Entscheidungsdatum: 28.04.2016
1. NV: Die im anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Großeltern können gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn sie ihr Enkelkind in ihrem Heimatland in ihrem Haushalt aufgenommen haben .
2. NV: Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist im Hinblick auf das Kindergeld nach dem EStG nach Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i und nicht nach Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Zu den "beteiligten Personen" gehören daher die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten und damit auch Großelternteile, die ein Enkelkind in ihren Haushalt aufgenommen haben .
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts des Saarlandes vom 3. Dezember 2014 2 K 1270/12 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
I. Streitig ist der Kindergeldanspruch für den Zeitraum September 2011 bis Juli 2012.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist polnische Staatsangehörige. Sie wohnt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und ist arbeitslos. Die Klägerin ist die Mutter einer am …. September 1989 geborenen Tochter (T), die in Polen studiert. T lebte bis zu ihrer Heirat am …. August 2013 im Haushalt ihrer Großeltern (der Eltern der Klägerin) in Polen.
Mit Bescheid vom 1. März 2012 lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) den Antrag auf Bewilligung von Kindergeld für T unter Hinweis darauf ab, T lebe nicht im Haushalt der Klägerin. Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 4. Juli 2012).
Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen gerichteten Klage, mit der die Klägerin die Festsetzung von Kindergeld für T ab September 2011 begehrte, in vollem Umfang statt.
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Familienkasse eine sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Mit Beschluss vom 27. April 2015 hat der Bundesfinanzhof das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst --DStRE-- 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) der Klägerin zusteht. Die Klägerin ist zwar nach nationalem Recht (§§ 62 ff. EStG) anspruchsberechtigt (dazu unter 1.). Den Großeltern steht aber nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu (dazu 2. bis 6.).
Nach den für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) erfüllt die Klägerin --was zwischen den Beteiligten nicht streitig ist-- die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 2 Buchst. a EStG. Unerheblich ist, dass T ihren Wohnsitz in Polen hat (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. Allerdings sind die Großeltern --entgegen der Rechtsauffassung des FG-- nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt. Denn sie haben T in ihren Haushalt aufgenommen und gemäß Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union --ABlEU-- 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 --Grundverordnung--) i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 --Durchführungsverordnung--) ist zu unterstellen, dass sie mit T in Deutschland wohnen.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Lebt ein Kind im gemeinsamen Haushalt von Eltern und Großeltern, so wird das Kindergeld vorrangig einem Elternteil gezahlt; es wird an einen Großelternteil gezahlt, wenn der Elternteil gegenüber der zuständigen Stelle auf seinen Vorrang schriftlich verzichtet hat (§ 64 Abs. 2 Satz 5 EStG).
b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Großeltern aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung (dazu 3.). Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ein Inlandswohnsitz der Großeltern fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllen die Großeltern auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).
3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist danach der zuständige Mitgliedstaat.
a) Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
b) Gemäß Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von der Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da die Klägerin im Streitzeitraum arbeitslos war, unterlag sie jedenfalls nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004 den deutschen Rechtsvorschriften.
4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Großeltern (fiktiv) in das Inland übertragen wird.
a) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten. Danach schafft Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 eine gesetzliche Fiktion dahin, dass bei Anwendung der Koordinierungsregelungen der Grundverordnung die Situation der gesamten Familie in einer Weise berücksichtigt wird, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften der für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten.
b) Art. 67 der VO Nr. 883/2004 ist ungeachtet dessen anwendbar, dass es bereits nach nationalem Recht (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG) nicht darauf ankommt, ob das Kind seinen Wohnsitz im Inland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hat (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 35 ff.). Zudem kommt es nicht darauf an, ob im Streitfall zusätzlich auch eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben ist. Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 nicht einschlägig, fände Art. 60 der VO Nr. 987/2009 bereits über Art. 67 der VO Nr. 883/2004 Anwendung (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 32 f., 35 ff.). Wäre Art. 68 der VO Nr. 883/2004 einschlägig, eröffnete dieser ebenfalls die Anwendbarkeit des Art. 60 der VO Nr. 987/2009.
c) Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die "Familienangehörigen" i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Da das Kindergeldrecht nach dem EStG den Begriff des Familienangehörigen weder verwendet noch definiert, sind hierunter neben den Elternteilen und dem Kind auch alle Personen zu verstehen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf diese Leistungen zu erheben (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38). Daher werden von diesem Begriff nach § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG auch Großelternteile erfasst, die ein Enkelkind in ihren Haushalt aufgenommen haben.
Der Begriff der "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist auch nicht unter Rückgriff auf Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 zu bestimmen. Danach werden als "Familienangehörige" nicht die Großeltern, sondern nur der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder angesehen, wenn die anzuwendenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die Familienangehörigen nicht von anderen Personen unterscheiden, auf die diese Rechtsvorschriften anwendbar sind. Die Nichtanwendbarkeit dieser Bestimmung ergibt sich zum einen daraus, dass die Anspruchsberechtigung im deutschen Kindergeldrecht von einer familienrechtlichen Beziehung abhängig gemacht wird (vgl. § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 EStG). Zum anderen hat auch der EuGH in seinem Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 38 zur Bestimmung der "beteiligten Personen" auf die nach dem nationalen Recht Anspruchsberechtigten abgestellt und damit etwa auch die ehemalige (geschiedene) Ehefrau des Anspruchstellers als "beteiligte Person" qualifiziert, obwohl diese kein Ehegatte i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 ist. Insofern greift Art. 1 Buchst. i Nr. 2 der VO Nr. 883/2004 auch dann nicht ein, wenn es darum geht, ob Großeltern im Zusammenhang von § 62 Abs. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 EStG als Familienangehörige zu qualifizieren sind.
5. Die Großeltern erfüllen neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
a) Anhaltspunkte dafür, dass die Großeltern nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer i.S. des § 62 Abs. 2 EStG sind, hat das FG nicht festgestellt. Zudem haben die Großeltern ihr Enkelkind T nach den Feststellungen des FG auch in ihren Haushalt aufgenommen (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
b) Ein vorrangiger Anspruch der Klägerin ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 5 EStG; denn diese Bestimmung setzte einen gemeinsamen Haushalt der Klägerin und der Großeltern voraus, den auch nicht Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 fingiert. Denn die Klägerin und die Großeltern unterhielten in Polen keinen gemeinsamen Haushalt, vielmehr lag eine Konstellation des § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vor, also ein eigenständiger Haushalt der Großeltern. Dieser bleibt ein solcher auch dann, wenn man fiktiv diesen Haushalt nach Deutschland verlegt. Demnach ist im Streitfall der Anspruch der Großeltern vorrangig, da nur diese, nicht dagegen die Klägerin, T in ihren Haushalt aufgenommen haben. Die Frage, welcher der beiden Großelternteile nach § 64 Abs. 2 Sätze 2 bis 4 EStG vorrangig berechtigt ist, kann dahinstehen, weil der nachrangige Anspruch der Klägerin hiervon nicht berührt wird.
6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob einer der Großelternteile selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat.
Nimmt eine Person, die berechtigt ist, Anspruch auf Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahr (hier: ggf. die Großelternteile), berücksichtigt nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 der zuständige Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind (hier: Deutschland), einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem "anderen Elternteil" gestellt wird. Der Anspruch auf Kindergeld müsste der Klägerin daher nicht wegen der fehlenden Antragstellung eines Großelternteils zuerkannt werden (EuGH-Urteil in DStRE 2015, 1501, Rz 50). Vielmehr reichte es aus, dass die Klägerin einen Antrag auf Kindergeld gestellt hat. Diesen hätte die deutsche Familienkasse auch als solchen zugunsten des Kindergeldanspruchs der Großeltern zu berücksichtigen.
7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.