Entscheidungsdatum: 14.02.2018
Auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Mai 2017 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Die Beteiligten streiten um eine Auskunftspflicht der Klägerin nach § 60 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB II, wobei bereits das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft der Klägerin mit Herrn W. G. streitig ist. Die Klage blieb erfolglos (Urteil des SG vom 2.12.2013). Im Berufungsverfahren fand zunächst ein Erörterungstermin am 7.9.2016 statt, in dem der Berichterstatter des LSG die Klägerin persönlich anhörte und Herrn G. als Zeugen vernahm. Am 11.5.2017 fand sodann eine mündliche Verhandlung statt, zu welcher der Zeuge nicht geladen war. Eingangs der mündlichen Verhandlung beantragte die anwaltlich vertretene Klägerin, "den Zeugen W. G. erneut, nunmehr vor dem Senat in ordnungsgemäßer Gesamtbesetzung, zu vernehmen". Diesem Antrag kam das LSG nicht nach, ohne hierüber gesondert zu entscheiden. Es hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 11.5.2017), weil es zur Überzeugung gelangt war, dass die Klägerin und Herr G. Partner gewesen seien und in einer Bedarfsgemeinschaft gelebt hätten. Im Urteil hat es zur Ablehnung des Antrags auf Vernehmung des Zeugen vor dem Senat ua ausgeführt:
"Der Senat war nicht gehalten, über diesen Antrag gesondert durch Beschluss zu entscheiden (vgl. BSG, Urteil vom 23. August 1967, 5 RKn 114/65). Nach § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 398 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) liegt die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des Prozessgerichtes und muss nur unter besonderen Umständen erfolgen. (…) Gründe der Beweisunmittelbarkeit können eine wiederholte Zeugenvernehmung gebieten, insbesondere wenn es für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines vernommenen Zeugen auf dessen persönlichen Eindruck ankommt (vgl. Greger, in: Zöller, ZPO, 31. Auflage 2016, § 398 Rn. 5, 7).
Vorliegend sind keine Umstände ersichtlich, die eine erneute Vernehmung des Zeugen G. geboten hätten. Der Senat hat seine Entscheidung nicht auf den persönlichen Eindruck des Zeugen gestützt. Der Zeuge ist am 7. September 2016 vom Berichterstatter des Senats verfahrensfehlerfrei vernommen worden. Die Aussage des Zeugen ist vollständig protokolliert worden. Alle Fragen, die die Beteiligten dem Zeugen gestellt haben, sind zugelassen worden. Dass der Zeuge allein vom Berichterstatter des Senats vernommen wurde, verletzt nicht den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme. Denn nach § 155 Abs. 1 SGG kann der Vorsitzende seine Aufgaben nach den §§ 104, 106 bis 108 und 120 SGG einem Berufsrichter des Senats übertragen; dies gilt insbesondere für alle Beweisaufnahmen (vgl. BSG, Beschluss vom 8. Dezember 1988, 2 BU 52/88). Eine solche Übertragung ist im vorliegenden Fall erfolgt."
Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht die Klägerin einen Verfahrensmangel geltend und rügt die unterbliebene Vernehmung des Zeugen durch den Senat. Hierin liege ein Verstoß gegen § 155 Abs 1 iVm § 106 Abs 3 Nr 4, § 117 SGG, der entscheidungserheblich sei, denn es sei nicht auszuschließen, dass bei einer Vernehmung durch den Senat eine andere Beurteilung seiner Aussage erfolgt wäre.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ergangen ist und hierauf beruhen kann.
Nach § 155 Abs 1 SGG kann im Berufungsverfahren der Vorsitzende seine Aufgaben ua nach § 106 SGG einem Berichterstatter des Senats übertragen. Dieser kann nach § 106 Abs 3 Nr 4 SGG ua Zeugen in geeigneten Fällen vernehmen. Die Zeugenvernehmung nur durch den Berichterstatter weicht ab vom Normalfall des § 117 SGG, nach dem das Gericht Beweis erhebt in der mündlichen Verhandlung, soweit die Beweiserhebung nicht einen besonderen Termin erfordert (Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme).
Nachdem das SG die Klage abgewiesen hatte, weil die Klägerin Partnerin des Herrn G. sei und mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebe, hätte sich das LSG von vornherein gedrängt sehen müssen, die Beweiserhebung, wie für den Normalfall durch § 117 SGG vorgesehen, in der mündlichen Verhandlung durchzuführen. Die Zeugenvernehmung allein in einem Erörterungstermin, die nur für "geeignete Fälle" in Betracht zu ziehen ist (§ 106 Abs 3 Nr 4 SGG; vgl auch § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 375 ZPO), verbot sich hier schon deshalb, weil es in besonderem Maße auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen ankam (zu diesen Maßstäben und ihrer Anwendung vgl BSG vom 14.9.1995 - 7 RAr 62/95 - juris RdNr 15 ff; BSG vom 24.2.2004 - B 2 U 316/03 B - SozR 4-1500 § 117 Nr 1 RdNr 6 f; vgl aber auch BSG vom 8.12.1988 - 2 BU 52/88 - juris RdNr 5, wo indes weder auf die Einschränkung des § 106 Abs 3 Nr 4 SGG noch auf § 117 SGG eingegangen wird). Denn seine "Beziehung zur Klägerin in den Jahren 2011 - 2014", zu der der Zeuge ausweislich der Ladung zum Termin zur Erörterung des Sachverhalts mit den Beteiligten und zur Beweisaufnahme vernommen werden sollte, wird sich nicht sachgemäß würdigen lassen, ohne dass der Spruchkörper in seiner Gesamtheit einen unmittelbaren eigenen persönlichen Eindruck vom Zeugen und vom Verlauf der Zeugenvernehmung erhalten hat (zur richterlichen Gesamtwürdigung über das Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II in Form einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft, für die neben objektiven auch subjektive Voraussetzungen festgestellt werden müssen, vgl BSG vom 23.8.2012 - B 4 AS 34/12 R - BSGE 111, 250 = SozR 4-4200 § 7 Nr 32, RdNr 13 ff; BSG vom 12.10.2016 - B 4 AS 60/15 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 51 RdNr 25 ff). Nicht entscheidend ist dagegen, dass das LSG sich in seinem Urteil nicht ausdrücklich auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen bezogen hat, denn es hat dessen Behauptungen in Teilen für nicht plausibel gehalten.
Zudem widerspräche es dem Sinn und Zweck des § 106 SGG und würde die als Kernstück des gerichtlichen Verfahrens konzipierte mündliche Verhandlung entwerten, wenn der Vorsitzende oder Berichterstatter die eigentliche Beweisaufnahme regelhaft auf Erörterungstermine verlagern würde. Zur Wahrung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ist diese ggf in der mündlichen Verhandlung vor dem gesamten Spruchkörper zu wiederholen (zum Verhältnis von § 106 und § 117 SGG vgl - jeweils mwN - B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 106 RdNr 12 sowie Keller, aaO, § 117 RdNr 3a; Mushoff in jurisPK-SGG, 2017, § 106 RdNr 57, 60, 79 sowie Bergner, aaO, § 117 RdNr 10 ff, 20). Dies gilt jedenfalls dann, wenn es - wie vorliegend - nach dem Beweisthema in besonderem Maße auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen ankommt und zudem von einem Beteiligten auf die Wiederholung der Beweisaufnahme gedrungen wird.
Die Klägerin hat auch schlüssig dargelegt, dass das angefochtene Urteil auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen kann, weil das LSG den Aussagen des Zeugen in Teilen nicht gefolgt sei. Insbesondere hat sie darauf hingewiesen, dass es für die Beurteilung einer Aussage einen erheblichen Unterschied mache, ob das Fragerecht lediglich durch den Berichterstatter oder durch alle Richter des Senats ausgeübt werde. Auf die Einhaltung des Grundsatzes der Beweisunmittelbarkeit, wie er durch § 106 Abs 3 Nr 4, § 117 SGG ausgeformt ist, hat sie auch nicht verzichtet, sondern vielmehr durch ihren Antrag eingangs der mündlichen Verhandlung auf erneute Vernehmung des Zeugen deutlich gemacht, seine Einhaltung einzufordern (wiederholte Zeugenvernehmung nach § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 398 Abs 1 ZPO).
Aufgrund dessen ist das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.