Entscheidungsdatum: 22.11.2012
Hat ein Sozialleistungsträger wegen der Leistungen nach dem SGB II, die er dem Kind eines Kindergeldberechtigten gewährt hat, keinen Anspruch auf Erstattung von Kindergeld, weil das Kind in einem eigenen Haushalt lebt und das Kindergeld an das Kind weder abgezweigt noch weitergeleitet worden ist, so besteht dennoch ein Erstattungsanspruch, wenn der kindergeldberechtigte Elternteil ebenfalls Sozialleistungen nach dem SGB II bezieht .
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) bezog vom Jobcenter, dem Beigeladenen und Revisionskläger (Beigeladener), im streitigen Zeitraum (August 2008 bis Januar 2009) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur Bestreitung der Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Leistungen beliefen sich auf monatlich 1.414,69 € (August 2008) und 1.425,69 € (ab September 2008). Zur Bedarfsgemeinschaft gehörten auch die Ehefrau des Klägers sowie die gemeinsame Tochter. Der im Juli 1989 geborene Sohn (S) des Klägers lebte im streitigen Zeitraum in einer eigenen Wohnung. Auch S erhielt Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II. Bei der Berechnung der Höhe der Leistungen nach dem SGB II für den Kläger berücksichtigte der Beigeladene im Streitzeitraum das Kindergeld für die Tochter als Einkommen des Klägers, nicht aber den Anspruch auf Kindergeld für S.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) setzte gegenüber dem Kläger Kindergeld für S durch Bescheid vom 26. Januar 2009 ab August 2008 fest. Da der Beigeladene einen Erstattungsanspruch geltend gemacht hatte, stellte sie darüber hinaus in dem Bescheid fest, dass der Anspruch des Klägers auf Kindergeld für S für die Zeit von August 2008 bis Januar 2009 in Höhe von 934 € erfüllt sei. Ab Februar 2009 zahlte die Familienkasse das Kindergeld für S an den Kläger aus.
Gegen den Abrechnungsbescheid wandte sich der Kläger mit seinem Einspruch. Die Familienkasse wies den Rechtsbehelf als unbegründet zurück.
Im anschließenden Klageverfahren hob das Finanzgericht (FG), das den Beigeladenen am Verfahren beteiligt hatte, den Abrechnungsbescheid sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung auf (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1174). Es war der Ansicht, dass in den Fällen, in denen das Kind eines Hilfeempfängers in einem eigenen Haushalt lebe, das Kindergeld nur dann als dessen Einkommen anzurechnen sei, wenn es an dieses abgezweigt worden oder ihm zumindest tatsächlich zugeflossen sei. S habe in einem eigenen Haushalt gelebt und einen eigenen Anspruch auf Sozialleistungen gehabt; auch sei das Kindergeld nicht an S ausgezahlt oder abgezweigt worden. Der Beigeladene habe daher den Kindergeldanspruch des Klägers nicht als Einkommen berücksichtigt.
Gegen das Urteil des FG wenden sich sowohl die Familienkasse als auch der Beigeladene jeweils mit ihrer Revision.
Die Familienkasse trägt zur Begründung ihrer Revision vor, das FG gehe zwar zutreffend davon aus, dass abgezweigtes oder weitergeleitetes Kindergeld als Einkommen des im eigenen Haushalt lebenden Kindes anzusehen sei. Allerdings sei der Umkehrschluss unzutreffend, dass das Kindergeld in den übrigen Fällen nicht als Einkommen von Eltern anzusehen sei, die selbst Leistungen nach dem SGB II bezögen.
Der Beigeladene trägt zur Begründung der von ihm eingelegten Revision im Wesentlichen vor, die für einen Erstattungsanspruch erforderliche Gleichartigkeit von Kindergeld und Leistungen nach dem SGB II sei hier gegeben, weil das Kindergeld für S, wenn es an den Kläger ausgezahlt worden wäre, als dessen Einkommen anzusehen gewesen wäre. Lediglich für die im Haushalt des Klägers lebende Tochter sei das Kindergeld angerechnet worden.
Die Familienkasse und der Beigeladene beantragen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revisionen als unbegründet zurückzuweisen.
Ein Erstattungsanspruch bestehe nicht. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe im Beschluss vom 14. Juli 2011 1 BvR 932/10 (Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2011, 3215) klargestellt, dass das Kindergeld in voller Höhe für das Kind einzusetzen sei. Dies gelte auch dann, wenn es in einem eigenen Haushalt lebe. Aus diesem Grund sei das Kindergeld nicht als sein ---des Klägers-- Einkommen anzusetzen.
II. Die Revisionen der Familienkasse und des Beigeladenen sind begründet. Sie führen zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat einen Erstattungsanspruch des Beigeladenen zu Unrecht verneint. Der angefochtene Abrechnungsbescheid ist rechtmäßig.
1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass der Kindergeldanspruch des Klägers nicht nach § 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (EStG) i.V.m. § 104 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) wegen eines Erstattungsanspruchs des Beigeladenen im Hinblick auf die gegenüber S erbrachten Sozialleistungen erloschen ist.
a) Hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht, ohne dass die --hier nicht einschlägigen-- Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, ist nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre (§ 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X).
b) Eine Erstattung nach § 104 Abs. 1 SGB X setzt voraus, dass die von verschiedenen Trägern erbrachten Leistungen gleichartig sind, d.h. dass sie für die gleichen Zeiträume bestimmt sind und sich in der Leistungsart und Zweckbestimmung entsprechen. Außerdem muss zwischen ihnen ein Verhältnis von vorrangiger und nachrangiger Verpflichtung zur Leistung bestehen (Senatsurteile vom 17. April 2008 III R 33/05, BFHE 221, 47, BStBl II 2009, 919; vom 17. Juli 2008 III R 87/06, BFH/NV 2008, 1833; vom 19. Juni 2008 III R 89/07, BFH/NV 2008, 1995; vom 19. April 2012 III R 85/09, BFHE 237, 145, BFH/NV 2012, 1369; vom 26. Juli 2012 III R 28/10, BFH/NV 2012, 1874).
c) Lebt das durch Sozialleistungen nach dem SGB II unterstützte Kind, für das ein Elternteil Kindergeld begehrt, im eigenen Haushalt, so fehlt es hinsichtlich der an das Kind gezahlten Leistungen und dem Kindergeld am Verhältnis von Gleichartigkeit und Nachrangigkeit, sofern das Kindergeld nicht an das Kind abgezweigt oder an das Kind weitergeleitet wird (Senatsurteile in BFHE 221, 47, BStBl II 2009, 919, sowie in BFH/NV 2012, 1874). In einem solchen Fall ist das Kindergeld sozialrechtlich dem Einkommen des Kindergeldberechtigten zuzurechnen (Senatsurteil in BFH/NV 2012, 1874). Auch § 104 Abs. 2 SGB X erlaubt es nicht, die an den im eigenen Haushalt lebenden Angehörigen --im Streitfall an S-- erbrachten Sozialleistungen dem Kindergeldberechtigten zuzurechnen. Denn der Erstattungsanspruch nach § 104 Abs. 2 SGB X ist kein von den Voraussetzungen des § 104 Abs. 1 SGB X unabhängiger Anspruch eigener Art, sondern erweitert diesen nur (Senatsurteile in BFHE 221, 47, BStBl II 2009, 919; in BFH/NV 2008, 1833; vom 7. April 2011 III R 88/09, BFH/NV 2011, 1326, sowie in BFH/NV 2012, 1874).
d) Im Streitfall wurde das Kindergeld nicht an S abgezweigt oder an ihn weitergeleitet, so dass es sozialrechtlich dem Einkommen des Klägers zuzurechnen gewesen wäre, wenn es an ihn ausgezahlt worden wäre. Im Hinblick auf die an S erbrachten Leistungen nach dem SGB II gilt der Kindergeldanspruch des Klägers somit nicht nach § 107 SGB X als erfüllt.
2. Das FG hat jedoch zu Unrecht nicht geprüft, ob hinsichtlich der vom Kläger bezogenen Sozialleistungen und seines Anspruchs auf Kindergeld für S die Voraussetzungen der Gleichartigkeit und des Verhältnisses von Vor- und Nachrangigkeit erfüllt sind. Dies ist zu bejahen.
a) Das nach den §§ 62 ff. EStG zu gewährende Kindergeld ist, soweit es der Familienförderung dient, ebenso dazu bestimmt, die allgemeinen Lebenshaltungskosten zu bestreiten, wie dies bei den vom Sozialleistungsträger erbrachten oder zu erbringenden Leistungen zum Lebensunterhalt der Fall ist (Urteil des Bundesfinanzhofs vom 14. Mai 2002 VIII R 88/01, BFH/NV 2002, 1156; Senatsurteile in BFH/NV 2008, 1833, sowie in BFHE 221, 47, BStBl II 2009, 919, jeweils zur Sozialhilfe nach dem Bundessozialhilfegesetz; Senatsurteil in BFH/NV 2012, 1874, auch zu Leistungen nach dem SGB II).
b) Auch sind die Leistungen nach dem SGB II, die an den Kläger für seine Bedarfsgemeinschaft ausgezahlt wurden, nachrangig gegenüber dem Kindergeld. Dieses wäre bei einer vorherigen Auszahlung bei der Ermittlung der Höhe der Leistungen nach dem SGB II zu berücksichtigen gewesen (Senatsurteil in BFH/NV 2012, 1874). Die vom Kläger für die Bedarfsgemeinschaft bezogenen Leistungen waren unstreitig nicht im Hinblick auf seinen Anspruch auf Kindergeld für S gemindert. Diesen ungekürzten Leistungen ist der Kindergeldanspruch für S gegenüberzustellen. Kindergeld, das nicht im Wege der Abzweigung oder der Weiterleitung an das Kind gelangt ist, führt --wie bereits ausgeführt-- sozialrechtlich zu Einkommen des Kindergeldberechtigten. Da es bei Anwendung des § 104 SGB X allein auf die sozialrechtliche Zuweisung des Kindergeldes ankommt, ist es unerheblich, dass aufgrund der ab 1. Januar 2008 in Kraft getretenen Änderung des § 1612b des Bürgerlichen Gesetzbuches das Kindergeld zivilrechtlich dem Einkommen des Kindes zugewiesen wird (s. Beschluss des BVerfG in NJW 2011, 3215).
c) Im Hinblick auf die vom Kläger bezogenen Leistungen nach dem SGB II gilt der Kindergeldanspruch gemäß § 74 Abs. 2 EStG i.V.m. § 107 Abs. 1 SGB X als erfüllt. Der Abrechnungsbescheid vom 26. Januar 2009, in dem diese Erfüllungsfiktion für den Zeitraum August 2008 bis Januar 2009 in Höhe von 934 € festgestellt wird, ist rechtmäßig.