Entscheidungsdatum: 15.08.2018
Die Gesamtsozialversicherungsbeiträge sind nach der Gleitzonenformel zu berechnen, wenn sich das Arbeitsentgelt aufgrund einer Altersteilzeitvereinbarung auf einen Betrag innerhalb der Gleitzone verringert.
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. März 2017, der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 25. Oktober 2016 sowie der Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Mai 2014 aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Der Streitwert wird auf 1524,30 Euro festgesetzt.
Streitig ist die Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen.
Die beigeladene Arbeitnehmerin war beim Kläger abhängig beschäftigt. Sie hatte mit dem Kläger eine Altersteilzeitvereinbarung geschlossen und ab 1.1.2008 ihre wöchentliche Arbeitszeit von ursprünglich 16 auf acht Stunden reduziert. Ab diesem Zeitpunkt verringerte sich ihr monatliches Arbeitsentgelt von bisher 900 auf 450 Euro, das sich ab 1.1.2009 auf 490 Euro und ab 1.4.2012 auf 540 Euro erhöhte. Der Kläger zahlte aus diesen Arbeitsentgelten Gesamtsozialversicherungsbeiträge, die er jeweils nach den für Arbeitsentgelte in der sog Gleitzone (400,01 bis 800 Euro/Monat; seit 1.1.2013: 450,01 bis 850 Euro/Monat) geltenden Spezialvorschriften berechnete.
Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) beanstandete bei ihrer im Dezember 2013 beim Kläger durchgeführten Betriebsprüfung diese Beitragsberechnung. Die für Arbeitsentgelte in der Gleitzone geltenden Vorschriften seien nach dem gemeinsamen Rundschreiben vom 25. Februar 2003 nicht anzuwenden, wenn sich das Arbeitsentgelt auf Grund einer Altersteilzeitvereinbarung verringere und deshalb in die Gleitzone falle. Die Beklagte forderte vom Kläger demgemäß für die Zeit von Januar 2009 bis Dezember 2012 Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1524,30 Euro nach (Bescheid vom 12.12.2013) und wies den Widerspruch hiergegen zurück (Widerspruchsbescheid vom 6.5.2014).
Klage und Berufung hiergegen sind ohne Erfolg geblieben (Gerichtsbescheid des SG vom 25.10.2016, Urteil des LSG vom 22.3.2017). Das LSG hat wie bereits das SG ausgeführt, die Gleitzonenregelung sei ihrem Zweck nach nicht anzuwenden, wenn sich das Arbeitsentgelt auf Grund einer Altersteilzeitvereinbarung verringere. Die zum 1.4.2003 eingeführte Gleitzonenregelung habe das Ziel, Arbeitsanreize auch bei Arbeitsentgelten im Niedriglohnsektor zu setzen, indem der Arbeitnehmer nicht bereits ab Überschreiten der Geringfügigkeitsgrenze mit einem nach dem vollen Beitragssatz berechneten Arbeitnehmeranteil belastet werde. Die Gleitzonenregelung vermeide, dass bei Arbeitsentgelten knapp über der Geringfügigkeitsgrenze möglicherweise netto weniger Arbeitsentgelt ausgezahlt werde als bei Entgelten um oder unter der Geringfügigkeitsgrenze und Arbeitnehmer durch diese Beitragsbelastung von der Aufnahme einer Arbeit im Niedriglohnsektor über der Geringfügigkeitsgrenze abgehalten würden.
Der Kläger hat Revision eingelegt und eine Verletzung von § 20 Abs 2 SGB IV und § 163 Abs 10 SGB VI gerügt. Das Gesetz sehe Ausnahmen von der Gleitzonenregelung nur für Arbeitsentgelte von Personen in Berufsausbildung vor, nicht jedoch für Arbeitsentgelte, die durch eine Altersteilzeitvereinbarung in diese Zone fielen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 22. März 2017, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 25. Oktober 2016 sowie den Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Mai 2014 aufzuheben.
Die Beklagte hält das LSG-Urteil für zutreffend und beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Die Beklagte fordert von ihm mit den angefochtenen Bescheiden zu Unrecht Gesamtsozialversicherungsbeiträge in Höhe von 1524,30 Euro nach. Das SG hätte die hiergegen erhobene Klage nicht abweisen, das LSG die Berufung gegen den Gerichtsbescheid nicht zurückweisen dürfen. Die beklagte DRV Bund war im Rahmen ihrer beim Kläger durchgeführten Betriebsprüfung im Grundsatz für den Erlass eines Beitragsnachforderungsbescheides sachlich zuständig (dazu 1.). Der von ihr erlassene Nachforderungsbescheid ist jedoch rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die für Beschäftigte geltende Grundregel, dass Bemessungsgrundlage ihres Anteils am Gesamtsozialversicherungsbeitrag das Arbeitsentgelt in seiner vollen Höhe ist (dazu 2.a), wird vorliegend durch die Gleitzonenregelung des § 20 Abs 2 SGB IV (idF des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002
1. Die beklagte DRV Bund war im Rahmen ihrer beim Kläger durchgeführten Betriebsprüfung sachlich zuständig, die Beitragsberechnung des Klägers zu überprüfen und ggf Beiträge durch Verwaltungsakt nachzufordern.
Die Beiträge für kraft Gesetzes versicherte Beschäftigte in der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung, der sozialen Pflegeversicherung sowie nach dem Recht der Arbeitsförderung werden als Gesamtsozialversicherungsbeitrag vom Arbeitgeber gezahlt (vgl § 28d S 1 und 2, § 28e Abs 1 S 1 SGB IV, jeweils idF der Bekanntmachung vom 12.11.2009
2. Der von der beklagten DRV Bund im Rahmen der Betriebsprüfung erlassene Nachforderungsbescheid ist rechtswidrig. Die Beiträge waren abweichend vom gesetzlichen Regelfall (dazu a) nach der für Arbeitsentgelte zwischen 400,01 und 800 Euro geltenden Gleitzonenformel zu berechnen (dazu b).
a) Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag wird ermittelt, indem der in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherung maßgebliche Beitragssatz auf die Bemessungsgrundlage angewendet wird. Bemessungsgrundlage ist in der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung - bis zur Beitragsbemessungsgrenze - das Arbeitsentgelt aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung (vgl § 226 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V, § 57 Abs 1 S 1 SGB XI idF des GKV-WSG vom 26.3.2007
b) Bei Arbeitnehmern, die gegen ein monatliches Arbeitsentgelt bis zum oberen Betrag der Gleitzone (§ 20 Abs 2 SGB IV aF) mehr als geringfügig beschäftigt sind, ist beitragspflichtige Einnahme der Betrag, der sich aus der sog Gleitzonenformel ergibt (§ 163 Abs 10 SGB VI, § 226 Abs 4 SGB V, jeweils idF des GKV-WSG vom 26.3.2007
Die Gleitzonenformel bewirkt, dass der Beitragssatz zur Ermittlung des Arbeitnehmeranteils in der Gleitzone auf einen Betrag angewendet wird, der unterhalb des tatsächlichen Bruttoarbeitsentgelts liegt und somit für den Arbeitnehmer zu einer geringeren Beitragsbelastung führt. Für den Arbeitgeber bleibt es hingegen dabei, dass er einen auf ihn entfallenden (hälftigen) Anteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag zu tragen hat, der sich ergibt, wenn der Beitragssatz auf das der Beschäftigung zugrundeliegende Arbeitsentgelt angewendet wird (vgl § 168 Abs 1 Nr 1d SGB VI, § 346 Abs 1a Nr 1 SGB III und § 58 Abs 5 S 2 SGB XI, jeweils idF des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002
Im konkreten Fall heißt dies, dass die beigeladene Arbeitnehmerin Beiträge zB im Jahr 2009 nicht aus dem vereinbarten Arbeitsentgelt von 490 Euro monatlich zu tragen hatte, sondern ihr Beitragsanteil nach Anwendung der Gleitzonenformel ausgehend von einem fiktiven Arbeitsentgelt von (nur) 411,63 Euro/Monat zu berechnen war. Der Arbeitgeberanteil hingegen war ausgehend vom tatsächlichen Bruttolohn von 490 Euro zu berechnen und vom Arbeitgeber der Beigeladenen zu tragen. In dieser Weise hat der Kläger die Gesamtsozialversicherungsbeiträge für den streitigen Zeitraum (1.1.2009 bis 31.12.2012) auch berechnet und an die zuständige Einzugsstelle gezahlt.
3. Die Gleitzonenregelung ist in Fällen, in denen sich das Arbeitsentgelt auf Grund einer Altersteilzeitvereinbarung so verringert, dass es in die Gleitzone fällt, entgegen der Ansicht der Beklagten nicht ausgeschlossen. Diese meint, das mit der Gleitzonenregelung verfolgte Ziel, einen Anreiz zur Aufnahme von Teilzeitbeschäftigungen zu schaffen, indem die Beitragsbelastung für Arbeitnehmer abgesenkt werde, treffe ua bei Beschäftigten in Altersteilzeit nicht zu. Sie wendet deshalb die Gleitzonenregelung auf diesen Personenkreis nicht an. Dies findet weder im Gesetzeswortlaut (dazu a) noch in der Entstehungsgeschichte (dazu b) eine Grundlage.
a) Das Gesetz sieht weder in der Legaldefinition der Gleitzone (vgl § 20 Abs 2 SGB IV aF) noch in den besonderen Vorschriften der gesetzlichen Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sowie der sozialen Pflegeversicherung über die Beitragsbemessung (§ 163 Abs 10 SGB VI, § 226 Abs 4 SGB V, jeweils idF des GKV-WSG vom 26.3.2007
b) Die Entstehungsgeschichte der durch Art 2 des Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 (BGBl I 4621) ins Gesetz eingefügten Definition der Gleitzone (§ 20 Abs 2 SGB IV aF) sowie die Änderung der oben genannten Vorschriften über die Beitragstragung und Beitragsbemessung (vgl Art 1 Nr 3c und Nr 3d, Art 3 Nr 5 und Nr 7, Art 4 Nr 7b und Nr 10, Art 6 Nr 2 des Gesetzes vom 23.12.2002
Die genannten Regelungen waren im ursprünglichen Gesetzentwurf noch nicht vorgesehen (vgl BT-Drucks 15/26). Auch der Beschluss des federführenden Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit sah eine Gleitzonenregelung noch nicht vor. Diese geht vielmehr auf eine Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses vom 17.12.2002 (BT-Drucks 15/202) zurück, der Bundestag und Bundesrat gefolgt sind. Der Bundesrat hatte den Vermittlungsausschuss ua mit der Bitte angerufen, für Beschäftigungsverhältnisse im Einkommensbereich zwischen 500 und 800 Euro "abgestufte" Zuschüsse zu den Sozialversicherungsbeiträgen einzuführen. Die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses selbst enthält keine Begründung.
Anhaltspunkte für die mit der Gleitzonenregelung verfolgten Ziele des Gesetzgebers ergeben sich allerdings aus dem vom Bundesrat (BR-Drucks 803/02) und der CDU/CSU-Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf (BT-Drucks 15/23) "zur Aktivierung kleiner Jobs (Kleine-Jobs-Gesetz)". Dieser Gesetzentwurf wurde vom Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zwar abgelehnt (vgl Bericht BT-Drucks 15/91 S 9). Er sah aber - ähnlich wie die spätere Gleitzonenregelung - vor, dass bei Arbeitsentgelten zwischen 400 und 800 Euro der Arbeitnehmeranteil nur aus einem - tabellarisch - gekürzten Arbeitsentgelt zu berechnen ist. Zur Begründung wurde ausgeführt (BT-Drucks 15/23 S 7): "Vollständig neu ist die Schaffung der so genannten niedrig entlohnten Beschäftigungen mit einem Arbeitsentgelt zwischen 400 und 800 Euro. Bei diesen werden Arbeitnehmer zukünftig entlastet, da der Arbeitnehmeranteil am Gesamtsozialversicherungsbeitrag vermindert ist. Die Abgabenlast für den Arbeitnehmer setzt nicht sofort voll ein, sondern wird im Rahmen eines verwaltungspraktikablen Einschleifmodells linear auf den normalen Beitragssatz angehoben." Und im Besonderen Teil der Begründung heißt es (BT-Drucks 15/23 S 8 zu Nr 5 <§ 23c>): "Die Bestimmung regelt die Entlastung von den Sozialversicherungsbeiträgen für die betreffenden Arbeitnehmer im Niedriglohnbereich. (...) Der Arbeitgeberanteil bleibt unberührt. Die Entlastung erfolgt möglichst gleitend, um falsche Anreizwirkungen durch Sprünge zu vermeiden. Die verbleibende Stufung soll für Transparenz sorgen und die Anwendung in der Praxis bei geringfügigen nachträglichen Korrekturen am Lohn erleichtern."
Im Hinblick auf den vom Bundesrat und Bundestag schließlich angenommenen Beschlussvorschlag des Vermittlungsausschusses für eine Gleitzonenregelung hat der Bundesrat den Gesetzentwurf "Kleine-Jobs-Gesetz" für gegenstandslos erklärt (vgl BR-Drucks 934/02).
Die Begründung des Entwurfs des "Kleine-Jobs-Gesetzes" lässt keine beabsichtigte Beschränkung auf bestimmte Personengruppen oder Sachverhalte erkennen. Vielmehr geht es um eine Beitragsentlastung im sog Niedriglohnbereich oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze, ohne Rücksicht darauf, weshalb ein Arbeitsentgelt im Niedriglohnbereich erzielt wird. Zwar ging es beim Zweiten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002 (BGBl I 4621) wie auch bei den drei weiteren Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (sog Hartz-Gesetze) darum, in einer um die Jahrtausendwende weltweiten Konjunkturkrise die auch in Deutschland herrschende hohe Arbeitslosigkeit durch zahlreiche Maßnahmen und Anreizstrukturen abzubauen. Insoweit dürfte es mit der Gleitzonenregelung in erster Linie um Anreizstrukturen für Arbeitslose zur Aufnahme einer Teilzeitbeschäftigung oder einer gering entlohnten Beschäftigung auch durch Verringerung ihrer Beitragslast im Niedriglohnsektor gegangen sein. Die Gesetz gewordene Regelung war und ist jedoch nicht auf zuvor Arbeitslose oder sonstige Personengruppen beschränkt. Einziges Tatbestandsmerkmal für die Inanspruchnahme der Beitragsprivilegierung für Beschäftigte ist die Höhe ihres Arbeitsentgelts zwischen 400,01 und 800 Euro (seit 1.1.2013: zwischen 450,01 und 850 Euro).
Der Senat sieht auch keine Gründe, die eine teleologische Reduktion des § 20 Abs 2 SGB IV aF im Sinn ihrer Nichtanwendung auf ein Altersteilzeitentgelt in der Gleitzone nahelegen und verfassungsrechtlich rechtfertigen könnten.
5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3 sowie § 47 GKG.