Entscheidungsdatum: 15.05.2017
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 23. November 2016 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
I. Mit Urteil vom 23.11.2016 hat das LSG Berlin-Brandenburg einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 80 ab dem 25.2.2008 anstelle des anerkannten GdB von 50 verneint, weil nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen P. im Gutachten vom 12.4.2016 die psychischen Erkrankungen des Klägers weiterhin mit einem GdB von 50 zu würdigen seien. Entgegen der Ansicht des Klägers sei innerhalb des psychiatrischen Komplexes der höchste GdB von 50 für die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung nicht mit Rücksicht auf die rezidivierende depressive Störung mit einem GdB von 20 und die somatoforme Störung mit einem GdB von 30 anzuheben. Eine Erhöhung sei nach Nr 19 Abs 2 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) 2008 bzw nach Teil A Nr 3b der Anlage zu § 2 zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) nur im Rahmen der Gesamtwürdigung der verschiedenen Funktionsbeeinträchtigungen zulässig. Hierbei sei in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedinge, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderungen größer werde (vgl Nr 19 Abs 2 der AHP 2008 bzw Teil A Nr 3c der Anlage zu § 2 VersMedV). Im Gegensatz dazu gehe es vorliegend um eine einzige Funktionsbeeinträchtigung des Klägers, nämlich dessen psychische Erkrankungen, deren Auswirkungen auf die Teilhabe im Leben in der Gesellschaft (siehe § 69 Abs 1 SGB IX) in ihrer Gesamtheit mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten seien. Der Einzel-GdB für die psychischen Erkrankungen bilde auch den Gesamt-GdB, da dieser durch die somatischen Erkrankungen nicht angehoben werde. Denn deren Einzel-GdB seien jeweils nicht höher als 10 zu bewerten.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt. Er macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 SGG), weil das LSG bei der Gesamtwürdigung den Einzel-GdB innerhalb eines Funktionssystems, hier: Gehirn einschließlich Psyche, ausgehend von dem höchsten Einzel-GdB dieses Funktionssystems den Gesamt-GdB dieses Funktionssystems nicht angehoben habe. Aufgrund der vorliegenden andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung mit einem Einzel-GdB von 50 sei der Gesamt-GdB hier höher zu bewerten, wenn auch die komorbiden Erkrankungen einer rezidivierenden depressiven Störung mit einem Einzel-GdB von 20 und die anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen seien. Im Übrigen sei der Kläger aufgrund seiner entschädigungsbedingten schweren seelischen Erkrankung nach einem Leistungsfall vom 26.5.2009 voll erwerbsgemindert, sodass für den Teilbereich Beruf eine schwere soziale Anpassungsschwierigkeit vorliegt.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, da keiner der in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Ein Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung und des Schrifttums angeben, welche Rechtsfragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung erforderlich ist, und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Um seiner Darlegungspflicht zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1.) eine bestimmte Rechtsfrage, (2.) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3.) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit sowie (4.) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der angestrebten Entscheidung, also eine Breitenwirkung (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSGE 40, 158 = SozR 1500 § 160a Nr 11; BSG SozR 1500 § 160a Nr 7, 13, 31, 59, 65). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger hält es für eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, |
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ob im Rahmen der Gesamtwürdigung nach Teil A Nr 3a) bis d) auch Einzel-GdB innerhalb eines Funktionssystems, hier: Gehirn einschließlich Psyche nach Teil A Nr 2e) gebildet werden können, die dann - ausgehend von dem höchsten Einzel-GdB dieses Funktionssystems - zur Anhebung des Gesamt-GdB dieses Funktionssystems führen können. |
Es wird bereits nicht deutlich, inwiefern es sich bei dieser Frage um eine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG handelt, also um eine Frage, die allein unter Anwendung juristischer Methodik beantwortet werden kann. Nicht dazu gehören Fragen, die Denkgesetze oder Erfahrungssätze bzw wissenschaftliche Erkenntnisse betreffen, die sich auf die Feststellung und Würdigung von Tatsachen beziehen (vgl dazu BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 9).
Wie der Kläger in seiner Beschwerde selbst ausführt, ist die Bemessung des GdB nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (BSGE 4, 147, 149 f; BSGE 62, 209, 212 ff = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83 f; BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 10), wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (1. Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss. Bei der Bemessung der Einzel-GdB (2. Schritt) und des Gesamt-GdB (3. Schritt) kommt es indessen nach § 69 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen auf die Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem 2. und 3. Verfahrensschritt hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Diese Umstände sind in die als sogenannte antizipierte Sachverständigengutachten anzusehenden AHP einbezogen worden. Dementsprechend sind die AHP nach der ständigen Rechtsprechung des BSG im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu beachten (siehe BSG SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN). Für die seit dem 1.1.2009 geltende Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zur VersMedV gilt das Gleiche (BSG Beschluss vom 9.12.2010 - B 9 SB 35/10 B - Juris RdNr 5). AHP und VG setzen die Vorgaben um, wobei insbesondere auch medizinische Sachkunde zum Tragen kommt.
Da die Ermittlung des GdB zwar in einem rechtlichen Rahmen stattfindet, jedoch als solche die Feststellung von Tatsachen betrifft, hätte es näherer Darlegungen des Klägers dazu bedurft, woraus sich über die Vorschriften des § 69 SGB IX iVm den VG hinaus rechtliche Grenzen ergeben sollen. Soweit der Kläger danach fragt, ob die von ihm angesprochene Gewichtung von Einzel-GdB-Werten bei der Bildung des Gesamt-GdB rechtlich unzulässig ist, hat er unter Berücksichtigung dieser Umstände die höchstrichterliche Klärungsbedürftigkeit dieser vermeintlichen Frage nicht hinreichend dargetan. Die Klärungsbedürftigkeit ist zu verneinen, wenn die Rechtsfrage bereits höchstrichterlich beantwortet ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 51; BSG SozR 1500 § 160a Nr 13, 65) oder wenn die Antwort unmittelbar aus dem Gesetz zu ersehen ist (vgl BSG SozR 1300 § 13 Nr 1; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 7), wenn sie so gut wie unbestritten ist (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17), wenn sie praktisch außer Zweifel steht (vgl BSGE 40, 40 = SozR 1500 § 160a Nr 4) oder wenn sich für die Antwort aus anderen höchstrichterlichen Entscheidungen bereits ausreichende Anhaltspunkte ergeben (vgl BSG SozR 3-1500 § 146 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 8).
Der Kläger hat sich unter Auseinandersetzung mit den VG nur ungenügend mit den einschlägigen rechtlichen Bestimmungen befasst, um den von ihm behaupteten Klärungsbedarf zu begründen. Er hat sich weder mit den Voraussetzungen eines Verschlimmerungsantrags nach § 48 SGB X noch mit den Voraussetzungen zu § 69 SGB IX auseinandergesetzt. Er ist insbesondere nicht darauf eingegangen, dass der GdB zwar nach Zehnergraden abgestuft festgestellt wird (§ 69 Abs 1 S 4 SGB IX aF), jedoch ein bis zu fünf Grad geringerer Wert vom höheren Zehnergrad mit umfasst wird (§ 69 Abs 1 S 5 SGB IX aF iVm § 30 Abs 1 S 2 Halbs 2 BVG). Bereits daraus könnte sich ergeben, dass ein GdB-Wert eine gewisse Bandbreite von Teilhabebeeinträchtigungen umfasst. Wenn § 69 Abs 3 SGB IX regelt, dass bei mehreren Beeinträchtigungen der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt wird, so liegt es nahe, dass die damit geforderte Gesamtschau auch eine Gewichtung der ermittelten Einzel-GdB-Werte erfordert (vgl dazu Teil A Nr 3 VG).
Ebenso wenig hat sich der Kläger näher mit der Rechtsprechung des BSG zur Feststellung des GdB befasst, um zu begründen, dass sich daraus keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Beantwortung seiner Frage gewinnen lassen. Er ist zwar auf das Senatsurteil vom 30.9.2009 - B 9 SB 4/08 R (SozR 4-3250 § 69 Nr 10) - eingegangen. Er hat aber nicht berücksichtigt, dass das Fehlen einer ausdrücklichen Beantwortung der von dem Kläger aufgeworfenen vermeintlichen Rechtsfrage in der Rechtsprechung des BSG auch darauf hindeutet, dass die von dem Kläger kritisierte Gewichtung von Einzel-GdB-Werten vom BSG ohne Weiteres den Bereich der tatrichterlichen Würdigung zugeordnet und deshalb als solche revisionsgerichtlich nicht beanstandet worden ist. Dementsprechend setzt sich die Beschwerde auch nicht damit hinreichend auseinander, dass die Bildung von Einzel-GdB innerhalb eines Funktionssystems nur dann entscheidungserheblich zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB im konkreten Fall führt, wenn sich dadurch weitere Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ergäben.
Im Grunde kritisiert der Kläger mit den Ausführungen zu seiner (Rechts-)Frage die Beweiswürdigung des LSG (vgl § 128 Abs 1 S 1 SGG), womit er gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG von vornherein keine Revisionszulassung erreichen kann. Entsprechendes gilt, soweit der Kläger eine unzutreffende Rechtsanwendung des LSG rügen wollte (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10).
3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).