Entscheidungsdatum: 29.09.2017
1. NV: Das FG-Urteil ist wegen eines wesentlichen Verfahrensfehlers aufzuheben, wenn in ihm über den mit der Klage angefochtenen Feststellungsbescheid und nicht über den zwischen Urteilsverkündung und Urteilszustellung ergangenen Änderungsbescheid entschieden wurde und dieser Änderungsbescheid einen neuen Streitpunkt geschaffen hat .
2. NV: Ein unter Nichtbeachtung des § 68 Satz 2 FGO eingelegter Einspruch gegen den zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Änderungsbescheid ist unzulässig .
Auf die Beschwerde der Beschwerdeführer wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 8. Dezember 2015 5 K 2704/12 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
I.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin zu 1. (Beschwerdeführerin), eine auf dem Gebiet des Goldhandels tätige Gesellschaft bürgerlichen Rechts, und die Beschwerdeführer zu 2. bis 18., deren Gesellschafter, begehrten vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) die Feststellung von nach einem Doppelbesteuerungsabkommen steuerfreien negativen Einkünften zum Zwecke der Anwendung des besonderen Steuersatzes (Progressionsvorbehalt).
Dies wurde vom FA abgelehnt. Einspruch und Klage gegen den Feststellungsbescheid für das Jahr 2010 (Streitjahr) vom 13. Juli 2012 blieben erfolglos.
Das Urteil des Finanzgerichts (FG) Baden-Württemberg vom 8. Dezember 2015 5 K 2704/12 wurde noch am Tage der mündlichen Verhandlung gemäß § 104 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) durch Verlesen der Urteilsformel verkündet. Vor der Zustellung des schriftlichen Urteils an die Beteiligten im Mai 2016 änderte das FA unter dem Datum des 28. Dezember 2015 den Bescheid vom 13. Juli 2012 gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung. Erstmals wurden positive steuerpflichtige Einkünfte gemäß § 23 des Einkommensteuergesetzes festgestellt und entsprechend den Beteiligungsquoten auf die Gesellschafter verteilt. Der Änderungsbescheid enthielt in der Rechtsbehelfsbelehrung einen Hinweis auf die Regelung des § 68 FGO und den gesetzlichen Ausschluss des Einspruches. Die Kläger legten vorsorglich Einspruch gegen den Bescheid vom 28. Dezember 2015 ein.
Das FA übermittelte dem FG entgegen § 68 Satz 3 FGO keine Abschrift des Änderungsbescheids.
Mit ihrer fristgerecht nach Urteilszustellung eingelegten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beantragen die Beschwerdeführer u.a. die Aufhebung des FG-Urteils und die Zurückverweisung der Sache wegen der verbösernden Änderung des angegriffenen Bescheids nach Urteilsverkündung.
Das FA beantragt, die Revision zuzulassen. Seines Erachtens ist das FG-Urteil verfahrensfehlerhaft ergangen, weil eine Entscheidung über einen nicht mehr bestehenden Bescheid getroffen worden sei. Das Urteil sei daher von den Beschwerdeführern zu Recht mit der Nichtzulassungsbeschwerde angegriffen worden.
II.
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG gemäß § 116 Abs. 6 FGO.
1. Das FG hat über den zunächst mit der Klage angefochtenen Feststellungsbescheid vom 13. Juli 2012 entschieden und nicht über den erst während des Klageverfahrens ergangenen und gemäß § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Änderungsbescheid vom 28. Dezember 2015. Darin liegt ein --für das FG nicht erkennbarer-- wesentlicher Verfahrensfehler i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 23. Dezember 2004 XI B 60/03, BFH/NV 2005, 1311; vom 13. Februar 2007 XI B 90/06, BFH/NV 2007, 1154; vom 3. April 2009 III B 125/08, juris; vom 2. Dezember 2013 III B 157/12, BFH/NV 2014, 545; Schallmoser in Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 68 FGO Rz 98).
a) § 68 FGO war im Streitfall unmittelbar anzuwenden, da das Beschwerdeverfahren wegen Nichtzulassung der Revision, in dem § 68 FGO grundsätzlich analog anzuwenden ist (z.B. BFH-Beschluss vom 6. Februar 2014 VIII B 43/13, BFH/NV 2014, 711, m.w.N.), zum Zeitpunkt der Bescheidänderung noch nicht eingeleitet und der Rechtsstreit folglich noch bei der ersten Instanz anhängig war. Dass das FG selbst bei Kenntnis über die Bescheidänderung das bereits verkündete und damit bindende Urteil nicht mehr an die geänderte Bescheidlage hätte anpassen dürfen (Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 104 Rz 2; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 104 FGO Rz 12), ändert an der Geltung des § 68 FGO nichts (s. BFH-Urteil vom 22. Januar 2013 IX R 18/12, BFH/NV 2013, 1094, zur vergleichbaren Situation der Bescheidänderung zwischen geschlossener mündlicher Verhandlung und Urteilszustellung); ebenso bleibt hiervon unberührt, dass das FG-Urteil einen nicht mehr existenten Bescheid betrifft.
b) § 127 FGO, der in direkter Anwendung im Falle einer während des Revisionsverfahrens und in analoger Anwendung im Falle einer während des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens erfolgten Bescheidänderung gemäß § 68 FGO die Urteilsaufhebung und Zurückweisung der Sache ermöglicht (vgl. Gräber/Ratschow, a.a.O., § 127 Rz 4), kommt entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer nicht zur Anwendung, weil, wie ausgeführt, der ursprünglich angegriffene Bescheid bereits mehrere Monate vor Anhängigkeit des Rechtsmittelverfahrens geändert wurde.
2. Soweit in der Rechtsprechung des BFH davon ausgegangen wird, dass das Übersehen, das Nichtberücksichtigen oder, wie im Streitfall, das nach Urteilsverkündung eingetretene Nicht-Mehr-Berücksichtigen-Dürfen der Änderung des Verfahrensgegenstands ausnahmsweise unbeachtlich ist, wenn der Änderungsbescheid keinen neuen Streitpunkt geschaffen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 29. August 2003 II B 70/03, BFHE 203, 174, BStBl II 2003, 944; vom 14. August 2009 II B 43/09, BFH/NV 2009, 2012; Senatsbeschluss vom 7. August 2008 I B 161/07, BFH/NV 2008, 2053), rechtfertigt dies im vorliegenden Fall keine andere Entscheidung. Denn die Beschwerdeführer wollen, wie der von ihnen vorsorglich eingelegte Einspruch zeigt, die erstmalige Feststellung positiver steuerpflichtiger Einkünfte im Bescheid vom 28. Dezember 2015 nicht hinnehmen. Da dieser Einspruch indes unzulässig ist (§ 68 Satz 2 FGO; vgl. BFH-Beschluss vom 11. November 2008 V B 2/08, BFH/NV 2009, 401), kann der gebotene Rechtsschutz gegen die erstmalige Feststellung positiver steuerpflichtiger Einkünfte nur noch im vorliegenden Verfahren gewährt werden.
3. Im zweiten Rechtsgang wird das FG zum einen den Bescheid vom 28. Dezember 2015 tatrichterlich zu würdigen haben. Zum anderen wird es die Frage nach der Qualifikation der Einkünfte aus den Goldgeschäften erneut zu beurteilen haben. Aus verfahrensökonomischen Gründen verweist der Senat insoweit auf die neuere höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Thematik. Der IV. Senat des BFH hat in seinen Urteilen vom 19. Januar 2017 IV R 50/14 (BFHE 257, 35, BStBl II 2017, 456), IV R 50/13 (BFH/NV 2017, 751) Rechtsgrundsätze zur Abgrenzung der privaten Vermögensverwaltung vom gewerblichen Goldhandel entwickelt. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Entscheidungen des IV. Senats des BFH und im Übrigen auf die einschlägige Senatsrechtsprechung (Senatsurteile vom 25. Juni 2014 I R 24/13, BFHE 246, 404, BStBl II 2015, 141; vom 10. Dezember 2014 I R 3/13, BFH/NV 2015, 667) verwiesen.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
5. Im Übrigen sieht der Senat von einer Begründung dieses Beschlusses ab (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).