Entscheidungsdatum: 20.01.2011
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Ulm vom 30. März 2010 wird auf Kosten des Gläubigers zurückgewiesen.
Beschwerdewert: 9.000 Euro.
I. Der Gläubiger betreibt aus einem Zuschlagsbeschluss des Amtsgerichts Göppingen vom 19. November 2008 die Räumungsvollstreckung gegen den Schuldner.
Der Schuldner hatte gegen die vom Gerichtsvollzieher auf den 22. April 2009 anberaumte Zwangsräumung Gewährung von Vollstreckungsschutz nach § 765a ZPO beantragt, weil bei ihm im Falle einer zwangsweise durchgeführten Räumung eine akute Suizidgefahr bestehe, die nur durch seinen Verbleib in dem zu räumenden Wohnhaus abgewendet werden könne. Das Vollstreckungsgericht hatte die Zwangsvollstreckung in Bezug auf das vom Schuldner genutzte Wohnhaus längstens bis zum 31. Juli 2009 eingestellt und dem Schuldner aufgegeben, sich in fachärztliche Behandlung zu begeben oder eine solche fortzuführen und die Aufnahme der Behandlung unverzüglich sowie den Verlauf bis zum 29. Mai 2009 durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Gläubigers war erfolglos geblieben. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde hatte der Gläubiger zunächst seinen Antrag auf Zurückweisung des vom Schuldner nachgesuchten Räumungsschutzes weiterverfolgt. Im Blick auf den Ablauf der vom Vollstreckungsgericht angeordneten Befristung des Vollstreckungsschutzes hatten die Parteien das Rechtsbeschwerdeverfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt. Der Senat hatte dem Gläubiger daraufhin nach § 91a ZPO die Kosten des Verfahrens auferlegt (BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - I ZB 34/09, WuM 2010, 250).
Der Gläubiger hat am 17. August 2009 angekündigt, die Räumungsvollstreckung intensiv weiter zu betreiben. Der Schuldner hat deshalb nach § 765a ZPO beantragt, die Räumungsvollstreckung über den 31. Juli 2009 hinaus einzustellen, weil im Falle einer zwangsweise durchgeführten Räumung nach wie vor Suizidgefahr bestehe, die - trotz der mittlerweile erfolgten fachärztlichen Behandlung - nur durch seinen Verbleib in dem Wohnhaus abzuwenden sei. Der Gläubiger ist der beantragten Gewährung von Räumungsschutz erneut entgegengetreten. Das Vollstreckungsgericht hat die Zwangsvollstreckung in Bezug auf das vom Schuldner genutzte Wohnhaus längstens bis zum 31. Januar 2011 eingestellt und dem Schuldner aufgegeben, sich weiterhin in ambulante bzw. erforderlichenfalls stationäre fachärztliche Behandlung zu begeben bzw. eine solche fortzuführen und dem Vollstreckungsgericht deren erfolgreichen ebenso wie deren erfolglosen Verlauf alle drei Monate beginnend mit dem 1. April 2010 durch Vorlage von fachärztlichen Bescheinigungen nachzuweisen, wobei die Bescheinigungen neben dem Fortschritt der Behandlung darüber Auskunft zu geben haben, welche Behandlung mit welchem Ziel und aus welchem Grund durchgeführt wird und wann der Schuldner jeweils vorstellig geworden ist. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde des Gläubigers ist erfolglos geblieben. Mit der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde verfolgt der Gläubiger in erster Linie seinen Antrag auf Zurückweisung des vom Schuldner nachgesuchten Räumungsschutzes weiter. Hilfsweise hat er beantragt, dem Schuldner aufzugeben, sich binnen zwei Wochen nach Zustellung des Rechtsbeschwerdebeschlusses in stationäre Behandlung - hilfsweise: sofort in ambulante Behandlung - nach der von Prof. Dr. L. entwickelten "Weisheitstherapie" zu begeben, die verordneten Medikamente einzunehmen und dies dem Vollstreckungsgericht durch Atteste nachzuweisen.
Mit seiner vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung der Schuldner beantragt, verfolgt der Gläubiger seinen Antrag auf Zurückweisung des Vollstreckungsschutzantrags weiter.
II. Die vom Beschwerdegericht zugelassene Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO). Ein Grund für die Zulassung der Rechtsbeschwerde ist zwar nicht ersichtlich; gleichwohl ist das Rechtsbeschwerdegericht an die Zulassung durch das Beschwerdegericht gebunden (§ 574 Abs. 3 Satz 2 ZPO). In der Sache hat die Rechtsbeschwerde jedoch keinen Erfolg, weil das Beschwerdegericht die sofortige Beschwerde gegen den Beschluss des Vollstreckungsgerichts vom 22. Februar 2010 rechtsfehlerfrei zurückgewiesen hat.
1. Die Vorschrift des § 765a ZPO ermöglicht den Schutz gegen Vollstreckungsmaßnahmen, die wegen ganz besonderer Umstände eine Härte für den Schuldner bedeuten, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Die Anwendung von § 765a ZPO kommt nur dann in Betracht, wenn im Einzelfall die Zwangsvollstreckungsmaßnahme nach Abwägung der beiderseitigen Belange zu einem untragbaren Ergebnis für den Schuldner führen würde (BGH, WuM 2010, 250 Rn. 7 mwN).
Ist mit einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Schuldners verbunden, so kann dies die Untersagung oder einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach § 765a ZPO rechtfertigen. Dabei ist aber stets eine Abwägung der Interessen des Schuldners mit den Vollstreckungsinteressen des Gläubigers vorzunehmen. Es ist zu berücksichtigen, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen. Es ist deshalb auch dann, wenn bei einer Räumungsvollstreckung eine konkrete Lebensgefahr für einen Betroffenen besteht, sorgfältig zu prüfen, ob dieser Gefahr nicht auf andere Weise als durch Einstellung der Zwangsvollstreckung wirksam begegnet werden kann. Dabei kann vom Schuldner erwartet werden, dass er alles ihm Zumutbare unternimmt, um Gefahren für Leben und Gesundheit möglichst auszuschließen (BGH, WuM 2010, 250 Rn. 8 mwN).
2. Nach diesen Grundsätzen ist die vom Vollstreckungsgericht angeordnete Einstellung der Zwangsvollstreckung, die das Beschwerdegericht unter Berücksichtigung der zum Entscheidungszeitpunkt bestehenden Tatsachengrundlage bestätigt hat, aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
a) Das Beschwerdegericht hat angenommen, die wirtschaftlichen Interessen des Gläubigers hätten auch deshalb zurückzustehen, weil er bislang keine konkrete Möglichkeit zu einem Nebeneinanderleben in dem Wohnhaus aufgezeigt habe. Er habe keine Pläne zur Abtrennung der Dachgeschosswohnung insbesondere im Blick auf Wasser, Strom und Heizung vorgelegt. Es sei auch nicht ersichtlich, ob er bereit wäre, die Umbaukosten zu tragen. Diese Beurteilung begegnet allerdings Bedenken.
Das Beschwerdegericht hat nicht geprüft, ob es den Parteien überhaupt zuzumuten ist, miteinander in dem Wohnhaus zu leben. Die Rechtsbeschwerde macht zutreffend geltend, der Gläubiger habe - vom Beschwerdegericht nicht berücksichtigte - Vorkommnisse vorgetragen, die darauf schließen lassen, dass es dem Schuldner nicht nur - wie in den Einstellungsverfahren behauptet - um das Wohnen in den von seinen Eltern übernommenen Räumen geht, sondern er sich vielmehr weiterhin als Eigentümer der Liegenschaft geriert. So ist er inzwischen rechtskräftig zur Unterlassung verurteilt worden, weil er aus dem zwangsgeräumten Sägemühlenbetrieb Holz entwendet, zersägt und verbrannt hat. Ferner hat er sich nach dem unbestrittenen Vortrag des Gläubigers eigenmächtig an der Heizungsanlage im Sägemühlengebäude zu schaffen gemacht und dabei einen Schaden von über 1.000 Euro verursacht. Es ist auch mit Blick auf diese Geschehnisse zu befürchten, dass eine Beschränkung der Räumungsverpflichtung auf einen Teil des Wohnhauses und ein Nebeneinanderleben der Parteien für beide Seiten belastend und unzumutbar ist.
Das Beschwerdegericht hat ferner nicht hinreichend berücksichtigt, dass es zunächst Sache des Räumungsschutz beanspruchenden Schuldners ist, darzulegen, dass die Voraussetzungen des § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO vorliegen und es unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine mit den guten Sitten nicht vereinbare Härte darstellt, wenn nicht ein Teil des zu räumenden Gebäudes von der Räumungsvollstreckung ausgenommen und ihm als Wohnung zur Verfügung gestellt wird. Dem Gläubiger, der einen titulierten Anspruch auf vollständige Räumung des gesamten Objektes hat, darf es daher grundsätzlich nicht zum Nachteil gereichen, dass er keine Pläne zur Abtrennung der Dachgeschosswohnung vorgelegt und sich nicht zur Übernahme der Umbaukosten bereit erklärt hat.
b) Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung maßgeblich auf das Gutachten der Sachverständigen Dr. O. vom 30. November 2009 gestützt. Es hat ausgeführt, die Sachverständige komme in ihrem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass im Falle einer zwangsweise durchgeführten Räumung weiterhin mit einer Selbsttötung des Schuldners zu rechnen sei, weil er aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur und ausgeprägten Kränkbarkeit und Verbitterung nicht in der Lage sei, anders mit der Situation fertig zu werden. Verbitterung und subjektiv empfundenes Unrechtsgefühl hätten sich derart verfestigt und verstärkt, dass man bei einer suizidalen Reaktion derzeit wohl nicht mehr von einer freien Willensentscheidung sprechen könne. Behandlungsansätze biete die kognitive Verhaltenstherapie, die darauf abziele, dass der betroffene Patient das kränkende Erlebnis aufarbeiten, sich davon distanzieren und neue Lebensperspektiven aufbauen könne. Es lasse sich allerdings nicht voraussagen, ob eine solche Behandlung erfolgreich sei. Mit einem Erfolg sei erst nach einer Behandlungsdauer von mindestens einem Jahr zu rechnen. Diese Beurteilung, die die Einstellung der Räumungsvollstreckung selbständig trägt, hält einer rechtlichen Nachprüfung stand.
Die Rechtsbeschwerde macht ohne Erfolg geltend, das Beschwerdegericht habe nicht berücksichtigt, dass der Schuldner nicht alles ihm Zumutbare unternommen habe, um seine neurotische Störung zu beseitigen oder ihr entgegenzuwirken. Nach dem Gutachten der Sachverständigen Dr. O. und den Attesten des den Schuldner behandelnden Arztes Dr. G. sei eine kontinuierliche Behandlung erforderlich. Von einer solchen Behandlung könne nach den Feststellungen des Beschwerdegerichts und dem Vorbringen des Schuldners bisher keine Rede sein. Dr. O. habe wöchentliche Therapiestunden für erforderlich erachtet. Dr. G. bescheinige dem Schuldner aber lediglich, dass er sich in regelmäßigen Abständen von bis zu sechs Wochen in seiner Ambulanz vorstelle. Dr. G. habe dem Schuldner ein Antidepressivum verschrieben. Nach seinen eigenen Angaben nehme der Schuldner das Medikament aber nur bei Bedarf als Schlafmittel ein.
Selbst wenn der Schuldner - wie die Rechtsbeschwerde behauptet - nicht ausreichend an einer konsequenten Behandlung seiner neurotischen Störung mitgewirkt haben sollte, ist es aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass das Vollstreckungsgericht die Räumungsvollstreckung mit Blick auf die von der Sachverständigen Dr. O. festgestellte konkrete Gefahr einer für den Fall einer Zwangsräumung zu befürchtenden Selbsttötung des Schuldners erneut unter Auflagen eingestellt hat, die das Ziel haben, die von der Sachverständigen aufgezeigten Behandlungsmöglichkeiten zu nutzen. Da eine Behandlung des Schuldners nach Einschätzung der Sachverständigen frühestens nach einer Behandlungsdauer von einem Jahr erfolgreich sein kann, begegnet es auch keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass das Vollstreckungsgericht die Räumungsvollstreckung für weitere sechs Monate eingestellt hat. Soweit die Rechtsbeschwerde - in anderem Zusammenhang - geltend macht, das Grundrecht des Schuldners aus Art. 2 Abs. 1 GG auf Leben und körperliche Unversehrtheit sei nicht tangiert, wenn ein gesunder Mensch, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sei, bewusst und gezielt mit Selbsttötung drohe, um einer durch Hoheitsakt eingetretenen Rechtsfolge nicht nachzukommen, lässt sie außer Betracht, dass der Schuldner nach Auffassung der Sachverständigen Dr. O. nicht in der Lage ist, auf eine Zwangsräumung anders als mit Selbsttötung zu reagieren.
c) Es lässt unter diesen Umständen auch keinen Rechtsfehler erkennen, dass das Beschwerdegericht dem Schuldner nicht aufgegeben hat, sich in stationäre Behandlung zu begeben und ihm auch keine weitergehenden Auflagen für eine ambulante Behandlung gemacht hat. Nach den Feststellungen der Sachverständigen Dr. O. hat die bisherige Behandlung des Schuldners in der gerontopsychiatrischen Ambulanz der Klinik Christophsbad Göppingen zwar bislang zu keiner Verbesserung geführt. Vielmehr ist nach Auffassung der Sachverständigen sogar eine Verschlechterung der neurotischen Störungen des Schuldners eingetreten. Dennoch hat die Sachverständige eine Unterbringung des Schuldners allenfalls zur kurzfristigen Gefahrenabwehr für geeignet erachtet und weiterhin eine - nur bei längerer Behandlungsdauer möglicherweise erfolgreiche - ambulante Behandlung mit wöchentlichen Terminen für erforderlich gehalten. Das Vollstreckungsgericht wird allerdings nunmehr nach einer erneuten Begutachtung des Schuldners auch für den Fall, dass ein Behandlungserfolg nicht eingetreten sein sollte, eine Fortsetzung der Vollstreckung ernsthaft in Erwägung ziehen müssen. Dabei wird es zu berücksichtigen haben, ob der Schuldner selbst das ihm Zumutbare getan hat, um die Risiken, die für ihn im Falle der Vollstreckung bestehen, zu verringern (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Mai 2005 - I ZB 10/05, NJW 2005, 1859, 1860).
Bornkamm Pokrant Büscher
Schaffert Koch