Entscheidungsdatum: 13.06.2012
NV: Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung hindert gem. § 110 Abs. 2 FGO nicht die spätere Änderung eines von der Entscheidung umfassten Sachverhalts nach § 174 Abs. 4 AO, wenn das FA bei der Änderung der Bescheide für das Streitjahr nicht auf die Entscheidung des FG für dieses Jahr reagiert, sondern die Konsequenzen aus einer für die Klägerin günstigen Änderung der Bescheide für ein anderes Jahr gezogen hat .
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob Änderungsbescheide im Anschluss an ein abgeschlossenes Klageverfahren ergehen konnten.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin), eine GmbH, hatte an sie gerichtete Steuerbescheide für die Jahre 1995 bis 1999 mit einer Klage angefochten. Im Februar 2008 fand in dem Klageverfahren (Aktenzeichen: 6 K 722/02) eine mündliche Verhandlung vor dem Niedersächsischen Finanzgericht (FG) statt. Im Verlauf der Verhandlung wurde hinsichtlich einiger angefochtener Bescheide der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Dem lag eine Einigung zwischen den Beteiligten darüber zu Grunde, dass ein Teil des angesetzten Gewerbeertrags nicht im Veranlagungszeitraum 1996, sondern im Veranlagungszeitraum 1998 (Streitjahr) zu erfassen sei. Streitbefangen blieben danach die Körperschaftsteuerbescheide 1997 und 1998, der Gewerbesteuermessbescheid für das Streitjahr sowie Bescheide über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen gemäß § 47 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG), über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Körperschaftsteuer und über die gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes, jeweils zum oder auf den 31. Dezember 1997 und 31. Dezember 1998. Die Klage wurde mit am Sitzungstag (8. Februar 2007) verkündeten Tenor abgewiesen. Eine gegen das Urteil gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg (Senatsbeschluss vom 6. November 2007 I B 50/07, BFH/NV 2008, 616).
Am 15. Februar 2007 beschloss das FG zum Aktenzeichen 6 K 722/02, das Verfahren wegen Körperschaftsteuer 1997 und 1998, Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs 1997 und 1998, gesonderter Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes 1997 und 1998 sowie Gewerbesteuermessbetrags 1998 abzutrennen. Das abgetrennte Verfahren erhielt das Aktenzeichen 6 K 78/07. In der mündlichen Verhandlung zum Verfahren 6 K 78/07 überreichte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--), der Zusage in der Verhandlung vom 8. Februar 2007 entsprechend, einen geänderten Gewerbesteuermessbescheid für 1996. Zugleich übergab es auf § 174 der Abgabenordnung (AO) gestützte Körperschaftsteuer- und Gewerbesteuermessbescheide für das Streitjahr sowie Bescheide über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zur Körperschaftsteuer auf den 31. Dezember 1998, gesonderte Feststellung des vortragsfähigen Gewerbeverlustes auf den 31. Dezember 1998 und gesonderte Feststellung des Einkommens und der Tarifbelastung gemäß § 47 Abs. 2 KStG zum 31. Dezember 1998.
Das FG wies im Verfahren 6 K 78/07 die Klage ab. In den Gründen seines Urteils heißt es, die Klage sei weiterhin anhängig und betreffe nunmehr die vom FA erlassenen Änderungsbescheide. Das Urteil vom 8. Februar 2007 beziehe sich ausweislich seiner schriftlichen Ausfertigung nur auf die dort genannten Feststellungsbescheide; der am Sitzungstag verkündete Tenor sei im Lichte der schriftlichen Urteilsfassung auszulegen. Die streitgegenständlichen Änderungsbescheide seien rechtmäßig. Die Klägerin hat das Urteil 6 K 78/07 mit einer Nichtzulassungsbeschwerde angefochten, welcher der erkennende Senat mit Beschluss vom 30. Dezember 2008 I B 171/08 (BFH/NV 2009, 949) stattgegeben hat. Das Urteil des FG 6 K 78/07 wurde aufgehoben, da es einen Rechtsstreit betraf, der schon durch das Urteil 6 K 722/02 abgeschlossen worden war.
Nachdem das daraufhin fortgeführte Einspruchsverfahren erfolglos geblieben war, wandte sich die Klägerin mit der Klage gegen die vom FA erlassenen Änderungsbescheide. Mit Urteil vom 30. August 2011 wies das FG diese Klage ab. Das FG war der Meinung, dass die streitigen Bescheide nach § 174 Abs. 4 AO geändert werden konnten. Die Revision wurde vom FG nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde.
II. Die Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision der Klägerin ist als unbegründet zurückzuweisen. Weder dient die Rechtssache der Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--) noch liegt ein Verfahrensmangel vor (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Die Revision ist nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO wegen Fortbildung des Rechts zuzulassen.
a) Eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Fortbildung des Rechts ist insbesondere in Fällen erforderlich, in denen über bisher ungeklärte Rechtsfragen zu entscheiden ist, so beispielsweise, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Grundsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder des Verfahrensrechts aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtschöpferisch auszufüllen. Erforderlich ist eine Entscheidung des BFH nur dann, wenn die Rechtsfortbildung über den Einzelfall hinaus im allgemeinen Interesse liegt und wenn die Frage nach dem "ob" und ggf. "wie" der Rechtsfortbildung klärungsbedürftig ist. Es gelten insoweit die zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO höchstrichterlich entwickelten strengen Darlegungsanforderungen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Oktober 2001 III B 65/01, BFH/NV 2002, 217; vom 16. Dezember 2005 VIII B 123/05, BFH/NV 2006, 725; vom 27. März 2006 VIII B 21/05, BFH/NV 2006, 1256). Darüber hinaus ist auf die Bedeutung der Klärung der konkreten Rechtsfrage für die Allgemeinheit einzugehen. Es reicht weder --für sich allein-- aus, dass die Rechtsfrage bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden worden sei (vgl. BFH-Beschluss vom 21. Dezember 2004 II B 13/04, BFH/NV 2005, 897), noch genügt die Behauptung, das FG habe sachlich unrichtig entschieden (BFH-Beschlüsse vom 4. Juli 2002 IX B 169/01, BFH/NV 2002, 1476; in BFH/NV 2006, 1256).
b) Soweit die Klägerin die Rechtsfrage formuliert, es sei zu klären, ob "§ 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO aufgrund des in § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO normierten Verböserungsverbots die Berücksichtigung eines bereits der richterlichen Prüfung unterlegenen Sachverhalts im Rahmen einer Änderung gem. § 174 Abs. 4 AO" hindere, fehlt es an einem Klärungsbedürfnis für die von der Klägerin dargelegte Rechtsfrage. Diese Rechtsfrage ist für den zu entscheidenden Fall durch die BFH-Rechtsprechung hinreichend beantwortet worden; ein weiter gehendes Klärungsbedürfnis der Allgemeinheit ist nicht erkennbar.
So hat der BFH mit Urteil vom 8. Juni 2000 IV R 65/99 (BFHE 192, 207, BStBl II 2001, 89) entschieden, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung gemäß § 110 Abs. 2 FGO nur vorbehaltlich der verfahrensrechtlichen Änderungsvorschriften wirkt und daher nicht die spätere Änderung eines von der Entscheidung umfassten Verwaltungsakts nach Maßgabe des § 174 AO hindert. Eine Änderung ist aus Rechtskraftgründen dagegen nicht möglich, wenn das FG unter Hinweis auf das "Verböserungsverbot" davon abgesehen hat, den ursprünglich angefochtenen Bescheid zu Lasten des Klägers zu ändern; dann bietet § 174 Abs. 4 Satz 1 AO keine Handhabe dafür, dass das FA jene Änderung in einem weiteren Bescheid vornimmt (BFH-Urteil vom 8. Juli 1992 XI R 54/89, BFHE 168, 231, BStBl II 1992, 867). Um einen solchen Sachverhalt geht es aber im Streitfall nicht, da das FA mit der Änderung der Bescheide für das Streitjahr nicht auf die Entscheidung des FG für dieses Jahr reagiert, sondern die Konsequenz aus der für die Klägerin günstigen Änderung des Bescheids für 1996 gezogen hat. Das lässt § 174 Abs. 4 Satz 1 AO unabhängig von der Rechtskraft des FG-Urteils zweifelsfrei zu. Darauf hat der erkennende Senat die Klägerin bereits im Beschluss vom 30. Dezember 2008 I S 31/08 (juris) hingewiesen. Es sind keine Anhaltspunkte erkennbar und im Beschwerdeverfahren vorgetragen worden, die eine andere Beurteilung nahelegen würden.
2. Die Revision ist auch nicht gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO wegen des Vorliegens von Verfahrensmängeln zuzulassen. Die Klägerin kann nicht damit gehört werden, die Entscheidung der Vorinstanz lasse die tragenden Gründe für die Entscheidung nicht erkennen.
a) Entgegen der Ansicht der Klägerin ist das Urteil des FG i.S. des § 119 Nr. 6 FGO mit Gründen versehen. Nach dem Sinn des sich aus § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO ergebenden Begründungszwangs sollen die Prozessbeteiligten darüber Kenntnis erhalten, auf welchen Feststellungen, Erkenntnissen und rechtlichen Überlegungen das Urteil beruht. Diesem Zweck genügt eine Begründung nur dann nicht und stellt deshalb einen Verfahrensmangel i.S. des § 119 Nr. 6 FGO dar, wenn den betroffenen Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen, weil die Begründung des Urteilsspruchs überhaupt oder im Hinblick auf einen --selbständigen-- prozessualen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel fehlt oder weil die Entscheidungsgründe nur aus inhaltsleeren Floskeln bestehen oder missverständlich und verworren sind (z.B. BFH-Beschluss vom 1. Februar 2012 VI B 71/11, BFH/NV 2012, 767, m.w.N.).
b) Die Klägerin hat in ihrer Beschwerdebegründung keine solchen Tatsachen bezeichnet, die einen wesentlichen Begründungsmangel im vorgenannten Sinne ergeben. Soweit die Klägerin in der Beschwerde ausführt, der Entscheidung des FG könne nicht entnommen werden, worin die "irrige Beurteilung" des FA liege, die eine Korrektur nach § 174 Abs. 4 AO rechtfertigen könne, ist dem nicht zu folgen. Das FG ist bei seiner Entscheidung ausweislich der Entscheidungsgründe unter Ziff. 1 b davon ausgegangen, das FA sei im Anschluss an eine Außenprüfung der Auffassung gewesen, die Gewinnerhöhungen aufgrund des Forderungsverzichts der X GmbH und der Y eG seien im Jahr 1996 zu erfassen gewesen. Diese Rechtsauffassung des FA habe sich dann im Klageverfahren 6 K 722/02 als unrichtig herausgestellt. Damit hat das FG eine objektiv unzutreffende rechtliche Würdigung des in Frage stehenden Tatsachenkomplexes durch das FA dargelegt. Entgegen der Auffassung der Klägerin kommt es bei der Anwendung des § 174 Abs. 4 AO gerade nicht darauf an, auf welchen Erwägungen diese Würdigung durch das FA beruht (v.Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 174 AO Rz 235). Im Ergebnis wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde gegen die Auslegung des § 174 Abs. 4 AO durch das FG und setzt ihre eigene Auslegung der Vorschrift gegen die des FG; mit solchen der Revision vorbehaltenen Einwendungen kann sie im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren jedoch nicht gehört werden.