Entscheidungsdatum: 31.01.2012
1. NV: Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Steuerpflichtigen dürfen keine Steuerbescheide und auch keine Haftungsbescheide mehr gegen diesen ergehen. Das FA muss Steuerforderungen vielmehr nach den Regeln der Insolvenzordnung geltend machen.
2. NV: Es ist ernstlich zweifelhaft, ob § 80 Abs. 1 InsO einer Klage des Insolvenzschuldners entgegensteht, mit der er geltend macht, das FA habe rechtswidrig nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens einen Haftungsbescheid gegen ihn erlassen.
3. NV: Es ist ernstlich zweifelhaft, ob das Warten auf das Ende eines strafrechtlichen Prozesses ein zureichender Grund i.S.d. § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist, über den Rechtsbehelf nicht zu entscheiden, wenn der Steuerpflichtige geltend macht, die zu Grunde liegenden Bescheide seien nichtig.
I. Über das Vermögen des Antragstellers wurde am 10. Dezember 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet. Am 22. Juni 2010 erließ der Antragsgegner (das Finanzamt --FA--) einen Haftungsbescheid. Gegen diesen Haftungsbescheid erhob der Antragsteller Einspruch, über den das FA mit der Begründung nicht entschied, es müssten noch strafrechtliche Ermittlungen abgewartet werden. Auch über den Antrag, die Vollziehung des Haftungsbescheids auszusetzen, entschied das FA nicht. Die dagegen gerichtete Klage, mit der der Antragsteller u.a. geltend gemacht hatte, der Haftungsbescheid sei unter Verletzung des § 87 der Insolvenzordnung (InsO) ergangen, wies das Niedersächsische Finanzgericht (FG) mit Urteil vom 17. Juni 2011 11 K 70/11 als unzulässig ab. Der Antragsteller sei nicht prozessführungsbefugt. Selbst wenn man dies anders sähe, wäre die Klage als Untätigkeitsklage unzulässig, weil das FA dem Antragsteller einen zureichenden Grund mitgeteilt habe, weshalb es bislang nicht über den Einspruch entschieden habe. Einen Antrag auf Aussetzung des streitgegenständlichen Haftungsbescheids lehnte das FG mit der Begründung ab, dem Antragsteller fehle die Antragsbefugnis. Gegen das Urteil des FG hat der Antragsteller Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision erhoben. Mit Beschluss vom 7. Dezember 2011 hat der Senat die Revision zugelassen. Der Antragsteller hat ferner beantragt, die Vollziehung des Haftungsbescheids vom 22. Juni 2010 auszusetzen.
Das FA beantragt, den Aussetzungsantrag zurückzuweisen. Es habe dem Antragsteller auf seinen Antrag vom 2. Juli 2010 auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) des Haftungsbescheids mitgeteilt, dass Vollstreckungsmaßnahmen aus dem angefochtenen Haftungsbescheid heraus gegenwärtig nicht erfolgten. Das Schreiben habe Verwaltungsaktqualität. Sein Regelungsinhalt gelte unverändert.
II. Der Antrag ist begründet. Die Vollziehung des Haftungsbescheids vom 22. Juni 2010 ist antragsgemäß auszusetzen.
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll u.a. erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechende Umstände gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung seit dem Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182; Senatsbeschluss vom 8. April 2009 I B 223/08, BFH/NV 2009, 1437). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl. BFH-Beschluss vom 22. März 2005 II B 14/04, BFH/NV 2005, 1379, m.w.N.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (vgl. dazu Gosch in Beermann/Gosch, FGO § 69 Rz 123, m.w.N.).
Der Antrag nach Abs. 3 ist nur zulässig, wenn die Behörde einen Antrag auf AdV ganz oder zum Teil abgelehnt hat (§ 69 Abs. 4 Satz 1 FGO). Das gilt jedoch nicht, wenn die Finanzbehörde über den Antrag ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes in angemessener Frist sachlich nicht entschieden hat (§ 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 FGO).
2. Die Zugangsvoraussetzungen des § 69 Abs. 4 FGO sind erfüllt. Das FA hat über den AdV-Antrag des Antragstellers vom 2. Juli 2010 bis heute nicht entschieden, ohne hierfür einen zureichenden Grund mitzuteilen. Die dem Antragsteller mit Schreiben vom 27. Oktober 2010 gegebene Erläuterung, Vollstreckungsmaßnahmen aus dem angefochtenen Haftungsbescheid seien nicht zu gewärtigen, ist keine Mitteilung eines zureichenden Grundes i.S. des § 69 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 FGO. Auch die im Einspruchsverfahren gegebene Begründung, es solle vor abschließender Entscheidung über den Einspruch die strafgerichtliche Entscheidung abgewartet werden, ist kein zureichender Grund. Denn sollen durch ein strafgerichtliches Verfahren erst noch Erkenntnisse gewonnen werden, besteht Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen und eine AdV ist geboten. Ist der Sachverhalt hingegen aufgeklärt, besteht kein Grund, den Abschluss des Strafverfahrens abzuwarten. Der Antragsteller mag zwar seinen Einspruch und seinen Antrag auf AdV zunächst nicht hinreichend begründet haben; spätestens im Klageverfahren hat er aber dargetan, dass und weswegen er den gegen ihn erlassenen Haftungsbescheid für rechtswidrig bzw. unwirksam hält. Spätestens ab diesem Zeitpunkt bestand kein Grund mehr, über den Antrag auf AdV nicht zu entscheiden. Vielmehr wäre es wegen des Eilcharakters des Aussetzungsverfahrens geboten gewesen, über den AdV-Antrag zügig, maximal innerhalb eines Vierteljahres, zu entscheiden (Gosch in Beermann/Gosch, FGO § 69 Rz 285).
3. Die Vollziehung des Haftungsbescheids vom 22. Juni 2010 ist antragsgemäß auszusetzen.
a) Insolvenzgläubiger können gemäß § 87 InsO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ihre Insolvenzforderungen i.S. von § 38 InsO und damit ihre zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner begründeten Vermögensansprüche nur nach den Vorschriften über das Insolvenzverfahren verfolgen. Dementsprechend dürfen nach der ständigen BFH-Rechtsprechung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Steuerpflichtigen keine Steuerbescheide und auch keine Haftungsbescheide (vgl. BFH-Urteil vom 7. März 2006 VII R 11/05, BFHE 212, 11, BStBl II 2006, 573) mehr gegen diesen ergehen. Das FA muss seine Steuerforderungen vielmehr nach den Regeln der InsO geltend machen (vgl. Senatsurteile vom 10. Dezember 2008 I R 41/07, BFH/NV 2009, 719; vom 18. Dezember 2002 I R 33/01, BFHE 201, 392, BStBl II 2003, 630; BFH-Urteile vom 4. Mai 2004 VII R 45/03, BFHE 205, 409, BStBl II 2004, 815, jeweils m.w.N.; zuletzt vom 24. August 2011 V R 53/09, BFHE 235, 5. Gleichwohl nach Insolvenzeröffnung erlassene Steuerbescheide sind unwirksam (Senatsurteile in BFHE 201, 392, BStBl II 2003, 630; in BFH/NV 2009, 719; BFH-Urteil in BFHE 205, 409, BStBl II 2004, 815).
b) Nach § 80 Abs. 1 InsO verliert der Schuldner mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Befugnis, sein zur Insolvenzmasse gehörendes Vermögen zu verwalten und über dasselbe zu verfügen. Gleichzeitig geht das Verwaltungs- und Verfügungsrecht auf den Insolvenzverwalter über. Mit dem Verwaltungs- und Verfügungsrecht erhält der Insolvenzverwalter die Befugnis, die Insolvenzmasse betreffende Prozesse zu führen. Im Prozess hat der Insolvenzverwalter kraft gesetzlicher Prozessstandschaft die uneingeschränkte Prozessführungsbefugnis unter Ausschluss des Schuldners. Der Schuldner ist nicht prozessführungsbefugt (BFH-Beschluss vom 26. Juli 2004 X R 30/04, BFH/NV 2004, 1547, m.w.N.; BFH-Urteil vom 6. Juli 2011 II R 34/10, BFH/NV 2012, 10).
c) Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners ist jedoch nur hinsichtlich des massebefangenen Vermögens eingeschränkt. Macht der Insolvenzschuldner geltend, Steuerbescheide seien unter Verletzung des § 87 InsO nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens an ihn zugestellt worden, macht er keinen Anspruch hinsichtlich des zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögens geltend; er rügt vielmehr nur die mangelnde Einhaltung der Regelungen der InsO. Es ist ernstlich zweifelhaft, dass der Schuldner in einem solchen Fall keine Befugnis haben soll, die Bescheide anzufechten und Anfechtungsklage bzw. Nichtigkeitsklage gemäß § 41 Abs. 2 Satz 2 FGO (zur alternativen Möglichkeit von Feststellungs- und Anfechtungsklage vgl. von Beckerath in Beermann/Gosch, FGO § 41 Rz 80 f., m.w.N.) erheben und die Beseitigung des Rechtsscheins, der von dem nichtigen Haftungsbescheid ausgeht, zu verlangen (vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 31. August 2007 8 B 134/07). Auch der Bundesgerichtshof billigt in dem vergleichbaren Fall, in dem die Verfahrensunterbrechung durch die Insolvenzeröffnung nicht beachtet wird, dem Insolvenzschuldner ebenso wie dem Insolvenzverwalter ein eigenes Klagerecht zu (Urteile vom 16. Januar 1997 IX ZR 220/96, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 1997, 1445; vom 21. Juni 1995 VIII ZR 224/94, NJW 1995, 2563).
d) Ob das Warten auf das Ende eines strafrechtlichen Prozesses ein zureichender Grund i.S. des § 46 Abs. 1 Satz 1 FGO ist, wenn der Steuerpflichtige geltend macht, die zu Grunde liegenden Bescheide seien nichtig, ist ebenfalls ernstlich zweifelhaft. Denn es ist nicht ersichtlich, inwieweit sich aus einem Strafverfahren weitere Erkenntnisse darüber gewinnen lassen könnten, ob dieser Einwand zutrifft oder nicht. Ohnehin käme es darauf nicht an, wenn die Auslegung des Klagebegehrens ergeben sollte, dass der Antragsteller neben der Anfechtungsklage hilfsweise die Feststellung der Nichtigkeit des Haftungsbescheids begehrt hat.