Entscheidungsdatum: 09.05.2012
NV: Zur Frage der AdV bei einer Kürzung des Verlustabzugs durch § 8c KStG (ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung auf der Grundlage einfachen Rechts [Situation des sog. unterjährigen schädlichen Beteiligungserwerbs] und des Verfassungsrechts) .
I. Streitig ist in einem Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung (AdV), ob der Verlustabzug infolge sog. schädlichen Beteiligungserwerbs teilweise entfallen ist.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin), eine GmbH, ist als Bauträgerin tätig. Im Streitjahr 2009 kam es im April zu einer Übertragung von 50 % der Geschäftsanteile und im Juni zur Weiterübertragung dieser Geschäftsanteile auf eine dritte Person. Der Antragsgegner und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) kürzte unter Hinweis auf § 8c des Körperschaftsteuergesetzes 2002 i.d.F. des Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 --UntStRefG 2008-- vom 14. August 2007 (BGBl I 2007, 1912, BStBl I 2007, 630) --KStG 2002 n.F.-- (und § 10a Satz 10 des Gewerbesteuergesetzes 2002 i.d.F. des UntStRefG 2008) bei der Veranlagung des Streitjahres (Festsetzungen zur Körperschaftsteuer und zum Solidaritätszuschlag bzw. des Gewerbesteuermessbetrags, Feststellungen des verbleibenden Verlustvortrags zur Körperschaftsteuer und des vortragsfähigen Gewerbeverlustes) den ausgleichsfähigen Verlustvortrag bzw. Gewerbeverlust (um 50 % des Vortrags aus 2008 [31. Dezember 2008] und um weitere 50 % des verbleibenden Betrags, d.h. um 156.062 € [Verlustvortrag zur Körperschaftsteuer] bzw. um 148.572 € [vortragsfähiger Gewerbeverlust]). Der körperschaftsteuerliche Gesamtbetrag der Einkünfte (vor Verlustabzug) bzw. der Gewerbeertrag (vor Hinzurechnungen und Verlustabzug) betrug 365.621 €. Die Antragstellerin hat Einspruch eingelegt; das Einspruchsverfahren ruht (§ 363 Abs. 2 der Abgabenordnung).
Das Thüringer Finanzgericht (FG) hat in seinem Beschluss vom 19. Januar 2012 3 V 1001/11 eine von der Antragstellerin beantragte AdV der Steuerfestsetzungen abgelehnt. Zwar bestünden mit Blick auf die Anwendung des § 8c KStG 2002 n.F. ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerbescheide (Hinweis auf den [Vorlage-]Beschluss des FG Hamburg vom 4. April 2011 2 K 33/10, Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2011, 1460, den Beschluss des FG Münster vom 1. August 2011 9 V 357/11 K,G, EFG 2012, 165 [beim erkennenden Senat anhängige Beschwerde I B 150/11] und den Senatsbeschluss vom 28. Oktober 2011 I R 31/11, BFH/NV 2012, 605). Da es im Streitfall um ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Steuerfestsetzungen gehe, die mit Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen Regelung begründet würden, sei eine AdV aber nur zu gewähren, wenn "ein (besonderes) berechtigtes Interesse" an der AdV dargelegt worden sei (Hinweis auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 1. April 2010 II B 168/09, BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558). Daran fehle es trotz entsprechenden richterlichen Hinweises.
Die Antragstellerin trägt mit ihrer (vom FG zugelassenen) Beschwerde vor, dass ein besonderes berechtigtes Interesse an einer AdV nicht darzulegen sei. Dessen ungeachtet erfülle sie jedoch auch diese einschränkende Voraussetzung, da die Ablehnung der AdV zur Zahlungsunfähigkeit führe. Denn der Bestand an liquiden Mitteln (Finanzmittel laut Kontoauszug zum 24. Januar 2012: ca. 2.100 €) würde die Steuernachzahlung bei Weitem nicht abdecken; auch stehe ein Verkauf oder eine Beleihung der drei erworbenen aber bisher noch nicht sanierten Immobilienobjekte (Immobilienaufstellung: Anschaffungskosten insgesamt 130.000 €) nicht in Aussicht. Das FG hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Beschluss vom 3. Februar 2012).
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß, die Vollziehung der angefochtenen Steuerbescheide unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses bis einen Monat nach Zustellung der Einspruchsentscheidung in Höhe von 25.143,45 € ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
In einem AdV-Verfahren könne keine weiter gehende Entscheidung getroffen werden als vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zu erwarten sei. Mit Blick auf das durch den Vorlagebeschluss des FG Hamburg in Gang gesetzte Normenkontrollverfahren zu § 8c KStG 2002 n.F. (Aktenzeichen des BVerfG: 2 BvL 6/11) komme unter dem Gesichtspunkt einer geordneten Finanz- und Haushaltsplanung eine befristete Fortgeltungsanordnung durch das BVerfG in Betracht. Daher sei damit zu rechnen, dass die Zahlungspflicht der Antragstellerin bestehen bleibe. Im Übrigen sei das öffentliche Interesse an einer geordneten Haushaltsführung im Streitfall höher zu bewerten als das Interesse der Antragstellerin an einer AdV. So sei nach einer Stellungnahme einer Facharbeitsgruppe des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) mit einer unveränderten Beibehaltung des § 8c KStG 2002 n.F. zu rechnen. Die Antragstellerin habe auch nicht durch Vorlage einer langfristigen oder aktuellen Liquiditätsplanung glaubhaft gemacht, dass ihre liquiden Mittel nicht ausreichen würden, die Steuerforderungen zu begleichen. In 2011 sei es zum Verkauf eines und zum Kauf zweier Immobilienobjekte gekommen. Es sei nicht ersichtlich, dass eine Beleihung der vorhandenen Objekte ausscheide. Auch müssten ausweislich des Jahresabschlusses des Streitjahres (Hinweis auf den vom FA beigefügten Jahresabschluss 2010 mit vergleichenden Vorjahreszahlen) erhebliche liquide Mittel zur Verfügung stehen.
II. Die Beschwerde ist begründet. Der Beschluss des FG wird aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen (entsprechend § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Es bedarf weiterer Sachaufklärung zur Höhe des im Streitjahr erzielten Gewinns (und einer zeitlichen Zuordnung), um den Umfang der Verlustkürzung festzulegen.
1. Nach § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht der Hauptsache die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise aussetzen. Die Aussetzung soll u.a. erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 FGO). Ernstliche Zweifel i.S. von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen bereits dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechende Umstände gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken (ständige Rechtsprechung seit dem BFH-Beschluss vom 10. Februar 1967 III B 9/66, BFHE 87, 447, BStBl III 1967, 182; Senatsbeschluss vom 8. April 2009 I B 223/08, BFH/NV 2009, 1437). Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhalts, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt (vgl. BFH-Beschluss vom 22. März 2005 II B 14/04, BFH/NV 2005, 1379, m.w.N.). Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (vgl. dazu Gosch in Beermann/ Gosch, AO/FGO, § 69 FGO Rz 123, m.w.N.).
2. Nach diesen Grundsätzen reichen im Streitfall weder die Feststellungen des FG noch der bisherige Vortrag der Beteiligten oder der Akteninhalt für eine abschließende Entscheidung über die Gewährung oder Ablehnung einer AdV aus. Die Sache ist nicht spruchreif. Angesichts des Umfangs der nachzuholenden Sachverhaltsfeststellungen hält es der beschließende Senat für sachgerecht, die Sache an das FG zurückzuverweisen (zur Zurückverweisung im Verfahren auf AdV vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom 19. Mai 2010 I B 191/09, BFHE 229, 322, BStBl II 2011, 156; vom 7. September 2011 I B 157/10, BFHE 235, 215, BFH/NV 2012, 95).
a) Nach dem Senatsurteil vom 30. November 2011 I R 14/11 (BFH/NV 2012, 659, BFHE 236, 82, BStBl II 2012, 360) kann, wenn der das Verlustabzugsverbot des § 8c Satz 1 KStG 2002 n.F. auslösende schädliche Beteiligungserwerb während des laufenden Wirtschaftsjahres erfolgt, ein bis zu diesem Zeitpunkt in diesem Wirtschaftsjahr erzielter Gewinn mit dem bisher noch nicht genutzten Verlust verrechnet werden (gegen das BMF-Schreiben vom 4. Juli 2008, BStBl I 2008, 736, Tz. 31 Satz 2). Die Finanzbehörden haben sich dafür ausgesprochen, in dieser Rechtsfrage bis zu einer endgültigen Entscheidung über die allgemeine Anwendung dieser Entscheidung prinzipiell AdV zu gewähren (s. Finanzministerium des Landes Schleswig-Holstein, Körperschaftsteuer-Kurzinformation 2011 Nr. 10 vom 30. November 2011, geändert am 23. März 2012, VI 3011-S 2745-069, juris).
b) Die Antragstellerin hat im Streitjahr ausweislich ihres Jahresabschlusses Verkaufserlöse von 2.670.000 € (unter Inkaufnahme von Provisionen von 714.000 €) und insgesamt einen Jahresüberschuss erzielt. Feststellungen zum Zeitpunkt der Veräußerungsgeschäfte sind nicht getroffen worden. Die Zeitpunkte könnten vor den jeweiligen --nach Maßgabe des § 8c KStG 2002 n.F. schädlichen-- Anteilsübertragungen gelegen haben. Insoweit könnte es auch im Streitfall in Betracht kommen, einen bis zum Zeitpunkt der Anteilsübertragungen in diesem Wirtschaftsjahr erzielten Gewinn mit dem bisher noch nicht genutzten Verlust zu verrechnen und damit die Kürzung des Verlustabzugs gegebenenfalls aufzuhalten.
c) Diese Feststellungen sind vom FG im zweiten Rechtsgang zu treffen.
3. Das FG hat die AdV im Streitfall mit dem Argument verweigert, es fehle an einem besonderen Aussetzungsinteresse der Antragstellerin. Dieser Frage ist vom FG im zweiten Rechtsgang unter Würdigung des im Beschwerdeverfahren von der Antragstellerin Vorgetragenen und der folgenden Maßgaben nochmals nachzugehen.
a) Bei der AdV von Steuerbescheiden wegen verfassungsrechtlicher Bedenken gegen die ihnen zugrunde liegenden Vorschriften folgt im Hinblick auf den Geltungsanspruch jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen Gesetzes nach der bisher ständigen Rechtsprechung des BFH, dass der Antragsteller ein berechtigtes Interesse an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes geltend machen muss. Geboten ist eine Interessenabwägung zwischen der einer AdV entgegenstehenden konkreten Gefährdung der öffentlichen Haushaltsführung und den für eine AdV sprechenden individuellen Interessen des Steuerpflichtigen (BFH-Beschlüsse vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; vom 11. Juni 2003 IX B 16/03, BFHE 202, 53, BStBl II 2003, 663; vom 7. Juli 2004 XI B 231/02, BFH/NV 2005, 178; in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558). Bei der Abwägung kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheides eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzuges und des öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an (BFH-Beschlüsse in BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; vom 19. August 1994 X B 318, 319/93, BFH/NV 1995, 143; vom 27. August 2002 XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18; vom 9. März 2012 VII B 171/11, Deutsches Steuerrecht --DStR-- 2012, 605, BFHE …). Das Gewicht der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen Vorschrift ist bei dieser Abwägung nicht von ausschlaggebender Bedeutung (BFH-Beschlüsse vom 9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324; in BFHE 228, 149, BStBl II 2010, 558).
b) Ob an diesem Erfordernis uneingeschränkt festzuhalten ist (kritisch insoweit z.B. Niedersächsisches FG, Beschluss vom 6. Januar 2011 7 V 66/10, EFG 2011, 827; Gosch in Beermann/ Gosch, a.a.O., § 69 FGO Rz 179 ff.; Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 69 Rz 113; Schallmoser, DStR 2010, 297; Seer in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 97; Specker, Deutsche Steuer-Zeitung 2010, 800, 802 f.; einschränkend auch FG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Oktober 2011 12 V 12089/11, EFG 2012, 358), hat der Senat in seinem Beschluss vom 13. März 2012 I B 111/11 (BFHE …) offengelassen. Auch im Streitfall müsste darüber nicht abschließend entschieden werden. Zwar hat die Antragstellerin, wie das FG hervorgehoben hat, im finanzgerichtlichen Verfahren in dieser Hinsicht nichts vorgetragen. Die Antragstellerin hat aber im Beschwerdeverfahren Sachvortrag zu ihrer aktuellen wirtschaftlichen Lage nachgeholt. Auch ohne Vorlage einer vom FA geforderten Liquiditätsplanung könnte auf der Grundlage dieser Angaben (zum Vermögensstand) und dem Vortrag einer drohenden Überschuldung festzustellen sein, dass ein gegenüber einem öffentlichen budgetären Interesse überwiegendes besonderes Aussetzungsinteresse der Antragstellerin vorliegt. Denn während die Kürzung des Verlustabzugs bei summarischer Prüfung für die Antragstellerin zu einem steuerlichen Eingriff mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen führt, ist die öffentliche Haushaltsführung in einem nur vergleichsweise geringen Maß betroffen, da eine die begehrte AdV gewährende Entscheidung --anders als eine Entscheidung des BVerfG-- nicht zu einer automatischen Anwendungssperre des Gesetzes in allen von ihm betroffenen Fällen führen würde (vgl. Seer, DStR 2012, 325, 328).
c) Gegen eine Gewährung der AdV spricht im Rahmen der Abwägung auch nicht, dass nach Auffassung des II. Senats des BFH im AdV-Verfahren regelmäßig keine weiter gehende Entscheidung getroffen werden kann, als vom BVerfG zu erwarten ist (BFH-Beschlüsse vom 17. Juli 2003 II B 20/03, BFHE 202, 380, BStBl II 2003, 807; vom 5. April 2011 II B 153/10, BFHE 232, 380, BStBl II 2011, 942; vom 4. Mai 2011 II B 151/10, BFH/NV 2011, 1395). Sei zu erwarten, dass das BVerfG lediglich die Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit dem Grundgesetz (GG) ausspreche und dem Gesetzgeber nur eine Nachbesserungspflicht für die Zukunft aufgebe, könne keine AdV gewährt werden (BFH-Beschluss in BFHE 202, 380, BStBl II 2003, 807). Ob dieser Spruchpraxis zu folgen ist, könnte im Streitfall --wie ebenfalls schon im Senatsbeschluss I B 111/11-- dahinstehen (grundsätzlich ablehnend Gosch in Beermann/Gosch, a.a.O., § 69 FGO Rz 180.1; Gräber/ Koch, a.a.O., § 69 Rz 113; Seer in Tipke/Kruse, a.a.O., § 69 FGO Rz 96; Seer, DStR 2012, 325, 328 f.). Es ist nicht zu erwarten, dass das BVerfG dem Gesetzgeber nur einen Regelungsauftrag für die Zukunft erteilen wird, überdies soll eine pro-futuro-Wirkung nur die Ausnahme darstellen; auch dürfen bei der Unvereinbarkeit eines Gesetzes mit Art. 3 Abs. 1 GG Gerichte und Verwaltungsbehörden die Norm grundsätzlich nicht mehr anwenden (vgl. z.B. BVerfG-Urteil vom 6. März 2002 2 BvL 17/99, BVerfGE 105, 73, BStBl II 2002, 618).