Bundessozialgericht

Entscheidungsdatum: 11.05.2016


BSG 11.05.2016 - B 9 SB 94/15 B

Nichtzulassungsbeschwerde - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - Klärungsbedürftigkeit - Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen aG - Gleichstellung mit Regelbeispielen - Doppeloberschenkelamputierter - Gesamtwürdigung - verkehrsrechtliche Vorschriften - Versorgungsmedizinische Grundsätze - Ermächtigungsgrundlage - Darlegungsanforderungen


Gericht:
Bundessozialgericht
Spruchkörper:
9. Senat
Entscheidungsdatum:
11.05.2016
Aktenzeichen:
B 9 SB 94/15 B
Dokumenttyp:
Beschluss
Vorinstanz:
vorgehend SG Osnabrück, 29. Februar 2012, Az: S 9 SB 152/11, Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, 12. November 2015, Az: L 13 SB 45/12, Urteil
Zitierte Gesetze
§ 46 Abs 1 Nr 11 Abschn 2 Nr 1 S 2 StVOVwV
Anlage Teil D Nr 3 Buchst b S 2 VersMedV
§ 69 Abs 1 S 5 SGB 9 vom 13.12.2007
§ 69 Abs 4 SGB 9
§ 70 Abs 2 SGB 9
§ 159 Abs 7 SGB 9

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 12. November 2015 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe

1

I. In der Hauptsache begehrt die Klägerin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG. Bei der 1924 geborenen Klägerin waren zuletzt ein Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie das Merkzeichen G festgestellt (Hüftgelenksarthrose beiderseits, Einzel-GdB 40, Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, Muskelfunktionsstörungen, Fehlhaltung, Einzel-GdB 30, Herzkreislaufschwäche, Gleichgewichtsstörungen, Einzel-GdB 30, Fettleberhepatitis, Einzel-GdB 30). Seit 2004 ist zusätzlich das Merkzeichen B festgestellt. Auf neuerlichen Antrag der Klägerin stellte der Beklagte den GdB mit 90 fest (bei zusätzlicher Funktionseinschränkung beider Schultern, Schultergelenksprothese links, Einzel-GdB 40). Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen aG und RF lehnte der Beklagte ab (Bescheid vom 16.12.2010; Widerspruchsbescheid vom 3.2.2011). Die auf Zuerkennung von aG gestützte Klage hat das SG abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 29.2.2012). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung ua ausgeführt, ausgehend von den in der höchstrichterlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen sei die Klägerin nicht außergewöhnlich gehbehindert. Im Anschluss an eine Hüftgelenksendoprothese rechts sei es zu einem koordinierten und sicheren Gangbild am Rollator gekommen. Die Klägerin könne mit Pausen ca 100 bis 200 Meter gehen. Auf die geltend gemachte Unfähigkeit, den Rollator selbstständig aus dem Kofferraum ihres PKW zu heben, komme es nicht an, ebenso wenig auf Behinderungen beim Ein- und Aussteigen auf beengten Parkplätzen (Urteil vom 12.11.2015).

2

Mit ihrer Beschwerde wendet sich die Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG und rügt die grundsätzliche Bedeutung der Sache.

3

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung nicht ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).

4

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern die Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; siehe auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss der Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) eine bestimmte Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.

5

Die Klägerin wirft als Fragen auf,

1.    

ob § 70 Abs 2 SGB IX für das BMAS mit Zustimmung des Bundesrates eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage dazu bereithält, einen Rechtsgegenstand aus dem Ressort des Bundesverkehrsministeriums mit abschließender Regelungstiefe selbst regeln zu dürfen,

2.    

ob über die sozialrechtlichen Vorschriften zum Merkzeichen aG hinaus die speziellen verkehrsrechtlichen Vorschriften der RdNr 133 ff der zu § 46 Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) für die Beurteilung der Voraussetzungen zur Gewährung von Parkerleichterungen heranzuziehen sind,

3.    

ferner, ob es rechtlich zulässig ist, zur Beurteilung des Vergleichsmaßstabs für Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung auch aufgrund von Erkrankungen schwerbehindert sind, ausschließlich auf den Extrem-Regelfall der Einschränkungen eines Doppeloberschenkelamputierten abzustellen,

        

und     

        

in Bezug auf verkehrsrechtlich begehrte Parkerleichterungen für Schwerbehinderte auch dann der Extrem-Regelfall eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist oder die verkehrsrechtlichen Sondervorschriften der RdNrn 129 ff, insbesondere der 133 ff der zu § 46 VwV-StVO als Vergleichsmaßstab vorgehen.

6

Die Beschwerdebegründung erfüllt die aufgezeigten Darlegungsanforderungen zu keiner der aufgeworfenen Fragen. Selbst wenn von hinreichend konkreten Rechtsfragen mit einer über den Einzelfall hinausgehenden Breitenwirkung ausgegangen wird, so sind jedenfalls Klärungsbedarf und Klärungsfähigkeit nicht - wie erforderlich - für jede Frage aufgezeigt.

7

Hinsichtlich der mit Wirkung vom 15.1.2015 durch Gesetz vom 7.1.2015 (BGBl II 15) in § 70 Abs 2 SGB IX normierten Ermächtigungsgrundlage beschäftigt sich die Beschwerdebegründung insoweit weder mit dem Geltungsbereich der Norm (vgl § 159 Abs 7 SGB IX) und ihrer daraus resultierenden Anwendbarkeit auf den vorliegenden Sachverhalt noch mit dem Umstand, dass bestehenden Bedenken an einer wirksamen Ermächtigung durch die vorgenannte Vorschrift gerade Rechnung getragen werden sollte (hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190 S 5). Die Beschwerdebegründung hätte sich daher damit befassen müssen, dass die höchstrichterliche Rechtsprechung für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung auf die bisherige Rechtslage verweist, wonach als Anlage zu § 2 VersMedV "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (AnlVersMedV) erlassen worden sind, in denen ua in Teil D die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche näher konkretisiert werden und diese Konkretisierungen trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs 1 S 5 SGB IX aF (hierzu Dau, Juris-PR-SozR 24/2009 Anm 4) auch verbindlich sind (BSG Urteile vom 11.8.2015 - B 9 SB 1/14 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 21 und B 9 SB 2/14 R, ebenfalls zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Hiervon ausgehend hätte die Beschwerdebegründung darlegen müssen, ob und von welcher Seite gleichwohl weitergehende Zweifel an einer verbindlichen Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG durch die Versorgungsverwaltung für den hier maßgeblichen Zeitraum geäußert wurden. Zur Darlegung der Klärungsbedürftigkeit reicht es nicht aus, lediglich die eigene Rechtsmeinung auszubreiten. Vielmehr ist eine substanzielle Auseinandersetzung mit den einschlägigen oberstgerichtlichen Entscheidungen erforderlich (vgl BSG Beschluss vom 10.12.2012 - B 13 R 361/12 B - Juris RdNr 6). Daran fehlt es.

8

Hinsichtlich der aufgeworfenen Frage zur Heranziehung der RdNr 133 ff zu § 46 VwV-StVO bei der Bestimmung der Voraussetzungen von Parkerleichterungen außerhalb der aufgezeigten sozialrechtlichen Voraussetzungen verdeutlicht die Beschwerdebegründung schon nicht, wieso die Klägerin für diesen Fall den dort genannten Personengruppen überhaupt zugeordnet werden könnte, mithin die Klärung dieser Frage vorliegend überhaupt von Bedeutung sein könnte. Darüber zeigt sie aber auch nicht auf, wieso sich die Antwort nicht zweifelsfrei bereits aus den einschlägigen Normen und der hierzu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG, aaO) erschließt und danach überhaupt Klärungsbedarf bestehen könnte.

9

Ebenso verhält es sich schließlich mit den Fragen zum angeführten Vergleichsmaßstab bei der Gleichstellung von Behinderungen und Erkrankungen mit den normativ ausdrücklich genannten Regelfällen, bei denen die gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen aG ohne Weiteres vermutet werden. Die Beschwerdebegründung nimmt nicht zur Kenntnis, dass die ständige höchstrichterliche Rechtsprechung in den sog Gleichstellungsfällen eine Gesamtwürdigung aller Einzelfallumstände fordert und keinesfalls ausnahmslos eine Anlehnung an den ausdrücklich genannten Regelfall des Doppeloberschenkelamputierten verlangt (BSG Urteil vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R - BSGE 90, 180, 183 f = SozR 3-3250 § 69 Nr 1 S 4 f mwN). Etwaig gerügte Mängel der Beweiswürdigung sind ebenso wenig Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 128 Abs 1 S 1 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG) wie eine Fehlerhaftigkeit der Entscheidung des LSG (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

10

2. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).

11

3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

12

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.