Entscheidungsdatum: 11.02.2015
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 3. Mai 2013 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit.
Der 1960 geborene Kläger arbeitete im erlernten Beruf als Gärtner. Nach Zeiten der Arbeitslosigkeit ab 1982 war er als Berufskraftfahrer und zuletzt bis 2005 als Auslieferungsfahrer tätig. Der im November 2005 gestellte Antrag auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung blieb erfolglos (Bescheid vom 28.4.2006, Widerspruchsbescheid vom 12.10.2006), wie auch das Klage- und Berufungsverfahren (Urteile des SG Kassel vom 18.8.2009 und des Hessischen LSG vom 3.5.2013).
Im Berufungsverfahren hat das LSG zunächst medizinische Berichte der behandelnden Fachärzte eingeholt. Im Anschluss hat es im Rahmen einer interdisziplinären medizinischen Begutachtung ein internistisches, ein orthopädisches und ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen eingeholt. Die Gutachten sind nach ambulanter Untersuchung des Klägers (am 8.1.2013) beim LSG am 31.1.2013 eingegangen. Die Sachverständigen sind zu dem Ergebnis gekommen, dass bei dem Kläger zwar qualitative Leistungseinschränkungen vorlägen, die aber eine tägliche Arbeitszeit von mehr als sechs Stunden zuließen. Den am 16.1.2013 beim LSG gestellten Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) hat das LSG unter Hinweis auf die Ergebnisse der Gutachten mangels hinreichender Erfolgsaussichten abgelehnt (Beschluss vom 5.2.2013). Die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers ist am 7.2.2013 beim LSG eingegangen.
Der Anhörung zur Entscheidung über die Berufung durch Beschluss (§ 153 Abs 4 SGG) hat der Kläger widersprochen, weil er bislang weder durch Fachärzte für Bronchialheilkunde, Hauterkrankungen oder Urologie untersucht worden sei (Schreiben vom 17.3.2013). Am 10.4.2013 ist dem Kläger der Termin zur mündlichen Verhandlung am 3.5.2013 mitgeteilt worden, ohne dass sein persönliches Erscheinen zum Termin angeordnet wurde. Mit Schreiben vom 16.4.2013, beim LSG am 19.4.2013 eingegangen, hat der Kläger mitgeteilt, dass er die Berufung nicht zurücknehmen werde, weil die Sachverständigen die durch seine behandelnden Ärzte festgestellten Erkrankungen nicht hinreichend berücksichtigt hätten und er daher mit den Ergebnissen der Gutachten nicht einverstanden sei. Er hat weiter ausgeführt, dass er aufgrund der Terminsmitteilung zur mündlichen Verhandlung zunächst davon ausgegangen sei, Gelegenheit zu haben, seine tatsächliche Situation dem Gericht persönlich darzulegen. Diese Möglichkeit verwehre ihm das Gericht nunmehr dadurch, dass keine Fahrtkosten zum Termin übernommen werden. Erneut wolle er darauf hinweisen, dass er als Bezieher von Leistungen nach dem SGB II nicht die finanziellen Möglichkeiten habe, eine Fahrt zum LSG nach Darmstadt selbst zu finanzieren. Der Beklagten ist das Schreiben des Klägers zur Kenntnisnahme übersandt worden.
Die Berufung des Klägers ist daraufhin in seiner Abwesenheit nach mündlicher Verhandlung am 3.5.2013 zurückgewiesen worden. Das LSG hat den fehlenden Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, auch bei Berufsunfähigkeit, im Wesentlichen auf die Ergebnisse der drei Sachverständigengutachten gestützt. Einen qualifizierten Berufsschutz als Facharbeiter hat es verneint.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 3.5.2013 rügt der Kläger Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Er sieht sich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) und in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) verletzt. Mangels ausreichender finanzieller Mittel habe er an der mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht teilnehmen können. Seine Eingabe vom 16.4.2013, mit der er um finanzielle Unterstützung für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gebeten habe, sei zugleich als Antrag auf Reisekostenbeihilfe zu verstehen gewesen. Die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung wäre zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich gewesen, weil ihm die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Wege der PKH versagt geblieben sei. Er habe dem Gericht vortragen wollen, aus welchem Grund seine Erkrankungen in den Sachverständigengutachten nicht vollständig erfasst seien. Dies sei ihm durch die Abwesenheit in der mündlichen Verhandlung verwehrt worden.
II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Zurückverweisung der Sache erfolgreich. Sie ist formgerecht begründet und die Entscheidung des LSG beruht auf einem Verfahrensmangel.
Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) und das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip; Art 6 Abs 1 EMRK) verletzt, weil es den Antrag des mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Klägers auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses für die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung übergangen hat.
Nach § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung. Der sog Mündlichkeitsgrundsatz gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden (stRspr, vgl BSG vom 27.4.1962 - SozR Nr 16 zu § 62 SGG; BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - Juris RdNr 7 mwN). Dadurch wird der Funktion der mündlichen Verhandlung als "Kernstück" des sozialgerichtlichen Verfahrens Rechnung getragen. In der mündlichen Verhandlung muss dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör genüge getan und der Streitstoff mit ihnen erschöpfend erörtert werden (stRspr, vgl BSGE 44, 292 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33; BSG vom 4.3.2014 - B 1 KR 110/13 B - Juris).
Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs in sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund geregelt ist (vgl § 202 SGG iVm § 547 ZPO), ist wegen der Bedeutung der mündlichen Verhandlung für das sozialgerichtliche Verfahren davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Beteiligten daran gehindert hat, an einer mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (vgl BSG SozR 4-1750 § 227 Nr 1 RdNr 7; BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1 S 2 mwN). Näherer Darlegungen dazu, inwiefern das Urteil auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs beruhen kann, sind daher in diesem Fall nicht erforderlich.
Das völlige Übergehen des Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung stellt bei einem - wie vorliegend - mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs dar. Das LSG hat es versäumt, das persönlich verfasste Schreiben des Klägers vom 16.4.2013 entsprechend seinem Sinngehalt auszulegen (vgl Senatsbeschluss vom 29.3.2006 - B 13 RJ 199/05 B - Juris RdNr 7; BSG vom 12.2.2003 - B 9 SB 5/02 R). In den Ausführungen, dass ihm die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung verwehrt bleibe, weil seine Fahrkosten nicht übernommen werden und er die Reise zum LSG nicht selbst finanzieren könne, lag sinngemäß der Antrag auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses (vgl die bundeseinheitliche Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen und Vorschusszahlungen etc - VwV Reiseentschädigung - idF vom 26.8.2009
Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 SGG macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.