Bundesfinanzhof

Entscheidungsdatum: 21.10.2010


BFH 21.10.2010 - III R 18/10

Kindergeld: Kein Abzug von Beiträgen zur VBL-Pflichtversicherung sowie zu einer privaten Lebensversicherung oder Berufsunfähigkeitsversicherung im Rahmen der Grenzbetragsprüfung bei gesetzlicher Rentenversicherung des Kindes


Gericht:
Bundesfinanzhof
Spruchkörper:
3. Senat
Entscheidungsdatum:
21.10.2010
Aktenzeichen:
III R 18/10
Dokumenttyp:
Urteil
Vorinstanz:
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 15. September 2009, Az: 10 K 10272/07, Urteil
Zitierte Gesetze

Leitsätze

1. NV: Beiträge eines gesetzlich rentenversicherten Kindes zur tarifvertraglich vorgesehenen VBL-Pflichtversicherung sind bei der Grenzbetragsprüfung nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG nicht von dessen Einkünften und/oder Bezügen abzuziehen .

2. NV: Gleiches gilt für Beiträge des gesetzlich rentenversicherten Kindes zu einer privaten Lebensversicherung oder Berufsunfähigkeitsversicherung .

Tatbestand

1

I. Die 1981 geborene Tochter (T) der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) absolvierte von Oktober 2000 bis September 2003 eine Ausbildung zur Krankenschwester und stand anschließend in einem Beschäftigungsverhältnis.

2

Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Kindergeldantrag der Klägerin vom 18. Februar 2002 mit Bescheid vom 11. April 2002 ab, weil die prognostizierten Einkünfte und Bezüge von T den maßgebenden Grenzbetrag überschritten. Der Bescheid wurde bestandskräftig.

3

Im Juni 2006 beantragte die Klägerin unter Berufung auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2005  2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) rückwirkend Kindergeld für 2002 und 2003. Nach den vorgelegten Bescheinigungen hatte T im Jahr 2002 einen Bruttoarbeitslohn von 11.027 €. Ihr Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag belief sich auf 2.257,99 €. Von Januar 2003 bis September 2003 betrug der Bruttoarbeitslohn 8.542,17 € und der Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag 1.690,91 €. Der Arbeitgeber führte an die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) Beiträge für T ab (148,18 € im Jahr 2002, 112,89 € von Januar 2003 bis September 2003). § 3 des Ausbildungsvertrags der T vom 8. August 2000 sieht vor, dass sich das Ausbildungsverhältnis bestimmt nach dem Tarifvertrag vom 28. Februar 1986 zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Schülerinnen und Schüler, die nach Maßgabe des Krankenpflegegesetzes oder des Hebammengesetzes ausgebildet werden, und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der jeweils geltenden Fassung. T leistete außerdem Beiträge zu einer Lebensversicherung auf Rentenbasis unter Einschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung (664 € im Jahr 2002, 516,74 € von Januar 2003 bis September 2003).

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Mit Bescheiden vom 3. November 2006 lehnte die Familienkasse den Antrag auf Kindergeld für die Monate Mai 2002 bis Dezember 2002 und Januar 2003 bis September 2003 ab. Die Einsprüche waren erfolglos.

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Das Finanzgericht (FG) wies die Klage durch Urteil vom 15. September 2009  10 K 10272/07 ab. Zur Begründung führte es aus, die Einkünfte und Bezüge der T lägen über dem jeweils maßgeblichen Grenzbetrag von 7.188 € im Jahr 2002 bzw. 5.391 € in den Monaten Januar bis September 2002. Dabei zog es von dem erzielten Bruttoarbeitslohn nur den jeweiligen Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag ab sowie für das Jahr 2002 den vollen und für das Jahr 2003 einen anteiligen Werbungskostenpauschbetrag gemäß § 9a Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der für die Streitjahre geltenden Fassung (EStG).

6

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Sie trägt im Wesentlichen vor, es seien zusätzlich die Lohnsteuer und der Solidaritätszuschlag, die Beiträge zur VBL sowie zur Lebensversicherung auf Rentenbasis unter Einschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung als private Alters- bzw. Erwerbsunfähigkeitsvorsorge abzuziehen. Überdies macht die Klägerin verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Ausgestaltung des Grenzbetrags als Freigrenze ("Fallbeilwirkung") geltend.

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Die Klägerin beantragt, das FG-Urteil, die Ablehnungsbescheide vom 3. November 2006 sowie die Einspruchsentscheidungen vom 22. Mai 2007 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, für T Kindergeld von Mai 2002 bis September 2003 festzusetzen.

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Die Familienkasse beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

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II. Die Revision ist unbegründet und wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Klägerin für die Monate Mai bis Dezember 2002 und Januar bis September 2003 keinen Anspruch auf Kindergeld hat.

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1. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG besteht für ein volljähriges Kind Anspruch auf Kindergeld, wenn das Kind Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.188 € im Kalenderjahr hat. Dieser Grenzbetrag ermäßigt sich nach § 32 Abs. 4 Satz 7 EStG für jeden Kalendermonat um 1/12, in dem --wie im Streitfall in den Monaten Oktober bis Dezember 2003-- die Voraussetzungen für eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG an keinem Tag vorliegen (Kürzungsmonate). Danach belief sich der maßgebliche Grenzbetrag für das Jahr 2002 auf 7.188 € und für die Monate von Januar 2003 bis September 2003 auf 5.391 €.

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2. Der Begriff der Einkünfte i.S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG entspricht dem in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definierten Begriff und ist je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten zu verstehen. Erzielt das Kind Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, sind daher von den Bruttoeinnahmen die Werbungskosten abzuziehen (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsurteil vom 17. Juni 2010 III R 59/09, BFHE 230, 142).

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3. Darüber hinaus sind nach der Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 im Wege verfassungskonformer Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Einkünfte --ebenso wie die Bezüge-- nur zu berücksichtigen, soweit sie zur Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind. Es ist jeweils im Einzelfall zu prüfen, welche Teile der Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 2 EStG wegen eines sonst vorliegenden Grundrechtsverstoßes im Wege verfassungskonformer Einschränkung nicht angesetzt werden dürfen.

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4. Entsprechend diesen Grundsätzen hat der Senat durch Urteil in BFHE 230, 142 entschieden, dass die Beiträge eines gesetzlich rentenversicherten Kindes zur tarifvertraglich vorgesehenen VBL-Pflichtversicherung bei der Ermittlung der kindergeldschädlichen Einkünfte und Bezüge nicht von den Einkünften abzuziehen sind. Zur Begründung im Einzelnen nimmt der Senat auf dieses Urteil Bezug.

14

Die Beiträge zu privaten Renten-, Lebens- und Unfallversicherungen sind ebenfalls nicht von den Einkünften eines gesetzlich rentenversicherten Kindes abzusetzen (Einzelheiten siehe Senatsurteil vom 29. Mai 2008 III R 33/06, BFH/NV 2008, 1664, m.w.N.).

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Nicht abziehbar sind auch die Beiträge, die auf eine private Versicherung gegen Berufsunfähigkeit entfallen. In der Senatsrechtsprechung ist dies bereits für Zeiträume bis Ende 2000 geklärt (Senatsbeschluss vom 29. Mai 2008 III R 54/06, BFH/NV 2008, 1821). Auch bei den Beiträgen zu einer privaten Berufsunfähigkeitsversicherung eines gesetzlich rentenversicherungspflichtigen Kindes, die für Zeiträume ab 2001 geleistet werden, handelt es sich nicht um unvermeidbare Aufwendungen. Unvermeidbar in diesem Sinne sind nur Aufwendungen für einen existenziell notwendigen Versicherungsschutz, der zur Absicherung gegen existenzgefährdende Wechselfälle des Lebens dient (Senatsurteil in BFHE 230, 142). Der existenziell notwendige Versicherungsschutz gegen das Risiko einer teilweisen bzw. vollen Erwerbsunfähigkeit wird bereits durch die gesetzliche Rentenversicherung abgedeckt. Durch das Gesetz zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1827) wurden die bisherigen Renten wegen Berufs- und Erwerbsunfähigkeit ab dem 1. Januar 2001 durch die Einführung einer Erwerbsminderungsrente (§ 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch --SGB VI--) ersetzt. Die Erwerbsminderungsrente deckt Fälle ab, in denen --abhängig von der Zahl der Stunden, die der Betroffene täglich arbeiten kann-- die Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in Folge von Krankheit oder Behinderung eingeschränkt ist. Die Renten wegen Erwerbsminderung sollen den Ausgleich wirtschaftlicher Einbußen gewährleisten, bei gesundheitsbedingten Einschränkungen am Erwerbsleben teilzunehmen (von Koch in Kreikebohm, SGB VI, § 43 Rz 4). Mit dem Abschluss einer zusätzlichen privaten Berufsunfähigkeitsversicherung wird ein über das staatliche Mindestmaß hinausgehender Versicherungsschutz in Form eines Berufsschutzes angestrebt. Dieser ist jedoch zur aktuellen Existenzsicherung des Kindes nicht notwendig.

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Schließlich sind von den Einkünften auch nicht die vom Arbeitslohn einbehaltene Lohnsteuer und der Solidaritätszuschlag abzuziehen (Senatsurteil vom 25. September 2008 III R 29/07, BFH/NV 2009, 372).

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5. Die Ausgestaltung des Grenzbetrags nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG als Freigrenze ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsbeschluss in BFH/NV 2008, 1821, m.w.N.; bestätigt durch den Beschluss des BVerfG vom 27. Juli 2010  2 BvR 2122/09, BFH/NV 2010, 1994).