte Anspruch auf Kindergeld in der in § 66 Abs. 1 EStG vorgesehenen Höhe könnte durch die VO Nr. 1408/71 und die Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 (VO Nr. 574/72) in ihrer durch die VO Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die VO Nr. 647/2005, ausgeschlossen sein.
a) Auf den Streitfall sind noch diese Verordnungen anzuwenden. Die VO Nr. 1408/71 wurde zwar ersetzt durch die Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit --VO Nr. 883/2004-- (ABlEU 2004 Nr. L 166, S. 1). Letztere gilt jedoch nach ihrem Art. 91 Abs. 2 erst ab dem Tag des Inkrafttretens der zu ihrer Durchführung erlassenen Verordnung. Diese --die Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO Nr. 883/2004 --VO Nr. 987/2009-- (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1)-- trat nach ihrem Art. 97 Satz 2 erst am 1. Mai 2010 in Kraft. Die VO Nr. 574/72 wurde nach Art. 96 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009 erst mit Wirkung vom 1. Mai 2010 aufgehoben. Für den Streitfall gelten demnach noch die VO Nr. 1408/71 und die hierzu ergangene VO Nr. 574/72.
b) Als Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. u Ziff. i der VO Nr. 1408/71 unterfällt das Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG gemäß Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung ihrem sachlichen Geltungsbereich (z.B. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH-- vom 14. Oktober 2010 C-16/09, Schwemmer, Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht --ZESAR-- 2011, 86 Rdnr. 33).
c) Die bisherigen Feststellungen des FG reichen jedoch nicht aus, um beurteilen zu können, ob der Kläger auch dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 unterfällt.
aa) Der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 wird im Rahmen der allgemeinen Vorschriften des Titels I in Art. 2 der VO Nr. 1408/71 festgelegt. Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 gilt die Verordnung insbesondere für Arbeitnehmer und Selbständige, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten oder galten, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedstaats sind, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.
Die in dieser Vorschrift verwendeten Begriffe "Arbeitnehmer" und "Selbständiger" werden in Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 definiert. Sie bezeichnen jede Person, die im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 aufgeführten Systeme der sozialen Sicherheit gegen die in dieser Vorschrift angegebenen Risiken unter den dort genannten Voraussetzungen versichert ist. Eine Person besitzt somit z.B. die Arbeitnehmereigenschaft i.S. der VO Nr. 1408/71, wenn sie auch nur gegen ein einziges Risiko im Rahmen eines der in Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung genannten allgemeinen oder besonderen Systeme der sozialen Sicherheit pflichtversichert oder freiwillig versichert ist, und zwar unabhängig vom Bestehen eines Arbeitsverhältnisses (z.B. EuGH-Urteile vom 7. Juni 2005 C-543/03, Dodl und Oberhollenzer, Slg. 2005, I-5049 Rdnrn. 29 ff.; vom 10. März 2011 C-516/09, Borger, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2011, 436 Rdnrn. 28 ff.). Es ist nicht die tatsächliche Ausübung der Tätigkeit maßgeblich, sondern der Versichertenstatus (Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, I. Kommentierung, Art. 72 der VO Nr. 1408/71 Rz 5). Die VO Nr. 1408/71 soll also grundsätzlich für alle Personen gelten, die im Rahmen der für Arbeitnehmer und Selbständige bereitgestellten Systeme sozialer Sicherheit oder aufgrund der Ausübung einer Arbeitnehmer- oder Selbständigentätigkeit versichert sind (vgl. ihren Erwägungsgrund Nr. 3).
bb) Für die Frage, ob der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist, kommt es entgegen der Auffassung des FG nicht darauf an, ob der Arbeitnehmer bzw. Selbständige auch die Voraussetzungen erfüllt, die in ihrem Anhang I Teil I Buchst. D aufgeführt sind. Denn die in dieser Bestimmung enthaltenen Einschränkungen gelten, wie sich bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt ("Ist ein deutscher Träger der zuständige Träger für die Gewährung der Familienleistungen gemäß Titel III Kapitel 7 der Verordnung, ..."), nur für die Vorschriften des Titels III Kapitel 7 der VO Nr. 1408/71, d.h. bei Anwendung ihrer Art. 72 ff. (z.B. EuGH-Urteile vom 12. Mai 1998 C-85/96, Martinez Sala, Slg. 1998, I-2691 Rdnrn. 35 ff., 43 f., und vom 4. Mai 1999 C-262/96, Sürül, Slg. 1999, I-2685 Rdnrn. 89 ff.; ferner EuGH-Urteile vom 30. Januar 1997 C-4/95, C-5/95, Stöber und Pereira, Slg. 1997, I-511 Rdnrn. 26 ff.; vom 12. Juni 1997 C-266/95, Garcia, Slg. 1997, I-3279 Rdnrn. 21 ff., und vom 5. März 1998 C-194/96, Kulzer, Slg. 1998, I-895 Rdnrn. 35 f., jeweils zu Art. 73 der VO Nr. 1408/71; ferner EuGH-Urteil Schwemmer in ZESAR 2011, 86 Rdnr. 34; Vorlagebeschluss des Senats vom 30. Oktober 2008 III R 92/07, BFHE 223, 358, BStBl II 2009, 923 Rz 16 ff.). Das setzt voraus, dass die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 bereits bejaht wurde.
Sollte sich dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 13. August 2002 VIII R 54/00 (BFHE 200, 204, BStBl II 2002, 869) zum Anwendungsbereich des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 etwas anderes entnehmen lassen, könnte der Senat dem aus den oben dargelegten Gründen nicht folgen. Eine Anfrage beim VIII. Senat wäre schon deshalb nicht erforderlich, weil dieser Senat nach dem Geschäftsverteilungsplan des BFH für Fragen betreffend Kindergeld (§§ 62 bis 78 EStG) nicht mehr zuständig ist.
cc) Erforderlich, aber auch ausreichend für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 ist, dass eine Person nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in irgendeinem der von ihrem sachlichen Geltungsbereich erfassten Zweige der sozialen Sicherheit in irgendeinem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) versichert ist. Dass eine Person die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 in Bezug auf ihre in Deutschland ausgeübte Tätigkeit nicht erfüllt, bedeutet daher noch nicht, dass sie dem persönlichen Geltungsbereich der Verordnung nicht unterfällt, denn dieser kann aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats eröffnet sein.
Die VO Nr. 1408/71 gilt personen- und nicht tätigkeitsbezogen. Ihr Ziel ist die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Für Arbeitnehmer und Selbständige, die innerhalb der EU zu- und abwandern, soll jeweils das System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats gelten, so dass eine Kumulierung anzuwendender innerstaatlicher Rechtsvorschriften und die sich daraus möglicherweise ergebenden Komplikationen vermieden werden (vgl. ihren Erwägungsgrund Nr. 8). Um dieses Ziel zu erreichen, ist daher in einem ersten Schritt zu ermitteln, ob eine Person die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften (irgend) eines, ggf. auch mehrerer, Mitgliedstaaten besitzt (vgl. auch EuGH-Urteil Sürül in Slg. 1999, I-2685 Rdnr. 85). Ist danach der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 für eine Person eröffnet, ist in einem zweiten Schritt das auf sie anzuwendende Recht nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 zu bestimmen.
dd) Bezogen auf den vorliegenden Fall ist daher zunächst zu prüfen, ob der Kläger in Polen und/oder in Deutschland als Arbeitnehmer und/oder Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt.
(1) In Bezug auf seine Tätigkeit in Deutschland erfüllt der Kläger diese Voraussetzungen nicht. Denn er ist in Deutschland im Hinblick auf seine im Rahmen der GbR ausgeübte Tätigkeit nicht sozialversicherungspflichtig und auch nur privat versichert. Lediglich private Versicherungen erfüllen die Voraussetzungen des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 jedoch nicht, denn diese setzt eine Pflichtversicherung oder eine freiwillige Weiter-/Versicherung in einem System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedstaats der EU voraus.
(2) Für die Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 reicht es jedoch, wie dargelegt, aus, wenn der Kläger in irgendeinem Mitgliedstaat der EU als Arbeitnehmer oder Selbständiger i.S. des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung gilt. Das FG hat bislang allerdings noch keine Feststellungen dazu getroffen, ob und ggf. weshalb der Kläger in Polen (noch) sozialversichert ist und ob er deshalb dort ggf. als Arbeitnehmer oder Selbständiger i.S. des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 anzusehen ist. Entgegen der Auffassung des FG sind diese Feststellungen auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil auch bei Eröffnung des persönlichen Geltungsbereichs der VO Nr. 1408/71 für den Kläger eine Kürzung seines nach Ansicht des FG gegebenen deutschen Kindergeldanspruchs ausschiede. Denn wenn der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 für den Kläger eröffnet und auf ihn nach ihren Art. 13 ff. nicht deutsches, sondern polnisches Recht anzuwenden sein sollte, wäre ein Anspruch auf deutsches Kindergeld grundsätzlich insgesamt ausgeschlossen (vgl. hierzu unten 3.c).
ee) Dahinstehen kann, ob die Ehefrau des Klägers als Arbeitnehmerin bzw. Selbständige i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 und der Kläger als ihr Familienangehöriger anzusehen sind, weil dies entgegen der Auffassung der Familienkasse nicht dazu führen würde, dass das auf den Kläger anzuwendende Recht sich nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 richten würde. Denn diese Bestimmungen knüpfen nicht an den Familienangehörigen eines Arbeitnehmers bzw. Selbständigen, sondern an diesen selbst an (vgl. EuGH-Urteil vom 3. Juni 1999 C-211/97, Gomez-Rivero, Slg. 1999, I-3219 Rdnrn. 22 ff.).
3. Sollten die noch erforderlichen Ermittlungen des FG ergeben, dass der Kläger vom persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 erfasst ist, ist das auf ihn anzuwendende Recht nach den Vorschriften des Titels II dieser Verordnung (Art. 13 ff.) zu bestimmen.
a) Soweit es nach den Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 darauf ankommt, in welchem Mitgliedstaat die abhängige Beschäftigung bzw. die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird (so z.B. in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a und b der VO Nr. 1408/71), bestimmt sich dies entgegen der Auffassung der Familienkasse grundsätzlich nicht danach, in welchem Land die Versicherung besteht, sondern --entsprechend dem insoweit eindeutigen Wortlaut der jeweiligen Bestimmung-- danach, in welchem Mitgliedstaat die Person abhängig beschäftigt ist bzw. eine selbständige Tätigkeit ausübt.
Anzuknüpfen ist dabei allerdings nur an diejenige(n) Tätigkeit(en), hinsichtlich derer die betreffende Person als Arbeitnehmer bzw. Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 gilt. Die Vorschriften des Titels II der VO Nr. 1408/71 beziehen sich zwar ihrem Wortlaut nach auf Personen, die abhängig beschäftigt sind bzw. eine selbständige Tätigkeit ausüben, und nicht auf Arbeitnehmer oder Selbständige. Eine kohärente Auslegung des persönlichen Geltungsbereichs dieser Verordnung und des durch sie geschaffenen Systems von Kollisionsregeln gebietet es aber, die fraglichen Begriffe des Titels II dieser Verordnung im Lichte der Definitionen ihres Art. 1 Buchst. a auszulegen (vgl. EuGH-Urteil vom 30. Januar 1997 C-221/95, Hervein, Slg. 1997, I-609 Rdnrn. 19 f.). Für den Kläger kann sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften daher nicht aus Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der VO Nr. 1408/71 ergeben, denn hinsichtlich seiner in Deutschland ausgeübten Tätigkeit im Rahmen der GbR gilt er nicht als Selbständiger i.S. des Art. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71.
b) Sollte die Prüfung der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 gleichwohl ergeben, dass auf den Kläger deutsche Rechtsvorschriften anzuwenden sind, müsste noch ermittelt werden, ob und ggf. für welche Monate des Streitzeitraums für die vier Kinder des Klägers ein Anspruch auf polnische Familienleistungen bestand (vgl. dazu auch unten 4.). Soweit ein solcher Anspruch bestand, wäre die dann gegebene Anspruchskumulierung nach den Antikumulierungsvorschriften der VO Nr. 1408/71 bzw. der VO Nr. 574/72 zu klären. Dabei wären bei Anwendung des Art. 76 der VO Nr. 1408/71 bzw. des Art. 10 der VO Nr. 574/72 die Einschränkungen des Anhangs I Teil I Buchst. D der VO Nr. 1408/71 zu berücksichtigen.
c) Sollten nach den Bestimmungen der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 die deutschen Rechtsvorschriften nicht anzuwenden sein, stellte sich die Frage, ob Deutschland als der nach der VO Nr. 1408/71 dann nicht zuständige Mitgliedstaat gleichwohl befugt wäre, Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG zu zahlen, und ob in einem solchen Fall der Anwendung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unionsrechtliche Vorschriften entgegenstünden. Insoweit handelte es sich um die gleichen Fragestellungen, die bereits Gegenstand der Vorabentscheidungsersuchen des Senats vom 21. Oktober 2010 III R 5/09 (BFHE 231, 183) und III R 35/10 (BFHE 231, 194) sind, so dass eine Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens bis zur Entscheidung des EuGH in den bei diesem anhängigen Verfahren C-611/10 und C-612/10 in Betracht kommen könnte.
4. Sollte der persönliche Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71 für den Kläger nicht eröffnet sein, richtete sich sein Kindergeldanspruch allein nach den §§ 62 ff. EStG, so dass auch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu prüfen wäre. Nach dieser Bestimmung wird kein Kindergeld für ein Kind gezahlt, für das dem Kindergeld vergleichbare Leistungen im Ausland gewährt oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären.
a) Das FG ist der Ansicht, dass einem Anspruch des Klägers auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht entgegenstehe, da während des Streitzeitraums weder dem Kläger noch seiner Ehefrau in Polen ein Anspruch auf dem deutschen Kindergeld vergleichbares polnisches Familiengeld zugestanden habe.
b) Aus prozessökonomischen Gründen weist der Senat darauf hin, dass die Feststellungen des FG seine Entscheidung insoweit nicht tragen.
aa) Die Feststellungen des FG zum maßgeblichen polnischen Recht beschränken sich insoweit allein darauf, dass im Streitzeitraum ein Anspruch auf polnisches Familiengeld nur bestanden habe, wenn das Einkommen pro Familienmitglied monatlich nicht höher gewesen sei als 504 PLN; diese Einkommensgrenze habe die Familie des Klägers nicht überschritten.
An die Feststellung des FG zu Bestand und Inhalt ausländischen Rechts ist der BFH als Revisionsinstanz zwar wie an Tatsachenfeststellungen grundsätzlich gebunden. Die Bindungswirkung entfällt aber, soweit die erstinstanzlichen Feststellungen auf einem nur kursorischen Überblick über die zu behandelnde Materie beruhen (vgl. BFH-Urteile vom 26. April 1995 II R 13/92, BFHE 177, 492, BStBl II 1995, 540, und vom 3. August 2005 I R 85/03, BFHE 210, 573, BStBl II 2006, 139; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 118 AO Rz 68). Das ist hier der Fall.
Als Grundlage für seine Feststellung, im Streitzeitraum habe ein Anspruch auf polnisches Familiengeld nur bestanden, wenn das Einkommen pro Familienmitglied monatlich nicht höher gewesen sei als 504 PLN, verweist das FG auf "vgl. Sozialversicherung in Polen - Informationen und Fakten hrsg. von der Sozialversicherungsanstalt, vgl. www.zus.pl". Auf der angegebenen Internetseite findet sich zwar der Hinweis, dass Familienleistungen "auf der Grundlage des Gesetzes vom 28. November 2003" erbracht werden. Einzelheiten zu Inhalt und Auslegung dieses Gesetzes hat das FG jedoch nicht festgestellt. So fehlen z.B. schon die erforderlichen Feststellungen dazu, wer nach polnischem Recht als "Familienmitglied" gilt und was als "Einkommen pro Familienmitglied" anzusetzen ist. An die demnach lediglich kursorische Feststellung ausländischen Rechts wäre der Senat daher nicht gebunden. Sollte es für die Entscheidung des FG auf das (Nicht-)Bestehen eines Anspruchs auf polnische Familienleistungen ankommen, wären also auch insoweit noch Feststellungen erforderlich.
bb) Darüber hinaus lässt sich dem angegriffenen Urteil des FG jedenfalls für die Monate ab Juli 2006 auch nicht entnehmen, aufgrund welcher Feststellungen das FG zu der Auffassung gelangt ist, dass in Polen kein Anspruch auf Familienleistungen bestanden habe. Denn Feststellungen zu dem "Einkommen der Familie" des Klägers hat das FG nur bis einschließlich Juni 2006 getroffen, nicht aber auch für spätere Monate.