Entscheidungsdatum: 10.10.2017
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 30. März 2017 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
I. In dem der Nichtzulassungsbeschwerde zugrundeliegenden Rechtsstreit streiten die Beteiligten darüber, ob die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, zur gesetzlichen Krankenversicherung und zur sozialen Pflegeversicherung bei Eltern im Hinblick auf den Betreuungs- und Erziehungsaufwand für Kinder zu reduzieren sind. Das SG Karlsruhe hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.7.2016). Im Berufungsverfahren hat das LSG Baden-Württemberg der Klägerin mit Schreiben vom 10.2.2017 mitgeteilt, dass erwägt werde, nach § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden, weil es die Berufung einstimmig für unbegründet sowie eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Darüber hinaus ist der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 10.3.2017 eingeräumt worden.
Mit am 7.3.2017 beim LSG eingegangenen Schreiben vom 2.3.2017 hat die Klägerin der beabsichtigten Entscheidung (sinngemäß) widersprochen. Sie hat beantragt, im Wege der Beweisaufnahme Prof. Dr. W. und Prof. Dr. R., hilfsweise Prof. Dr. S. und Prof. Dr. B. als Sachverständige zu sechs formulierten Beweisfragen zu hören. Zudem hat sie angefragt, "ob die Schriftsätze zu den noch beim BSG anhängigen Revisionen zu den Aktenzeichen B 12 KR 13 und 14/15 R sowie die beiden Verfassungsbeschwerden von Prof. Dr. K. und RA Dr. B. (Schriftsätze vom 24.3.2016 und 14.9.2016), gemeinsames Aktenzeichen 1 BvR 2587/16 - sowie die weitere VB von RA Dr. B. vom 14.12.2015 bereits zur Verfahrensakte genommen wurden", und angekündigt, weiter vorzutragen, "sobald ihre Eingangsfrage beantwortet" sei.
Durch Beschluss vom 30.3.2017 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Der Schriftsatz der Klägerin enthalte keine Gründe, "eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, da der dortige Inhalt erkennbar nicht auf das vorliegende Verfahren hin erstellt wurde, sondern sich aus Schriftsätzen in anderen Gerichtsverfahren bzw. anderweitig erstellten Quellen speist". "Konkrete Hinweise darauf, dass die Klägerin in einer mündlichen Verhandlung ihren eigenen Standpunkt darlegen" wolle, enthalte der Schriftsatz nicht.
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde rügt die Klägerin ua die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das LSG habe durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entschieden, ohne zuvor erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen.
II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 S 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält hinreichende Ausführungen dazu, dass das LSG die Klägerin vor der Beschlussfassung über die Berufung nicht in der gesetzlich gebotenen Weise angehört hat.
Der gerügte Verfahrensmangel einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG iVm § 153 Abs 4 S 2 SGG) liegt auch vor. Das LSG hat bei seiner Entscheidung durch Beschluss dem in § 153 Abs 4 S 2 SGG gesondert geregelten Anhörungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen.
Nach § 153 Abs 4 S 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet, eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält und die mit dem Rechtsmittel angefochtene Entscheidung des SG kein Gerichtsbescheid (§ 105 Abs 2 S 1 SGG) ist. Die Beteiligten sind gemäß § 153 Abs 4 S 2 SGG vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots rechtlichen Gehörs, das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (BSG Beschluss vom 25.5.2011 - B 12 KR 81/10 B - Juris RdNr 8 mwN) und dem nur Genüge getan ist, wenn den Beteiligten Gelegenheit sowohl zur Äußerung von etwaigen Bedenken gegen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (und ohne Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter) als auch zur Stellungnahme in der Sache selbst eingeräumt wird (BSG Beschluss vom 27.8.2009 - B 13 RS 9/09 B - Juris RdNr 12 mwN).
Zwar hat das LSG die Beteiligten mit Schreiben vom 10.2.2017 zur Möglichkeit einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG angehört und sich die Klägerin dazu geäußert. Macht ein Beteiligter von der Gelegenheit zur Äußerung Gebrauch, ist das Berufungsgericht auch nicht in jedem Fall zu einer weiteren Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG verpflichtet. Es braucht insbesondere nicht auf ein Vorbringen zu reagieren, das nicht entscheidungserheblich oder unsubstantiiert ist, neben der Sache liegt oder mit dem ein früherer Vortrag lediglich wiederholt wird. Eine neue Anhörungsmitteilung mit der Möglichkeit zur Äußerung in einer angemessenen Frist muss aber dann ergehen, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13 mwN). Eine neue Anhörung ist daher zB dann erforderlich, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substantiiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, oder wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind, das Berufungsgericht aber gleichwohl dem neuen Vorbringen, insbesondere Beweisanträgen, nicht zu folgen beabsichtigt, sondern am Verfahren nach § 153 Abs 4 S 1 SGG festhalten will (BSG Beschluss vom 25.5.2011 - B 12 KR 81/10 B - Juris RdNr 8 mwN). Das ist hier der Fall.
Es kann dahingestellt bleiben, ob eine erneute Anhörungsmitteilung schon deshalb geboten war, weil die Klägerin ein weiteres Vorbringen nach Beantwortung der Frage zum Inhalt der Verfahrensakte angekündigt hatte. Jedenfalls war das LSG nicht befugt, ohne erneute Anhörung über die Berufung zu befinden, nachdem die Klägerin eine umfangreiche Beweiserhebung beantragt hatte. Dabei kommt es nicht darauf an, dass das LSG gegebenenfalls den gestellten Beweisanträgen nicht hätte nachgehen müssen. Da die Stellungnahme der Klägerin weder unsubstantiiert ist noch neben der Sache liegt, damit nicht offenkundig für die Entscheidung irrelevant ist, und auch früheren Vortrag nicht lediglich wiederholt, hätte das LSG jedenfalls reagieren und sie darüber informieren müssen, dass und weshalb es das neue Vorbringen für unerheblich hielt.
Bei einem Verstoß gegen § 153 Abs 4 SGG ist die Entscheidung ohne Weiteres als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen (BSG Beschluss vom 29.8.2006 - B 13 R 37/06 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 10 mwN).
Angesichts dieses Verfahrensmangels können die von der Klägerin außerdem erhobenen Rügen dahingestellt bleiben.
Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde den angefochtenen Beschluss aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.