Entscheidungsdatum: 30.03.2017
Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 20. Oktober 2016 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Die Klägerin begehrt die weitere Zahlung von Verletztenrente.
Die Klägerin erlitt 2008 als Postzustellerin einen anerkannten Arbeitsunfall (Treppensturz), für den sie bis zum 17.1.2010 Verletztengeld von der Beklagten bezog. Die Beklagte bewilligte durch Bescheid vom 10.2.2011 "für die vergangene Zeit dem Grunde nach" Verletztenrente bis zum 31.1.2011. Für die anschließende Zeit lehnte sie die Bewilligung einer Verletztenrente ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 26.5.2014). Im anschließenden Klageverfahren hat das SG ein ärztliches Gutachten eingeholt, in dem degenerative Veränderungen im distalen Bereich der Kniescheibe diagnostiziert wurden, die als unfallbedingt anzusehen seien. Aufgrund der vorliegenden Retropatellararthrose sei von einer MdE von 20 vH auszugehen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28.1.2016). Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar sei die Retropatellararthrose als Unfallfolge hinzugetreten, die zusätzlichen Beeinträchtigungen könnten die MdE aber nicht erhöhen. In dem Urteil hat das SG zudem ausgeführt: "Diese weitere Unfallfolge der Retropatellararthrose bei gleichzeitig eingeschränkter Verschieblichkeit der Patella hat das Gericht bei der Prüfung der hier zu entscheidenden Frage, welche MdE bei der Klägerin vorliegt, einzubeziehen. Denn bei der Prüfung der Höhe der MdE sind sämtliche Unfallfolgen einzubeziehen, unabhängig davon, ob sie formell anerkannt sind oder nicht und ob sie erst während des Rechtsstreits aufgetreten sind (vgl. dazu und zu der hier vorzunehmenden materiell-rechtlichen Prüfung im Unterschied zu einem gesonderten prozessualen Begehren auf Feststellung bzw. Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung weiterer Unfallfolgen während des laufenden Klageverfahrens ausführlich LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 20.10.2011 - L 10 U 4346/08 -, juris Rn. 23 f.)."
Hiergegen hat die Klägerin Berufung eingelegt, mit der sie im Wesentlichen vorgetragen hat, aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen Folgeerkrankung (Retropatellararthrose) betrage die MdE 20 vH. Das LSG hat sodann am 15.6.2016 den Beteiligten einen Vergleichsvorschlag unterbreitet, dessen Ziffer 1 lautete: "1. Die Beklagte erkennt als weitere Folge des Unfalls vom 14.02.2008 eine leichte Retropatellararthrose am rechten Knie der Klägerin an." Nach Ziffer 2 dieses Vergleichsvorschlags sollte die Beklagte bis zum 31.3.2012 Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 20 vH gewähren. Der Vergleich kam nicht zustande. In der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 20.10.2016 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt, das Urteil des SG aufzuheben, die angefochtenen Bescheide der Beklagten abzuändern "und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aufgrund des Arbeitsunfalls vom 14. Februar 2008 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. über den 31. Januar 2011 hinaus zu gewähren." Das LSG hat durch Urteil vom selben Tag das Urteil des SG sowie die Bescheide der Beklagten geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin bis zum 31.12.2011 Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH zu gewähren. Im Übrigen hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es am Ende seines Urteils ausgeführt: "Über weitere Schädigungsfolgen, etwa eine Retropatellararthrose, hatte der Senat nicht zu entscheiden; einen entsprechenden Antrag hat der Klägerin im Gerichtsverfahren nicht gestellt."
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde. Sie rügt eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß §§ 62, 123, 128 Abs 2 SGG iVm § 279 Abs 3 ZPO. Sie habe bereits in ihrer Berufungsschrift deutlich gemacht, dass es ihr darum gehe, die Retropatellararthrose als Unfallfolge anerkannt zu bekommen. Aufgrund des Ablaufs des Verfahrens hätte das LSG, wenn es zu der Auffassung gelangt sei, es bedürfe einer gesonderten Antragstellung betreffend die Retropatellararthrose, auf die Notwendigkeit einer solchen gesonderten Antragstellung hinweisen müssen. Soweit sich das LSG nunmehr in dem Urteil erstmals darauf gestützt habe, über weitere Unfallfolgen sei nicht zu entscheiden gewesen, weil die Klägerin keinen "entsprechenden Antrag" betreffend die Retropatellararthrose gestellt habe, sei sie von dieser Rechtsansicht überrascht worden. Das LSG hätte deshalb zuvor einen richterlichen Hinweis erteilen müssen. Hätte das LSG über die weitere Unfallfolge entschieden, so hätte es auch für nachfolgende Zeiträume eine MdE in Höhe von zumindest 20 vH anerkennen müssen.
II. Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Die Entscheidung des LSG beruht auf dem Verfahrensmangel der Nichtgewährung des rechtlichen Gehörs (§ 62 iVm § 123 SGG). Das LSG hat betreffend die Retropatellararthrose eine Überraschungsentscheidung getroffen. Das LSG hätte die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 20.10.2016 darauf hinweisen müssen, dass es nunmehr zu der rechtlichen Überzeugung gelangt ist, die Feststellung einer konkreten Unfallfolge bedürfe einer gesonderten Antragstellung. Hiermit musste die Klägerin aufgrund des bisherigen Gangs des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht rechnen. Der Rechtsstreit nahm damit eine überraschende Wendung, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbevollmächtigter nach dem bisherigen Ablauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 62 RdNr 8b mwN). Da die Klägerin zulässig und begründet einen Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG bezeichnet hat, hat der Senat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache durch Beschluss gemäß § 160a Abs 5 SGG an das LSG zurückzuverweisen.
Der umfassende Anspruch auf ein faires Verfahren ist verletzt, wenn grundlegende Rechtsschutzstandards wie das Gebot der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, das Übermaßverbot (Gebot der Rücksichtnahme) gegenüber Freiheitsrechten und das Verbot von widersprüchlichem Verhalten oder Überraschungsentscheidungen nicht gewahrt werden (vgl Beschluss des Senats vom 3.4.2014 - B 2 U 308/13 B - Juris RdNr 8; BVerfGE 78, 123, 126; BVerfG SozR 3-1500 § 161 Nr 5; BSG SozR 3-1750 § 565 Nr 1; BSG SozR 3-1500 § 112 Nr 2; BSG Beschluss vom 25.6.2002 - B 11 AL 21/02 B - Juris; BSG Beschluss vom 2.4.2009 - B 2 U 281/08 B - Juris). Der Anspruch auf rechtliches Gehör soll verhindern, dass die Beteiligten durch eine Entscheidung überrascht werden, die auf Rechtsauffassungen, Tatsachen oder Beweisergebnissen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konnten (vgl BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 1 mwN; BVerfGE 84, 188, 190), und sicherstellen, dass ihr Vorbringen vom Gericht in dessen Erwägungen miteinbezogen wird (BVerfGE 22, 267, 274; BVerfGE 96, 205, 216 f). Weder aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren noch aus dem auf rechtliches Gehör ergibt sich eine allgemeine Hinweispflicht des Gerichts zur Sach- und Rechtslage oder eine Pflicht des Gerichts zu einem Rechtsgespräch oder zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung (BVerfGE 66, 116, 174; BVerfGE 74, 1, 5; BVerfGE 86, 133, 145). Hat das Gericht sich jedoch hinsichtlich bestimmter Sach- oder Rechtsfragen geäußert, so kann es nicht ohne vorherige Information der Beteiligten über eine mögliche andere Auffassung seinerseits in dieser Frage auf eine abweichende Beurteilung seine Entscheidung gründen, weil dies gegen das Verbot widersprüchlichen Verhaltens verstößt und eine Überraschungsentscheidung darstellt (so schon Beschluss des Senats vom 2.4.2009 - B 2 U 281/08 B - Juris).
So liegen die Verhältnisse hier. Bereits das SG hatte in seinem Urteil auf die Rechtsauffassung des LSG Baden-Württemberg hingewiesen, dass über Unfallfolgen unabhängig von einer gesonderten Antragstellung und unabhängig von dem Vorliegen von Verwaltungsentscheidungen über die konkrete Unfallfolge entschieden werden könne. Nach Einlegung der Berufung, in der sich die Klägerin wesentlich auf das Vorliegen einer Retropatellararthrose berufen hatte, hat das LSG in einem Vergleichsvorschlag seinerseits die Beklagte aufgefordert, eine Retropatellararthrose als Unfallfolge anzuerkennen. Aufgrund dieses Ablaufs musste auch ein fachkundiger Rechtsanwalt nicht mehr damit rechnen, dass der entscheidende Senat nunmehr von der aufgezeigten Rechtsprechungspraxis des LSG Baden-Württemberg abweichen und eine ausdrückliche Antragstellung betreffend die Unfallfolge Retropatellararthrose fordern werde. Das LSG hätte ohne Weiteres in der mündlichen Verhandlung vom 20.10.2016 auf seine Rechtsauffassung hinweisen können, sodass die Klägerin Gelegenheit gehabt hätte, die Feststellung der Retropatellararthrose als Unfallfolge zu beantragen.
Dahinstehen kann hier, inwiefern die Rechtsauffassung des LSG, es bedürfe eines gesonderten Antrags für die Feststellung jeder einzelnen Unfallfolge, die offenbar nicht der sonstigen Praxis des LSG Baden-Württemberg entspricht (vgl nur LSG Baden-Württemberg Urteil vom 21.2.2013 - L 10 U 176/11 - Juris), richtig war (vgl hierzu auch das Urteil des Senats vom 13.9.2005 - B 2 U 4/04 R - Juris). Maßgebend ist ausschließlich, dass das LSG diese Auffassung für die Klägerin überraschend erstmals in den Urteilsgründen vertrat, womit die Klägerin nicht rechnen konnte.
Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden haben.