Entscheidungsdatum: 17.07.2018
Auf die Rechtsbeschwerde der Bundesnetzagentur wird der Beschluss des 3. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 18. Januar 2017 aufgehoben und wie folgt neu gefasst:
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss der Beschlusskammer 4 der Bundesnetzagentur vom 14. Juli 2015 aufgehoben. Die Bundesnetzagentur wird verpflichtet, den Antrag der Antragstellerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
Die weitergehenden Rechtsmittel der Antragstellerin und der Bundesnetzagentur werden zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen der Antragstellerin werden der Bundesnetzagentur auferlegt. Die Auslagen der weiteren Beteiligten trägt sie selbst.
Der Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird auf 1.300.000 € festgesetzt.
I.
Die Antragstellerin betreibt in W. eine Luftzerlegungsanlage, die Sauerstoff, Stickstoff, Argon und andere Edelgase produziert. Sie ist dort mit ihrer Abnahmestelle "M. " an das Mittelspannungsnetz der weiteren Beteiligten (im Folgenden: Beteiligte) angeschlossen. Das von der Antragstellerin singulär genutzte Mittelspannungskabel der Beteiligten führt zu deren Umspannanlage O. , die vom Umspannwerk B. ca. 12 km entfernt ist; dieses bildete wiederum in den Jahren 2004 bis 2010 den Einspeisepunkt des nächstgelegenen Grundlastkraftwerks in das Übertragungsnetz.
Die Antragstellerin bezog in den Jahren 2004 bis 2009 aus dem Netz der Beteiligten elektrische Energie für den eigenen Verbrauch. Im Mai 2012 ließ sie auf der Grundlage der Verbrauchs- und Kapazitätswerte und der von der Beteiligten bei der Berechnung des physikalischen Pfads angesetzten Kosten die individuellen Netzentgelte für den Zeitraum vom 1. August 2005 bis zum 31. Dezember 2009 ermitteln, die deutlich unter den allgemeinen Netzentgelten lagen. Der Kostenermittlung lag die Annahme zugrunde, dass der physikalische Pfad erst an der Umspannanlage O. beginne und die 380 kV-Maschinenleitung des Grundlastkraftwerks bis zum Umspannwerk B. nicht Teil des Übertragungsnetzes, sondern dem Kraftwerksbetreiber zuzurechnen sei. Ferner beruhte die Berechnung auf der Prämisse, dass die Betriebsmittelkosten und die Verlustenergiekosten nur anteilig, d.h. dem tatsächlich genutzten Umfang entsprechend, zu berücksichtigen seien. Netzreservekapazitätskosten wurden nicht angesetzt.
Im September 2005 begehrte die Antragstellerin von der Beteiligten erfolglos den Abschluss einer individuellen Netzentgeltvereinbarung. Daraufhin beantragte die Antragstellerin im Februar 2006 bei der Bundesnetzagentur die Genehmigung eines individuellen Netzentgelts nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV. Mit Beschluss vom 13. Juli 2010 lehnte die Bundesnetzagentur den Antrag mit der Begründung ab, dass die Antragstellerin keine Vereinbarung über ein individuelles Netzentgelt vorgelegt habe und im Übrigen der Antrag nicht genehmigungsfähig gewesen wäre, weil sich nach den Berechnungen der Beteiligten keine Netzentgeltsenkung ergeben habe. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Beschwerdegericht mit Beschluss vom 11. Dezember 2013 (3 Kart 107/10) zurückgewiesen. Währenddessen hatte sich die Antragstellerin bei der Beteiligten weiterhin um den Abschluss einer individuellen Netzentgeltvereinbarung bemüht, was diese aber mit Schreiben vom 23. Mai 2012 endgültig ablehnte.
Daraufhin stellte die Antragstellerin bei der Bundesnetzagentur im Dezember 2013 den Antrag, das Verhalten der Beteiligten in einem besonderen Missbrauchsverfahren zu überprüfen und insbesondere die Beteiligte zu verpflichten, hinsichtlich der Abnahmestelle "M. " in W. ein Angebot zum Abschluss einer Vereinbarung von individuellen Netzentgelten in Höhe von 182.438 € für den Zeitraum vom 1. August 2005 bis 31. Dezember 2005, in Höhe von 425.387 € für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 31. Dezember 2006, in Höhe von 329.833 € für den Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis 31. Dezember 2007, in Höhe von 302.769 € für den Zeitraum vom 1. Januar 2008 bis 31. Dezember 2008 und in Höhe von 326.776 € für den Zeitraum vom 1. Januar 2009 bis 31. Dezember 2009 vorzulegen.
Mit Beschluss vom 14. Juli 2015 lehnte die Bundesnetzagentur den Antrag als unbegründet ab. Mit der dagegen gerichteten Beschwerde hat die Antragstellerin ihr Begehren weiterverfolgt und hilfsweise beantragt, die Bundesnetzagentur zu verpflichten, ihren Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Das Beschwerdegericht hat dem Hauptantrag stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Bundesnetzagentur mit der - vom Beschwerdegericht zugelassenen - Rechtsbeschwerde.
II.
Die Rechtsbeschwerde hat teilweise Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses des Beschwerdegerichts und zur Verpflichtung der Bundesnetzagentur zur Neubescheidung der Antragstellerin.
1. Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung (OLG Düsseldorf, RdE 2017, 195) im Wesentlichen wie folgt begründet:
Die Verpflichtungsbeschwerde sei zulässig. Zwar könne im Falle einer - wie hier - im Ermessen der Behörde stehenden Entscheidung grundsätzlich nur eine Verpflichtung zur Neubescheidung ausgesprochen werden. Vorliegend habe die Antragstellerin aber vorgetragen, dass sich bei rechtsfehlerfreier Ermittlung individuelle Netzentgelte in der von ihr genannten Höhe ergäben, so dass sich das Ermessen der Bundesnetzagentur auf die begehrte Verpflichtung verdichtet habe.
Die Beschwerde sei auch begründet. Die Bundesnetzagentur habe den Erlass der begehrten Missbrauchsverfügung zu Unrecht abgelehnt. Der Missbrauchsantrag sei zulässig. Entgegen der erstmals im Beschwerdeverfahren vertretenen Rechtsansicht der Bundesnetzagentur fehle es nicht an einer gegenwärtigen Interessenberührung der Antragstellerin. Zwar begehre sie die Verpflichtung der Beteiligten zum Angebot einer Netzentgeltvereinbarung für einen vergangenen Zeitraum. Dies sei aber unerheblich, weil sich die Antragstellerin seit dem Jahr 2005 erfolglos um den Abschluss einer solchen Vereinbarung bemüht habe. Der Anwendungsbereich des Missbrauchsverfahrens werde dadurch nicht überdehnt. § 31 EnWG sei als Jedermann-Recht ausgestaltet und stelle ein Streitschlichtungsinstrument dar. Aufgrund dessen genüge die Berührung wirtschaftlicher Interessen. Dies sei im Fall der Antragstellerin zu bejahen.
Der Missbrauchsantrag sei auch begründet. Der Antragstellerin stehe gegenüber der Beteiligten nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV in den für den streitgegenständlichen Zeitraum maßgeblichen Fassungen ein Anspruch auf Abschluss einer Vereinbarung über ein individuelles Netzentgelt in dem begehrten Umfang zu. Die materiellen Voraussetzungen dieser Vorschrift, nämlich eine Benutzungsstundenzahl von mindestens 7.500 Stunden im Jahr und ein Stromverbrauch im letzten Kalenderjahr von mehr als zehn Gigawattstunden, seien gegeben. Eine den Maßgaben dieser Vorschrift entsprechende Berechnung der individuellen Netzentgelte führe auch zu einer Netzentgeltsenkung. Eine Reduzierung ergebe sich zwar nach den rechnerisch zutreffenden Berechnungen der Beteiligten nicht, wenn diese anhand der von der Bundesnetzagentur in ihrem Leitfaden 2009 veröffentlichten Hinweise erfolgten. Diesem Leitfaden komme aber keine Bindungswirkung zu, weil es sich dabei lediglich um eine Auslegungs- und Bearbeitungshilfe handele. Der Leitfaden könne lediglich nach den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung insoweit eine Bindung begründen, als die Bundesnetzagentur nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz und aus Vertrauensschutzgesichtspunkten gegenüber einem Antragsteller, der sich auf eine gegenüber anderen Unternehmen in vergleichbaren Fällen geübte Verwaltungspraxis berufe, davon nicht zu seinen Ungunsten abweichen dürfe. Darum gehe es vorliegend aber nicht. Maßgeblich sei allein, ob die Beteiligte bei ihrer Berechnung die Vorgaben des § 19 Abs. 2 StromNEV beachtet habe. Dies sei nicht der Fall.
Bei der Berechnungsmethode für die Netzentgeltreduzierung stehe der Bundesnetzagentur weder ein Ermessens- noch ein Beurteilungsspielraum zu. Die von der Beteiligten angewendete Berechnungsmethode widerspreche den in § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV enthaltenen Vorgaben. Danach seien die Kosten des physikalischen Pfads und die Kosten für die Beschaffung von Verlustenergie - wovon auch die Bundesnetzagentur in dem ab 1. Januar 2011 geltenden Leitfaden 2010 wie auch in der Festlegung BK4-13-739 ausgehe - nicht in vollem Umfang, sondern lediglich anteilig nach Maßgabe der individuellen Ausnutzung der singulär genutzten Betriebsmittel anzusetzen. Bei der Abbildung des Entlastungsbeitrags mittels des physikalischen Pfads handele es sich um einen Opportunitätskostenansatz, der die individuelle Bereitschaft des Letztverbrauchers quantifiziere, einen individuellen Beitrag zur Netzstabilität zu leisten. Dem Letztverbraucher würden gleichsam als Gegenleistung für seinen Beitrag zur Netzstabilität diejenigen Kosten erstattet, die er einsparen würde, wenn er sich unmittelbar über eine Direktleitung an eine in seiner Nähe befindliche Erzeugungsanlage anschließen würde. Die konsistente Umsetzung dieses Ansatzes erfordere indes die nur anteilsmäßige Erfassung, denn der rationale Letztverbraucher würde gerade keine für seinen Versorgungsbedarf überdimensionierte Leitung bauen, von der noch andere Letztverbraucher profitierten.
Bei der Berechnung eines individuellen Netzentgelts seien im Streitfall Kosten für die Nutzung von Netzreservekapazität nicht in Ansatz zu bringen. Zwar sei es sachgerecht, für den möglichen Ausfall des Grundlastkraftwerks Kosten für die Nutzung der Netzreservekapazität anzusetzen, weil bei der Bildung des physikalischen Pfads zum nächstgelegenen Grundlastkraftwerk hypothetisch davon ausgegangen werde, dass der betreffende Letztverbraucher ausschließlich durch dieses versorgt werde. In der Festlegung BK4-13-739 habe die Bundesnetzagentur aber einen Verzicht auf den Ansatz von Netzreservekapazität für den Fall vorgesehen, in dem das Grundlastkraftwerk - wie hier - über mehrere Blöcke verfüge. Daher bestehe vorliegend aufgrund der spezifischen tatsächlichen Bedingungen kein Bedürfnis für eine Netzreservekapazität, weil bei einem Ausfall oder einer Revision des einen Blockes noch der andere Block zur Verfügung gestanden hätte.
Die Beteiligte habe sich daher missbräuchlich verhalten, indem sie trotz entgegenstehender Verpflichtung aus § 19 Abs. 3 StromNEV (richtig: § 19 Abs. 2 StromNEV) die Vorlage eines Angebots auf Abschluss einer Vereinbarung über ein individuelles Netzentgelt abgelehnt habe. Dieses missbräuchliche Verhalten könne nur durch die Verpflichtung zur Vorlage eines entsprechenden Angebots abgestellt werden. Andere Maßnahmen, die diese Zuwiderhandlung in gleicher Weise beheben könnten, schieden erkennbar aus. Da das Vorbringen der Antragstellerin zur Höhe der sich bei rechtsfehlerfreier Berechnung und Ermittlung ergebenden individuellen Netzentgelte von der Bundesnetzagentur und der Beteiligten nicht bestritten worden sei, habe sich das der Bundesnetzagentur grundsätzlich zustehende Ermessen auf den Erlass der beantragten Anordnung verdichtet.
2. Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung in einem wesentlichen Punkt nicht Stand.
a) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht den Antrag der Antragstellerin gemäß § 31 EnWG auf Überprüfung des Verhaltens der Beteiligten zu Recht für zulässig gehalten. Deren Verhalten, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 1. August 2005 bis 31. Dezember 2009 kein individuelles Netzentgelt nach § 19 Abs. 2 StromNEV anzubieten, berührt die Interessen der Antragstellerin in der von § 31 Abs. 1 Satz 1 EnWG geforderten erheblichen Weise. Aufgrund dessen kann dahinstehen, ob die Bundesnetzagentur, nachdem sie diese - insoweit einschränkende - Zulässigkeitsvoraussetzung in dem Bescheid vom 14. Juli 2015 bejaht hat, deren Vorliegen im Beschwerdeverfahren überhaupt noch in Abrede stellen kann oder ob ihr dies im Hinblick auf den Grundsatz von Treu und Glauben wegen widersprüchlichen Verhaltens versagt ist. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung steht dagegen eine erhebliche Interessenberührung nicht bereits aufgrund der Rechtskraftwirkung der Entscheidung des Beschwerdegerichts vom 11. Dezember 2013 (3 Kart 107/10, juris) fest. Dortiger Streitgegenstand war die (verweigerte) Genehmigung einer Netzentgeltvereinbarung, während es sich bei den Ausführungen des Beschwerdegerichts zur Möglichkeit eines besonderen Missbrauchsverfahrens um bloße Hilfserwägungen handelte, die an der Rechtskraft der Entscheidung nicht teilnehmen (vgl. BVerwGE 131, 346 Rn. 17 ff.).
aa) Nach dem Wortlaut des § 31 Abs. 1 Satz 1 EnWG müssen die Interessen der Antragsberechtigten erheblich berührt sein. Dafür reichen - wie der Senat zu der in seiner Funktion einer Begrenzung des Kreises der Antragsberechtigten vergleichbaren Regelung in § 66 Abs. 2 Nr. 3 EnWG entschieden hat (vgl. Senatsbeschluss vom 11. November 2008 - EnVR 1/08, RdE 2009, 185 Rn. 17 mwN - citiworks) - erhebliche wirtschaftliche Interessen aus. Die Antragstellerin begehrt mit der Vereinbarung eines individuellen Netzentgelts nach § 19 Abs. 2 StromNEV eine rückwirkende Anpassung des von ihr geschuldeten Netzentgelts in erheblichem Umfang. Dass dies die Antragstellerin wirtschaftlich erheblich berührt, hat das Beschwerdegericht zutreffend festgestellt. Dem kann die Bundesnetzagentur nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass sich die Netzentgeltanpassung auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum bezieht. Soweit die Antragstellerin die von ihr behauptete Überzahlung des Netzentgelts von der Beteiligten zurückverlangen kann, begründet dies gerade ihr wirtschaftliches Interesse. Dass der Rückzahlungsanspruch ganz oder teilweise wegen Verjährung nicht mehr durchsetzbar wäre, hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt.
bb) Für diese (weite) Auslegung spricht auch die Systematik des Energiewirtschaftsgesetzes. Nach § 65 Abs. 3 EnWG kann die Regulierungsbehörde bei Bestehen eines berechtigten Interesses auch eine Zuwiderhandlung feststellen, nachdem diese beendet ist. Dies gilt für das besondere Missbrauchsverfahren nach § 31 EnWG gleichermaßen. Denn der Zweck des § 31 EnWG erschöpft sich im Verhältnis zu dem allgemeinen Missbrauchsverfahren nach § 30 EnWG und dem Aufsichtsverfahren nach § 65 EnWG darin, den Antragstellern im Falle der Ablehnung einer Überprüfung nach § 31 Abs. 1 Satz 2 EnWG durch die Regulierungsbehörde eine gerichtliche Nachprüfungsmöglichkeit einzuräumen, während sich diese bei den beiden anderen Verfahren auf eine Überprüfung der behördlichen Ermessensentscheidung beschränkt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. April 2015 - EnVR 45/13, RdE 2015, 410 Rn. 19 mwN - Zuhause-Kraftwerk). Eine weitergehende Einschränkung des Anwendungsbereichs des besonderen Missbrauchsverfahrens ist damit nicht verbunden.
cc) Schließlich ist auch nach dem Sinn und Zweck des § 31 EnWG das besondere Missbrauchsverfahren eröffnet. Die Vorschrift dient der Umsetzung von Art. 23 Abs. 5 der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie 2003/54/EG (nunmehr Art. 37 Abs. 11 der Elektrizitätsbinnenmarktrichtlinie 2009/72/EG) und soll Betroffenen die Möglichkeit geben, sich über das Verhalten eines Betreibers von Energieversorgungsnetzen zu beschweren. Absatz 1 Satz 1 gibt den Betroffenen das - subjektive - Recht, einen Antrag auf Überprüfung des Verhaltens eines Netzbetreibers bei der Regulierungsbehörde zu stellen (Senatsbeschluss vom 14. April 2015 - EnVR 45/13, RdE 2015, 410 Rn. 19 mwN - Zuhause-Kraftwerk). Diese hat sodann nach Absatz 1 Satz 2 zu prüfen, inwieweit das Verhalten des Netzbetreibers mit den Vorgaben in den Bestimmungen der Abschnitte 2 und 3 des Energiewirtschaftsgesetzes oder der auf dieser Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen sowie den nach § 29 Abs. 1 EnWG festgelegten oder genehmigten Bedingungen und Methoden übereinstimmt. Insoweit haben die Regulierungsbehörden die Funktion einer Streitbeilegungsstelle (vgl. BT-Drucks. 15/3917, S. 63), die durch geeignete Maßnahmen eine bestehende oder andauernde Zuwiderhandlung abstellen soll. Eine solche Streitschlichtung ist vorliegend - auch wenn sich der Sachverhalt auf einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum bezieht - noch sinnvoll möglich.
dd) Entgegen der Auffassung der Bundesnetzagentur kann die Zulässigkeit des besonderen Missbrauchsverfahrens auch nicht mit der Begründung verneint werden, dieses diene lediglich der Vorbereitung einer zivilrechtlichen Geltendmachung des Anspruchs auf Abschluss einer Netzentgeltvereinbarung, weshalb die Antragstellerin auf den Zivilrechtsweg zu verweisen sei. Anders als beim Aufsichtsverfahren nach § 65 EnWG, bei dem der Regulierungsbehörde ein Aufgreifermessen zusteht (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 3. Juni 2014 - EnVR 10/13, RdE 2015, 29 Rn. 15 - Stromnetz Homberg), obliegt ihr nach § 31 Abs. 1 Satz 2 und 3 EnWG auf Antrag eine Überprüfungspflicht. Soweit sich dabei auch zivilrechtliche Fragen stellen, deren Prüfung im Rahmen des Missbrauchsverfahrens nicht ausgeschlossen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 3. Juni 2014, aaO, Rn. 50), aber möglicherweise nicht tunlich ist, kann sie dem im Tenorausspruch einer etwaigen Missbrauchsverfügung Rechnung tragen.
b) Ohne Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde auch dagegen, dass das Beschwerdegericht einen Anspruch der Antragstellerin gegen die Beteiligte auf Vereinbarung eines individuellen Netzentgelts gemäß § 19 Abs. 2 Satz 2 und 3 StromNEV dem Grunde nach bejaht hat.
aa) Nach der Rechtsprechung des Senats begründet die Vorschrift des § 19 Abs. 2 StromNEV einen Anspruch des Letztverbrauchers gegenüber dem Netzbetreiber auf Abgabe des Angebots eines individuellen Netzentgelts, aufgrund dessen eine Vereinbarung über ein solches Entgelt zustande kommt (vgl. nur Senatsbeschlüsse vom 17. November 2009 - EnVR 15/09, RdE 2010, 183 Rn. 8 - Individuelles Netzentgelt I und vom 18. Juli 2017 - EnVR 35/16, RdE 2017, 541 Rn. 11 mwN - Individuelles Netzentgelt III). Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV in der hier maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 2010 geltenden Fassung des § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV (im Folgenden: aF) liegen in Bezug auf das Nutzungsverhalten der Antragstellerin nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des Beschwerdegerichts vor.
bb) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde entsprechen die von der Beteiligten durchgeführten und von der Bundesnetzagentur gebilligten Berechnungen zur Höhe der vermeintlich nicht gegebenen Netzentgeltreduzierung nicht den Vorgaben des § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF. Danach hat das individuelle Netzentgelt nach Satz 2 den Beitrag des Letztverbrauchers zu einer Senkung oder zu einer Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten dieser und aller vorgelagerten Netz- und Umspannebenen widerzuspiegeln. Dem wird die Berechnung der Beteiligten nicht gerecht.
(1) Die Rechtsbeschwerde beanstandet allerdings zu Recht, dass das Beschwerdegericht der Bundesnetzagentur im Hinblick auf die Berechnungsmethode weder einen Ermessens- noch einen Beurteilungsspielraum zugebilligt hat. Das ist so nicht richtig.
Zwar unterliegt die Entscheidung der Bundesnetzagentur hinsichtlich der gesetzlichen und verordnungsrechtlichen Vorgaben wie auch der Feststellung der tatsächlichen Grundlagen der uneingeschränkten Überprüfung durch den Tatrichter. Der Behörde kommt aber ein Beurteilungsspielraum zu, soweit die Ausfüllung dieser gesetzlichen Vorgaben in einzelnen Beziehungen eine komplexe Prüfung und Bewertung einer Reihe von Fragen erfordert, die nicht exakt im Sinne von "richtig oder falsch" beantwortet werden können. Dies ist - was der Senat mit Beschluss vom 13. Dezember 2016 (EnVR 34/15, RdE 2017, 187 Rn. 12 mwN - Festlegung individueller Netzentgelte) entschieden und näher begründet hat - auch der Fall, soweit es um die Methodik der Ermittlung des Beitrags des Letztverbrauchers zu einer Senkung oder zu einer Vermeidung der Erhöhung der Kosten der Netz- oder Umspannebene, an die der Letztverbraucher angeschlossen ist, geht, den das individuelle Netzentgelt "widerspiegeln" soll. Denn dieser Beitrag lässt sich nicht - oder jedenfalls nicht auf einem praktisch handhabbaren Weg - errechnen, sondern bedarf einer Abschätzung, die einerseits dem Einzelfall gerecht wird (d.h. "individuell" ist) und andererseits Kriterien heranzieht, die eine gleichmäßige Rechtsanwendung mit einem angemessenen Aufwand gestatten. Dies hat zur Folge, dass es in der Regel nicht nur eine Berechnungsmethode zur Ermittlung individueller Netzentgelte gibt, die den Vorgaben des § 19 Abs. 2 StromNEV aF entspricht. Die Festlegung einer bestimmten Berechnungsmethode ist deshalb als rechtmäßig anzusehen, wenn die Regulierungsbehörde von einer zutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen ist und wenn sie den ihr in § 19 Abs. 2 StromNEV aF eröffneten Beurteilungsspielraum fehlerfrei ausgefüllt hat.
(2) Diesen Maßgaben werden der - für den streitgegenständlichen Zeitraum einschlägige - Leitfaden 2009 und damit auch die Berechnungen der Beteiligten und der Bundesnetzagentur nicht gerecht.
(a) Bei dem Leitfaden handelt es sich nicht um eine Festlegung i.S.d. § 29 Abs. 1 EnWG i.V.m. § 30 Abs. 2 Nr. 7 StromNEV, sondern um Verwaltungsvorschriften mit materiell-rechtlichem Inhalt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. August 2008 - KVR 42/07, WuW/E DE-R 2395 Rn. 21 - Rheinhessische Energie I), die grundsätzlich Gegenstand, nicht jedoch Maßstab richterlicher Kontrolle sind (vgl. BVerfGE 78, 214, 227). Er ist damit in dem oben beschriebenen Rahmen gerichtlich überprüfbar und entfaltet nicht die Bindungswirkung einer bestandskräftigen Festlegung. Soweit die Rechtsbeschwerde dem entgegenhält, dass die Bundesnetzagentur von dem Leitfaden aus Gründen der Gleichbehandlung und aus Vertrauensschutzgesichtspunkten nicht zu Ungunsten der anderen Letztverbraucher abweichen dürfe, trifft dies nicht zu. Eine Selbstbindung der Verwaltung im Sinne gleichförmiger Verwaltungspraxis kann zwar Auswirkungen auf das Verwaltungshandeln entfalten (vgl. Senatsbeschluss vom 23. Juni 2009 - EnVR 19/08, ZNER 2009, 261 Rn. 9), es wirkt aber nicht auf die dem Behördenverfahren zugrunde liegenden Rechtsnormen zurück (vgl. BVerwG, NVwZ-RR 2017, 385 Rn. 25). Dem Leitfaden 2009 käme daher gegenüber der Antragstellerin nur dann Bindungswirkung zu, wenn er den Vorgaben des § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF entspricht und die Grenzen des der Bundesnetzagentur zuzubilligenden Beurteilungsspielraums nicht verletzt. Dies ist indes nicht der Fall.
(b) Nach der Verordnungsbegründung zu § 19 Abs. 2 StromNEV aF soll die Regelung einen nachhaltigen Beitrag der Großverbraucher zu den Netzentgelten gewährleisten sowie den Beitrag dieser Großverbraucher zur Dämpfung der Netzkosten und zur Sicherstellung der Netzstabilität berücksichtigen. Bei der Ermittlung des individuellen Netzentgelts sind die besonderen Verhältnisse dieses Letztverbrauchers zu berücksichtigen (vgl. BR-Drucks. 245/05, S. 40). Nach dem Willen des Verordnungsgebers steht damit die Berechnungsmethode mittels des physikalischen Pfads in Einklang, was er anlässlich der Wiedereinführung der physikalischen Komponente in § 19 Abs. 2 Satz 4 StromNEV zum 1. Januar 2014 bekräftigt hat (vgl. BR-Drucks. 447/13, S. 17; siehe dazu Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2016 - EnVR 34/15, RdE 2017, 187 Rn. 16 - Festlegung individueller Netzentgelte). Dagegen wendet sich die Rechtsbeschwerde nicht.
(c) Ohne Erfolg beanstandet die Rechtsbeschwerde dagegen die Beurteilung des Beschwerdegerichts, dass die Kosten des physikalischen Pfads und die Kosten für die Beschaffung von Verlustenergie der Antragstellerin nur anteilig nach Maßgabe der individuellen Ausnutzung der von ihr genutzten Betriebsmittel zugerechnet werden dürfen. Dies folgt - was das Beschwerdegericht rechts- und verfahrensfehlerfrei angenommen hat - aus den Vorgaben des § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts kann in der Rechtsbeschwerdeinstanz nur eingeschränkt überprüft werden. Lediglich wenn die ihr zugrunde liegende Würdigung unvollständig oder widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt, darf das Rechtsbeschwerdegericht eine solche Wertung beanstanden. Ein solcher Fehler wird von der Rechtsbeschwerde nicht aufgezeigt und ist auch im Übrigen nicht erkennbar.
Das Beschwerdegericht hat sich zu Recht von der Zielsetzung des § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF leiten lassen. Die Vorschrift hat - wie bereits oben dargelegt - zwei Zielrichtungen. Zum einen soll sie die Großverbraucher im Hinblick auf ihren Beitrag zur Netzstabilität belohnen. Zum anderen soll sie aber auch einen nachhaltigen Beitrag der Großverbraucher zu den Netzentgelten gewährleisten. Dieses Ziel wird nur dadurch erreicht, dass Großverbraucher am Netz der allgemeinen Versorgung angeschlossen sind und bleiben und etwa auf die Herstellung einer Direktleitung zu einer höheren Netzebene oder zu dem dortigen Umspannwerk verzichten, weil letzteres für sie - wegen der Möglichkeit der Vereinbarung eines (niedrigeren) individuellen Netzentgelts nach § 19 Abs. 2 Satz 2 StromNEV aF - wirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Dabei hat das individuelle Netzentgelt den Beitrag des Letztverbrauchers zu einer Senkung oder zu einer Vermeidung der Erhöhung der Netzkosten "widerzuspiegeln" (§ 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF). Nach dem Willen des Verordnungsgebers sind bei der Ermittlung des individuellen Netzentgelts die besonderen Verhältnisse des Letztverbrauchers zu berücksichtigen (vgl. BR-Drucks. 245/05, S. 40).
Aufgrund dessen ist die Beurteilung des Beschwerdegerichts aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden, dass durch den vollständigen Ansatz von Betriebsmittel- und Verlustenergiekosten der individuelle und konkrete Entlastungsbeitrag der Antragstellerin nicht mit der - nach dem zugrunde liegenden methodischen Berechnungsansatz des physikalischen Pfads - erforderlichen Genauigkeit und Richtigkeit ermittelt wird. Denn bei diesem Ansatz werden dem Großverbraucher auch solche Betriebsmittel- und Verlustenergiekosten von technischen Anlagen zugerechnet, die so dimensioniert sind, dass sie neben dem betroffenen Letztverbraucher auch andere Netznutzer versorgen oder - als Leerkapazitäten - versorgen könnten. Insoweit hat die Bundesnetzagentur im Leitfaden 2009 nicht in angemessener Weise berücksichtigt, dass die jeweiligen zum physikalischen Pfad gehörenden Betriebsmittel vom Netzbetreiber in der Regel nicht vollständig ausgelastet werden, und dadurch die Grenzen des ihr zustehenden Beurteilungsspielraums verletzt. Denn nach § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF soll bei der Abbildung des Entlastungsbeitrags die individuelle Bereitschaft des Letztverbrauchers, einen Beitrag zur Netzstabilität zu leisten, quantifiziert werden. Danach sind im Ausgangspunkt diejenigen Kosten heranzuziehen, die er einsparen würde, wenn er sich unmittelbar über eine Direktleitung an eine in seiner Nähe befindliche Erzeugungsanlage anschließen würde. Der rationale Letztverbraucher würde dagegen keine für seinen Versorgungsbedarf überdimensionierte Leitung bauen, von der noch andere Letztverbraucher profitieren, weshalb § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF in solchen Fällen nur eine anteilsmäßige Erfassung der Kosten erlaubt. Die Berücksichtigung solcher Leerkapazitäten ist auch praktikabel möglich. Dazu bedarf es - was der Senat in anderem Zusammenhang bereits entschieden hat - keiner betriebsmittelscharfen Ermittlung des Auslastungsgrads; vielmehr wäre der Ansatz eines pauschalen Sicherheitsabschlags aus Praktikabilitätsgründen nicht zu bemängeln (vgl. Senatsbeschluss vom 13. Dezember 2016 - EnVR 34/15, RdE 2017, 187 Rn. 32 - Festlegung individueller Netzentgelte).
(d) Aus diesen Gründen ebenfalls nicht zu beanstanden ist die weitere Beurteilung des Beschwerdegerichts, dass im Streitfall Kosten für die Nutzung von Netzreservekapazitäten nicht in Ansatz zu bringen sind. Nach den rechts- und verfahrensfehlerfreien Feststellungen des Beschwerdegerichts, die von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen worden sind, besteht vorliegend aufgrund der spezifischen tatsächlichen Bedingungen kein Bedürfnis für eine Netzreservekapazität, weil bei einem Ausfall oder einer Revision des einen Blockes noch der andere Block des nächstgelegenen Grundlastkraftwerks zur Verfügung gestanden hätte. Aufgrund dessen sind vorliegend nach § 19 Abs. 2 Satz 3 StromNEV aF Kosten für die Nutzung von Netzreservekapazität nicht anzusetzen, weil - wie oben dargelegt - bei der Ermittlung des individuellen Netzentgelts die besonderen Verhältnisse des Letztverbrauchers zu berücksichtigen sind und diese hier einen solchen Ansatz verbieten.
c) Mit Erfolg wendet sich die Rechtsbeschwerde allerdings dagegen, dass das Beschwerdegericht der Verpflichtungsbeschwerde der Antragstellerin entsprechend dem Hauptantrag stattgegeben hat. Vielmehr hätte es - wie nunmehr vom Senat erkannt - lediglich die Verpflichtung der Bundesnetzagentur zur Neubescheidung aussprechen dürfen, weil es insoweit an der erforderlichen Spruchreife gefehlt hat und weiterhin fehlt (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO analog).
Die konkrete Berechnung des individuellen Netzentgelts war nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheids der Bundesnetzagentur. Sie lässt sich - wie oben dargelegt - auch nicht exakt im Sine von "richtig oder falsch" beantworten. Aufgrund des der Bundesnetzagentur insoweit zustehenden Beurteilungsspielraums kann daher im Falle der Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids grundsätzlich nur auf eine Verpflichtung zu einer erneuten Bescheidung der Antragstellerin erkannt werden. Für eine Ermessensreduzierung auf Null, die alle Einzelheiten der Berechnung umfassen müsste, fehlt es an Feststellungen des Beschwerdegerichts. Solche waren auch nicht deshalb entbehrlich, weil weder die Bundesnetzagentur noch die Beteiligte - wozu sie auch keinen Anlass hatten - den Berechnungen der Antragstellerin ausdrücklich entgegengetreten sind. Zudem können nur im Rahmen einer Neubescheidung die sich möglicherweise stellenden zivilrechtlichen Fragen - unter Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 3. Juni 2014 - EnVR 10/13, RdE 2015, 29 Rn. 44 - Stromnetz Homberg) - sachgerecht berücksichtigt werden. Aufgrund dessen verweist der Senat die Sache nicht an das Beschwerdegericht, sondern an die Bundesnetzagentur zurück. Für die Neubescheidung ist der rechtliche Rahmen durch die Entscheidung des Senats vorgegeben.
III.
Limperg |
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Raum |
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Kirchhoff |
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Grüneberg |
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Deichfuß |
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