Entscheidungsdatum: 01.02.2012
Ein im Ausland realisierter Verlust aus der Veräußerung oder Aufgabe eines Betriebs, der abkommensrechtlich in Deutschland nur bei der Festsetzung des Steuersatzes (sog. Progressionsvorbehalt) zu berücksichtigen ist, unterfällt nicht der sog. Fünftel-Methode für außerordentliche Einkünfte.
I. Streitig ist, ob sich der Verlust aus der Veräußerung einer in der Schweiz betriebenen Arztpraxis nach § 32b Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes in der im Streitjahr 2006 geltenden Fassung (EStG 2002) nur zu einem Fünftel oder in vollem Umfang steuersatzmindernd auswirkt.
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), die im Streitjahr ihren Wohnsitz zeitweise im Inland hatten, wurden vom Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt --FA--) als Eheleute zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Zum 1. April 2006 veräußerten sie ihre bis zu diesem Zeitpunkt in A betriebene zahnärztliche Gemeinschaftspraxis (Veräußerungsgewinn: ... €). Zuvor (am 1. Februar 2006) eröffneten sie eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis in B (Schweiz). Diese Praxis gaben sie zum 30. September 2006 wieder auf (Veräußerungsverlust: umgerechnet ... €), um anschließend wieder eine entsprechende Tätigkeit in A auszuüben.
Das FA, das den Veräußerungsgewinn einer begünstigten Besteuerung (§ 34 EStG 2002) unterwarf, berücksichtigte den Veräußerungsverlust im Rahmen des sog. negativen Progressionsvorbehalts unter Hinweis auf § 32b Abs. 1 Nr. 3 und Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 abweichend von der Rechtsauffassung der Kläger nur zu einem Fünftel. Die gegen diese Steuerfestsetzung erhobene Klage war erfolgreich (Finanzgericht --FG-- Münster, Urteil vom 18. März 2011 4 K 3477/09 E, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2011, 1705).
Das FA rügt die Verletzung materiellen Rechts und beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das FG hat ohne Rechtsfehler den ausländischen Veräußerungsverlust bei der Ermittlung des Steuersatzes vollen Umfangs berücksichtigt.
1. Die Kläger waren in den Zeitabschnitten des Streitjahres, in denen sie einen inländischen Wohnsitz innehatten, gemäß § 1 Abs. 1 EStG 2002 unbeschränkt steuerpflichtig. Damit war für das Streitjahr eine (Ehegatten-)Veranlagung zur Einkommensteuer durchzuführen (§ 2 Abs. 7 Satz 2 EStG 2002; § 26 Abs. 1 Satz 1, § 26b EStG 2002). Abkommensrechtlich waren die Kläger den Zeitabschnitten der unbeschränkten Steuerpflicht im Inland entsprechend auch in der Bundesrepublik Deutschland ansässig (Art. 4 Abs. 1 i.V.m. Abs. 5 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 11. August 1971, BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 512, in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 21. Dezember 1992, BGBl II 1993, 1888, BStBl I 1993, 928, --DBA-Schweiz 1971/1992--). Die in der Schweiz während der dortigen Ansässigkeit erzielten Einkünfte aus der zahnärztlichen Tätigkeit einschließlich der Einkünfte aus der Praxisveräußerung unterlagen dem Besteuerungsrecht der Schweiz (Art. 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 DBA-Schweiz 1971/1992). Diese Einkünfte sind nach Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 Buchst. c DBA-Schweiz 1971/1992 nicht in die Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer einzubeziehen, sie sind aber bei der Festsetzung des inländischen Steuersatzes zu berücksichtigen (Art. 24 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 DBA-Schweiz 1971/1992). Dies gilt auch für negative Einkünfte; ein Ausschluss auf der Grundlage des § 2a EStG 2002 (zur Anwendung im Bereich des sog. Progressionsvorbehalts z.B. Senatsurteile vom 12. Januar 2011 I R 35/10, BFHE 232, 432, BStBl II 2011, 494; vom 10. August 2011 I R 45/10, BFHE 234, 412) kommt im Streitfall nicht in Betracht. Im Übrigen steht der Anwendung des Progressionsvorbehalts nicht entgegen, dass die ausländischen --nicht der beschränkten Steuerpflicht unterfallenden-- Einkünfte in Zeitabschnitten des Veranlagungszeitraums bezogen wurden, in denen keine unbeschränkte Steuerpflicht bestand (Senatsurteile vom 19. Dezember 2001 I R 63/00, BFHE 197, 495, BStBl II 2003, 302; vom 15. Mai 2002 I R 40/01, BFHE 199, 224, BStBl II 2002, 660; vom 19. November 2003 I R 19/03, BFHE 204, 155, BStBl II 2004, 549). Dies alles ist zwischen den Beteiligten nicht streitig und bedarf keiner weiteren Erörterung.
2. Die abkommensrechtlich zugelassene Einbeziehung der (negativen) Einkünfte bei der Festsetzung des inländischen Steuersatzes erfolgt im Wege des sog. Progressionsvorbehalts. Dabei ist der Veräußerungsverlust bei der Ermittlung des sog. Steuersatzeinkommens in vollem Umfang mindernd zu berücksichtigen; außerordentliche Einkünfte, die insoweit nach § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 nur zu einem Fünftel anzusetzen sind, liegen nicht vor.
a) Nach § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG 2002 ist für einen Steuerpflichtigen, der zeitweise oder während des gesamten Veranlagungszeitraums unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist, auf das nach § 32a Abs. 1 EStG 2002 zu versteuernde Einkommen u.a. dann ein besonderer Steuersatz anzuwenden, wenn er Einkünfte bezogen hat, die nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung unter dem Vorbehalt der Einbeziehung bei der Berechnung der Einkommensteuer steuerfrei sind. Der besondere Steuersatz ist in diesem Fall der Steuersatz, der sich ergibt, wenn bei der Berechnung der Einkommensteuer das nach § 32a Abs. 1 EStG 2002 zu versteuernde Einkommen vermehrt oder vermindert wird um die steuerfrei bezogenen ausländischen Einkünfte, wobei die darin enthaltenen außerordentlichen Einkünfte mit einem Fünftel zu berücksichtigen sind (§ 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002).
b) Das FG hat ohne Rechtsfehler darauf erkannt, dass der in der Schweiz erzielte und im Inland steuerfrei gestellte Veräußerungsverlust den Einkünftebegriff des § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 erfüllt und nicht zugleich als außerordentliche Einkunft anzusehen ist.
aa) Der in § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 angeführte Begriff der Einkünfte bezieht sich auf den Regelungsinhalt des § 2 Abs. 2 EStG 2002 und erfasst damit sowohl Gewinne/Überschüsse als auch Verluste aus den in § 2 Abs. 1 EStG 2002 aufgezählten Einkunftsarten (s. Senatsurteil vom 8. Februar 1995 I R 17/94, BFHE 177, 79, BStBl II 1995, 692; Senatsbeschluss vom 15. Mai 2002 I B 73/01, BFH/NV 2002, 1295). Ein bei der Veräußerung einer zahnärztlichen Praxis erzielter Verlust ist den freiberuflichen Einkünften zuzuordnen (§ 18 Abs. 3 i.V.m. § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG 2002). Diese Einkünfte sind auch Gegenstand der abkommensrechtlichen Steuerfreistellung.
bb) Der Gesetzeswortlaut des § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG 2002 definiert den Begriff der außerordentlichen Einkünfte nicht. Es ist aber davon auszugehen, dass alle im Einkommensteuergesetz als solche bezeichneten außerordentlichen Einkünfte angesprochen sind. Denn wörtlich übereinstimmende Begriffe innerhalb desselben Steuergesetzes sind sachlich identisch. Das hat der Senat in seinem Urteil vom 9. Juni 1993 I R 81/92 (BFHE 171, 388, BStBl II 1993, 790) zur Gesetzesfassung des § 32b EStG 1972, mit der bis zum Inkrafttreten des Steuersenkungsgesetzes vom 23. Oktober 2000 (BGBl I 2000, 1433, BStBl I 2000, 1428) steuerfreie ausländische außerordentliche Einkünfte ausdrücklich von einer Berücksichtigung ausgenommen wurden, entschieden. Dies gilt für die hier maßgebende Gesetzesfassung unverändert. Die nachfolgende Gesetzesänderung zur aktuellen Fassung des § 32b EStG 2002 hat nur die Rechtsfolge geändert, ohne den Begriffsinhalt des Tatbestands zu berühren. Mit der Änderung sollte nach der Begründung des Gesetzentwurfs zum Steuersenkungsgesetz dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen (auch) durch diese (außerordentlichen) Einkünfte gesteigert wird (vgl. BTDrucks 14/2683, S. 115), was eine Einbeziehung in den Progressionsvorbehalt rechtfertigen konnte. Allerdings sollte in Anlehnung an die sog. Fünftel-Regelung für außerordentliche inländische Einkünfte gemäß § 34 EStG auch im Rahmen des § 32b EStG sichergestellt werden, dass durch die Einbeziehung jener ausländischen Einkünfte keine übermäßige Progressionsverschärfung eintreten würde (BTDrucks 14/2683, S. 115; s.a. die Äußerung des Finanzausschusses in BTDrucks 14/3366, S. 119).
cc) Ein Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 und des § 18 Abs. 3 EStG 2002 unterfällt als außerordentliche Einkunft (s. insoweit § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG 2002) der Begünstigung des § 34 Abs. 1 EStG 2002, da es durch die Vollrealisierung der stillen Reserven in typisierter Weise zu einer Zusammenballung von Ergebnissen mehrerer Jahre kommt. Insoweit ist es sachgerecht, infolge einer progressiven Besteuerung eintretende (jedenfalls typisiert anzunehmende) Härten in dieser Situation abzumildern (Senatsurteil vom 12. März 1975 I R 180/73, BFHE 115, 261, BStBl II 1975, 485; s.a. Drenseck in Schmidt, EStG, 30. Aufl., § 34 Rz 12; Mellinghoff in Kirchhof, EStG, 10. Aufl., § 34 Rz 8 f.). Diese Sonderregelung (Tarifermäßigung) bezieht sich nach dem Regelungsgegenstand aber nur auf einen Gewinn (positive Einkünfte). Ein Veräußerungsverlust, der progressionsbedingte Steuermehrbelastungen nicht auslösen kann, ist --jedenfalls soweit nicht in demselben Veranlagungszeitraum auch ein Veräußerungsgewinn als (weitere) außerordentliche Einkunft erzielt wurde (offengelassen im Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 29. März 2001 VIII B 90/00, BFH/NV 2001, 1279)-- für den Regelungsbereich einer Tarifermäßigung nicht relevant (z.B. Senatsurteile vom 11. April 1990 I R 163/87, BFHE 160, 500, BStBl II 1990, 783; in BFHE 177, 79, BStBl II 1995, 692; s.a. Wagner in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 32b EStG Rz 81).
dd) Diese aus § 34 EStG 2002 ableitbare Struktur hat der Gesetzgeber durch die Verwendung der entsprechenden Begrifflichkeit auf § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002 übertragen. Dazu hat er aus der zur Ermittlung des sog. Steuersatzeinkommens beim Progressionsvorbehalt (Senatsurteil vom 6. Oktober 1993 I R 32/93, BFHE 172, 385, BStBl II 1994, 113) maßgebenden Größe "Einkünfte" die "außerordentlichen Einkünfte" separiert, um sie zur Abmilderung der Auswirkungen des progressiven Tarifs nur zu einem Bruchteil (wie ebenfalls in § 34 EStG 2002) zu erfassen. Diese Rechtsfolge bezieht sich aber dann auch parallel zu § 34 EStG 2002 nicht auf negative Einkünfte (so auch Frenz in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 32b Rz E 24; Lambrecht in Kirchhof, a.a.O., § 32b Rz 22; Wagner in Blümich, a.a.O., § 32b EStG Rz 81; Dankmeyer in Frotscher, EStG, § 32b Rz 93; a.A. Probst in Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 32b EStG Rz 132; Handzik in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 32b Rz 122; Naujok in Lademann, EStG, § 32b Rz 62).
ee) Es besteht kein Rechtsgrundsatz des Inhalts, dass die Betriebsveräußerung als außerordentlicher Geschäftsvorfall unabhängig vom erzielten Ergebnis (Gewinn/Verlust) in unterschiedlichen Regelungsbereichen (hier einerseits die Abmilderung der Wirkung des progressiven Steuertarifs gemäß § 34 EStG 2002, andererseits die Steuersatzberechnung gemäß § 32b EStG 2002) einer einheitlichen Beurteilung unterliegen muss. Die ermäßigte Besteuerung des Veräußerungsgewinns im Inland erzwingt daher nicht die von der Revision bevorzugte Auslegung des § 32b Abs. 2 Nr. 2 EStG 2002. Vielmehr ist der ausländische (steuerfreie) Veräußerungsverlust entsprechend dem Regelungswortlaut vollen Umfangs im Rahmen des sog. negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen.