Bundesgerichtshof

Entscheidungsdatum: 27.09.2010


BGH 27.09.2010 - II ZR 185/09

Berufungsverfahren: Zulässigkeit der Erweiterung der Berufungsanträge; Anfechtbarkeit des einstimmigen Zurückweisungsbeschlusses des Berufungsgerichts


Gericht:
Bundesgerichtshof
Spruchkörper:
2. Zivilsenat
Entscheidungsdatum:
27.09.2010
Aktenzeichen:
II ZR 185/09
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend OLG Rostock, 16. Juli 2009, Az: 1 U 137/08, Urteilvorgehend OLG Rostock, 5. Mai 2009, Az: 1 U 137/08, Beschlussvorgehend LG Schwerin, 30. Mai 2008, Az: 5 O 31/07, Urteil
Zitierte Gesetze

Tenor

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten wird als unzulässig verworfen, soweit sie sich gegen den Beschluss des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 5. Mai 2009 richtet.

Im Übrigen wird auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten das Schlussurteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Rostock vom 16. Juli 2009 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist.

Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Streitwert: 171.000 €

Gründe

1

Die Beschwerde ist unzulässig, soweit sie sich gegen den nach § 522 Abs. 2 ZPO gefassten Beschluss des Berufungsgerichts richtet. Im Übrigen ist die Beschwerde begründet und führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO im Kostenpunkt und, soweit zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist, zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

2

I. Soweit sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten gegen die durch den Beschluss vom 5. Mai 2009 gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückgewiesene Berufung im Hinblick auf die Widerklageanträge zu 1 und 2 richtet, ist die Beschwerde unzulässig, weil insoweit eine Revision unstatthaft ist.

3

1. Gemäß § 542 Abs. 1 ZPO findet eine Revision nur gegen in der Berufungsinstanz erlassene Endurteile statt. Ein Beschluss gemäß § 522 Abs. 2 ZPO ist unanfechtbar (§ 522 Abs. 3 ZPO), d.h. durch Rechtsmittel der ZPO nicht angreifbar (BGH, Urteil vom 23. November 2006 - IX ZR 14/04, ZIP 2007, 697, 698 mwN).

4

2. Ohne Bedeutung ist, dass das Berufungsgericht in dem Schlussurteil vom 16. Juli 2009 erneut "im Übrigen" die Widerklage "abgewiesen" hat.

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Dieser Tenor geht ins Leere, weil die Zurückweisung der Berufung gegen die Abweisung der Widerklage durch den Teilbeschluss vom 5. Mai 2009 bereits rechtskräftig erfolgt ist. Der Teilbeschluss ist auch nicht nichtig. Als in dem vorgesehenen Verfahren zu Stande gekommener hoheitlicher Akt beansprucht er aus Gründen der Rechtssicherheit Geltung gegenüber jedermann, sofern ihm nicht ein offenkundiger, schwerer Fehler anhaftet, der ausnahmsweise zur Nichtigkeit führt. Die Frage der Zulässigkeit von Teilbeschlüssen gemäß § 522 Abs. 2 ZPO ist zwar nach der Gesetzesbegründung zu verneinen, der Gesetzeswortlaut ist allerdings offen, deshalb wird ein Teilbeschluss in Teilen der Rechtsprechung und Literatur für zulässig gehalten (zum Ganzen BGH, Urteil vom 23. November 2006 - IX ZR 14/04, ZIP 2007, 697, 698 mwN). Unter diesen Umständen kann eine Nichtigkeit eines Teilbeschlusses gemäß § 522 Abs. 2 ZPO nicht angenommen werden. Eine Nichtigkeit ergibt sich auch nicht daraus, dass es an einer Teilbarkeit der Feststellungsklage und den widerklagend geltend gemachten Zahlungsansprüchen fehlt. Das Berufungsgericht mag rechtsfehlerhaft von einer solchen Teilbarkeit ausgegangen sein. Ein solcher einfacher Rechtsfehler führt jedoch nicht zur Nichtigkeit des Beschlusses.

6

II. Die gegen das Schlussurteil vom 16. Juli 2009 gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 544 Abs. 7 ZPO unter Aufhebung des angefochtenen Urteils im tenorierten Umfang zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

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1. Der Begründetheit der Nichtzulassungsbeschwerde steht zunächst nicht der im Wege der Gegenrüge des Klägers erhobene Einwand gegen die Zulässigkeit der Berufung der Beklagten entgegen. Zu Unrecht meint der Kläger insoweit, das Berufungsgericht habe nicht den Feststellungstenor des Urteils des Landgerichts aufheben und sodann (nur) den hilfsweise gestellten Feststellungsantrag des Klägers zusprechen dürfen, weil die Beklagten insoweit die Berufungsbegründungsfrist versäumt hätten.

8

Zutreffend ist allerdings, dass die Beklagten in der fristgerecht am 9. September 2008 eingegangenen Berufungsbegründung lediglich beantragt haben, das angefochtene Urteil dahin zu ändern, dass der Kläger gemäß den Widerklageanträgen verurteilt wird. Dass auch der stattgebende Feststellungstenor des landgerichtlichen Urteils bekämpft werden solle und die Klage insoweit abzuweisen sei, wird dort jedenfalls ausdrücklich nicht gesagt. Erst im nicht mehr fristgemäß am 12. September 2008 eingegangenen Schriftsatz werden die Berufungsanträge dahin "ergänzt", dass ausdrücklich "Abweisung der Klage" beantragt wird.

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Eine solche Erweiterung der Berufungsanträge ist allerdings bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zulässig, soweit die erweiterten Anträge durch die fristgerecht eingereichten Berufungsgründe (§ 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 bis 4 ZPO) gedeckt sind (BGH, Versäumnisurteil vom 6. Juli 2005 - XII ZR 293/02, NJW 2005, 3067; Musielak/Ball, ZPO, 7. Aufl., § 520 Rn. 25, jeweils mwN). So liegt der Fall auch hier. Die Beklagten haben sich in der fristgerecht eingereichten Berufungsbegründung umfassend gegen die Annahme des erstinstanzlichen Urteils gewandt, die Praxisgemeinschaft sei mit Ablauf des 30. September 2005 aufgelöst worden.

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2. Das Berufungsgericht hat bei seiner Annahme, in ergänzender Auslegung der in § 10 Abs. 1 und 2 des Praxisgemeinschaftsvertrages getroffenen Regelungen könne der Kläger die Praxisgemeinschaft mit den Beklagten verlassen, den Vortrag der Beklagten nur unvollständig zur Kenntnis genommen und eine sich nach diesem Vortrag in Verbindung mit den sonstigen unstreitigen Umständen aufdrängende Auslegung der Regelungen des Gesellschaftsvertrages nicht vorgenommen. Es hat damit den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

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a) Die Auslegung eines Vertrages ist zwar grundsätzlich Sache des Tatrichters und revisionsrechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter gesetzliche oder allgemein anerkannte Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungsgesetze verletzt oder wesentlichen Auslegungsstoff außer Acht gelassen hat (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 7. März 2005 - II ZR 194/03, ZIP 2005, 1068, 1069; BGH, Beschluss vom 14. Juni 2010 - II ZR 135/09, DB 2010, 1583 Rn. 7). Geht das Gericht bei der Auslegung vertraglicher Bestimmungen aber auf den wesentlichen Kern des Vortrags einer Partei nicht ein, lässt sich daraus schließen, dass es diesen Vortrag unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG nicht zur Kenntnis genommen hat. Dies rechtfertigt im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren die Aufhebung des Urteils und die Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht (BGH, Beschluss vom 14. Juni 2010 - II ZR 135/09, DB 2010, 1583 Rn. 7 mwN).

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b) Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall vor. Das Berufungsgericht hat den Vortrag der Beklagten übergangen, dass diese sich erst dann bereit erklärt hätten, das bebaute Nachbargrundstück in der L. straße zu kaufen, die Praxisfläche durch die Erweiterung auf das Nachbargrundstück nahezu zu verdoppeln und die Investitionen hierfür allein zu tragen, nachdem der Kläger sich verpflichtet habe, zumindest fünf Jahre lang die Praxisgemeinschaft mit den Beklagten zu betreiben. Denn wirtschaftlich tragfähig sei das Konzept nur für den Fall gewesen, dass der Kläger mindestens fünf Jahre lang die Praxiskosten im Rahmen der Praxisgemeinschaft mit trage und auch die vereinbarte Miete von 800 € im Monat zahle. Auch die in S. geltende Zulassungssperre für Internisten sei zu beachten: Weil S. mit Internisten überversorgt sei, erhielten junge Ärzte nur dann eine Kassenzulassung, wenn ein anderer Arzt auf seine Kassenzulassung verzichte. Deshalb hätten auf absehbare Zeit kaum Aussichten bestanden, anstelle des Klägers einen anderen Internisten in die Praxisgemeinschaft aufzunehmen, der die Kosten trage, für die der Kläger nach dem Praxisgemeinschaftsvertrag aufzukommen habe.

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3. Die Verletzung des Anspruchs der Beklagten auf rechtliches Gehör ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht dann, wenn es den Vortrag der Beklagten zur Kenntnis genommen hätte, zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass die Annahme von ungeregelten Kündigungs- oder sonstigen Lösungsrechten der Gesellschafter im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung vor Ablauf von fünf Jahren grundsätzlich nicht in Betracht kommt. Dies gilt umso mehr, als der vom Berufungsgericht übergangene Vortrag durch den Vertragstext selbst gestützt wird. So ist in § 5 Abs. 2 des Praxisgemeinschaftsvertrags festgehalten, dass "die Kosten des Umbaus des Hauses L. straße 14 bis zur schlüsselfertigen Herstellung sowie die Kosten der gleichzeitig durchzuführenden Renovierung der Praxisräume L. straße 12 im Rahmen der Erweiterung des Kellerarchivs und der Verbindung der Häuser L. straße 12 und 13 (die) Dres. H." übernehmen. In § 9 Abs. 2 des Vertrages ist eine ordentliche Kündigung innerhalb der ersten fünf Jahre nach Wirksamwerden des Praxisgemeinschaftsvertrages für alle Partner ausdrücklich ausgeschlossen worden.

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III. Der Senat weist für das neue Berufungsverfahren auf Folgendes hin.

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1. Zu Recht rügt die Nichtzulassungsbeschwerde, das Berufungsgericht habe sich in seiner tatrichterlichen Würdigung, wonach dem in § 10 Abs. 1 Praxisgemeinschaftsvertrag geregelten Fall der "Kündigung der Gesellschaft durch einen Partner" das "Ausscheiden eines Gesellschafters durch Vergleich" gleichstehe, ausschließlich auf § 10 Abs. 1 Gesellschaftsvertrag gestützt. Es habe dagegen unterlassen, neben den von den Beklagten vorgetragenen wirtschaftlichen Hintergründen der Kündigungsregelungen auch Wortlaut und Systematik der übrigen Vertragsbestimmungen in den Blick zu nehmen.

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a) Bereits der Wortlaut von § 10 Abs. 1 des Praxisgemeinschaftsvertrages spricht gegen die vom Berufungsgericht vorgenommene entsprechende Anwendung dieser Regelung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung. Denn dort ist der Fall der Kündigung der Gesellschaft und nicht die Beendigung der Mitgliedschaft eines Gesellschafters bei Fortbestehen der Gesellschaft geregelt. Den letztgenannten Fall regelt vielmehr § 10 Abs. 2 des Praxisgemeinschaftsvertrages ("Ausscheiden eines Gesellschafters durch Kündigung"), und dort ist von Lösungsrechten der anderen Gesellschafter gerade nicht die Rede.

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b) Auch die vom Berufungsgericht nicht erwähnte Vertragssystematik spricht gegen das Auslegungsergebnis eines Lösungsrechts des Klägers. § 10 Abs. 1 des Praxisgemeinschaftsvertrages regelt eine Rechtsfolge, nämlich die Niederlassungsfreiheit aller Partner im Falle der Beendigung der Gesellschaft durch (wirksame) Kündigung eines Partners. Die Voraussetzungsebene, also ein Kündigungsrecht, ist in § 10 des Praxisgemeinschaftsvertrages gar nicht geregelt; diese Vorschrift kann deshalb auch in ihrer entsprechenden Anwendung schwerlich ein Kündigungs- oder sonstiges Lösungsrecht begründen. Kündigungsrechte sind vielmehr in § 9 des Praxisgemeinschaftsvertrages normiert. Aus Abs. 2 dieser Regelung, nach dem eine ordentliche Kündigung innerhalb der ersten fünf Jahre nach Wirksamwerden des Praxisgemeinschaftsvertrages für alle Partner ausgeschlossen ist, ergibt sich, dass die Partner einen erheblichen Bestandsschutz der Partnerschaft wollten, was - wie dargelegt - jedenfalls vor dem Hintergrund des vom Berufungsgericht nicht berücksichtigten Vortrags der Beklagten zur Entstehungsgeschichte und zu dem wirtschaftlichen Hintergrund der Vereinbarung der Annahme von ungeschriebenen Lösungsrechten bereits im ersten Jahr des Bestehens der Praxisgemeinschaft entgegensteht.

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2. Das Auslegungsergebnis des Berufungsgerichts könnte außerdem deshalb dem Grundsatz der beiderseits interessengerechten Auslegung (vgl. dazu BGH, Urteil vom 3. April 2000 - II ZR 194/98, NJW 2000, 2099 mwN) widersprechen und damit auch nicht Ergebnis einer ergänzenden Vertragsauslegung sein, weil das Ausscheiden von Frau Dr. F. - und damit der Umstand, den das Berufungsgericht für ein Lösungsrecht des Klägers ausreichen lässt - letztlich Folge einer zwischen Dr. F. und dem Kläger selbst bereits im ersten Jahr des Bestehens der Praxisgemeinschaft, nämlich schon im Juli 2005 getroffenen und vom Landgericht auch festgestellten Vereinbarung gewesen sein könnte, die Gesellschaft gemeinsam zu verlassen, um eine eigene Praxisgemeinschaft zu gründen. Dieses Vorgehen wäre nur dann kein Verstoß gegen gesellschaftsvertragliche Pflichten, wenn sowohl Dr. F. als auch dem Kläger ein Kündigungsrecht zustand. Dies konnte nach den gesellschaftsvertraglichen Regelungen nur ein außerordentliches Kündigungsrecht sein (§ 9 Abs. 2 Praxisgemeinschaftsvertrag). Danach ist eine außerordentliche Kündigung auch innerhalb der Fünfjahresfrist möglich, allerdings mit der Rechtsfolge, dass derjenige Gesellschafter, der den Grund für die außerordentliche Kündigung gegeben hat, die Praxisgemeinschaft verlassen muss. Ob für Dr. F. ein wichtiger Grund zur außerordentlichen Kündigung gegeben war, hat das Landgericht ausdrücklich offen gelassen. Ein wichtiger Grund für ein außerordentliches Lösungsrecht des Klägers ist ebenfalls nicht ersichtlich. Er könnte allenfalls darin gesehen werden, dass Dr. F. im Vergleichswege die Gesellschaft verlassen hat. Das Berufungsgericht hat aber nicht festgestellt, dass die Fortsetzung der Gesellschaft mit den Beklagten für den Kläger durch diesen Umstand unzumutbar geworden wäre, wogegen auch sprechen könnte, dass der Kläger an dem Vergleich nicht beteiligt war, sich gegen das Ausscheiden von Dr. F. also hätte wehren können.

Strohn                              Caliebe                          Reichart

                  Löffler                               Born